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A.D. Maidanski

Russische Spinozisten des 20. Jahrhunderts

Spinoza im Osten.
Systematische und rezeptionsgeschichtliche Studien
(Hg. Werner Röhr)
Berlin: Edition Organon, 2005, SS. 135-154


Many a study of Spinoza has failed simply because it has not been a Spinozistic study. 1

H.F. Hallett: Aeternitas. A Spinozistic study.

Unter den mehreren tausend Autoren, die je über Spinoza geschrieben haben, gibt es eine relativ kleine Zahl, für die die Philosophie von Spinoza nicht von bloß historischem Interesse war, sondern als Instrument der Suche nach Wahrheit dient. Warwara Nikolajewna Polowzowa, Lew Semjonowitsch Wygotski und Ewald Wassiljewitsch Iljenkow sind zweifellos die markantesten russischen Denker, die ihre Passion für die Lehre Spinozas offen bekannten und sein inquisitio veri im 20. Jahrhundert gleichsam fortsetzten. Wir wollen sehen, wie sie diese Lehre verstanden, und wie sie den Philosophen aus Amsterdam aufgefaßt haben.

Liest man die Untersuchungen russischer Autoren zur Philosophie Spinozas wird man vielleicht über ihre Emotionalität erstaunt sein. Nur wenige wurden in ruhigem, meditativem Stil verfaßt, wie es in der akademischen Welt allgemein üblich ist. Manchmal sind die gelehrten Kommentare voll von überschäumenden Gefühlen unter Mißachtung des Rates von Spinoza: non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere — lache nicht, weine nicht und verurteile nicht, sondern lerne verstehen!

In der Regel klingen die Stimmen der Feinde der Lehren Spinozas viel lauter und leidenschaftlicher. Aber in Rußland traf seine Philosophie nach 1917 in unvorhergesehener Weise auf die positive Wertschätzung eines beachtlichen Teils der russischen Marxisten. Ihr Patriarch Georgi Walentinowitsch Plechanow kam bereits in seiner Korrespondenz mit Friedrich Engels 1889 in London zu dem Schluß, daß „der Marxismus eine Art des Spinozismus darstellt.“ 2 Dies implizierte, daß die letzten Prinzipien der Philosophie Spinozas vollständig denen der marxistischen Doktrin entsprächen, welche im allgemeinen als materialistisch und dialektisch deklariert wurden. Später definierte der Schüler Plechanows, Abram [135] Moissewitsch Deborin, zusammen mit seinen Verbündeten vom Institut der Roten Professur den Marxismus sogar als „Neu-Spinozismus“, wodurch eine vehemente Debatte ausgelöst wurde. 3 Deborins Gegner bemerkten ironisch, daß das von Deborin und seinen Kollegen gemalte Bild Spinozas mehr aussah wie „Marx ohne Bart“.

Warum hat Spinoza die Substanz immer als „Gott“ anstatt als „Materie“ bezeichnet? — fragte die Schülerin Plechanows, Ljubow Isaakowna Axelrod. Sie argumentierte, daß Spinozas Philosophie „religiös gefärbt“ sei, wogegen Deborin einwandte, daß Spinozas reiner Atheist gewesen sei. Deborin betonte den dialektischen Charakter des spinozistischen Konzepts der selbst-verursachten Natur, während Axelrod dies als eine mechanische Struktur ähnlich der cartesischen „ausgedehnten Substanz“ interpretierte. 4

In den langwierigen Spinoza-Diskussionen dominierten zunehmend ideologische Zwecke. Das philosophische Argument wurde durch politische Brandmarkungen wie Revisionismus, Idealismus, Zionismus ersetzt. Stalin nutzte die Gelegenheit, um die meisten Diskussionsteilnehmer in die Lager des Gulag zu schicken. Was die inhaltliche Kompetenz dieser Spinoza-Forscher angeht, müssen in den meisten Fällen starke Zweifel erhoben werden. Obwohl Deborin und seine Gesinnungsgenossen an den ideologischen Auseinandersetzungen der 20er Jahre unter der Flagge des Spinozismus teilnahmen, können wir sie hier nicht in Betracht ziehen. Das von ihnen skizzierte Portrait Spinozas erinnert in der gröblich-naiven Manier ihrer Epoche an das Original ebensowenig, „wie das Sternbild ‚Der große Hund’ einem bellenden Tier ähnelt“.

Erst zu späteren Zeiten sollten wir die wirklich ernsthaften „neospinozistischen“ Forschungen kennenlernen. Während die beachtlichen Arbeiten von Wygotski und Iljenkow in gewisser Weise den spinozistischen Hauptstrom in der sowjetischen Philosophie und Psychologie bilden, waren es die Arbeiten von Polowzowa, die erst die korrekte Interpretationsgrundlage für jene spinozistischen Forschungen geschaffen haben. So sollte sie an erster Stelle in unserer Darstellung rangieren.


I.

Während die Namen und Arbeiten von Wygotski und Iljenkow jedem Philosophen und Psychologen, der in Rußland studiert hat, bekannt sind, sind die Werke der ersten russischen Philosophin und Spinozistin, Warwara Nikolajewna Polowzowa, in unserer Zeit sogar den Spinoza-Forschern praktisch unbekannt. Aus diesem [136] Grunde ist es zweckmäßig, zuallererst einige biographische Angaben über Polowzowa zu machen.

Warwara Nikolajewna Polowzowa wurde in einer adeligen Familie in Moskau im Jahre 1877 geboren — zweihundert Jahre nach dem Tode von Spinoza. Nach der Absolvierung des Frauengymnasiums in St. Petersburg begann Polowzowa ihr Studium in Deutschland an der philosophischen Fakultät der Heidelberger Universität. Nach drei Semestern ging sie an die Universität Tübingen, studierte dort noch ein Semester und siedelte nach Bonn über. An der Rheinischen Universität vollendete sie ihre Ausbildung und verteidigte im Dezember 1908 ihre Dissertation zu einem für die philosophische Fakultät recht ungewöhnlichen Thema: „Untersuchungen auf dem Gebiete der Reizerscheinungen bei den Pflanzen“. Zu den Fachdisziplinen, in denen Polowzowa ihre Magisterprüfungen mit „summa cum laude“ ablegte, gehörten neben Philosophie auch Botanik und Zoologie. Ihre Dissertation wurde mit dem höchsten Prädikat „eximium“ bewertet, ein Teil dieser Arbeit wurde 1909 in Jena veröffentlicht. Während des Krieges ging das Original der Dissertation bei der Zerstörung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität verloren. 5

1909 begann Polowzowa in der ältesten russischen philosophischen Zeitschrift „Woprosy filosofii i psichologii“ zu publizieren. 6 Redakteur der Zeitschrift war damals Lew Michailowitsch Lopatin, ein angesehener Leibniz-Forscher, der sich viel mit der Lehre von Spinoza beschäftigte und sie als dogmatischen Panlogismus und Fatalismus deutete. Es ist immerhin bemerkenswert, daß Polowzowa 1913 zum Ordentlichen Mitglied der Moskauer Psychologischen Gesellschaft gewählt wurde, auf der Grundlage einer Referenz von Lopatin. An den Sitzungen der Gesellschaft nahm Polowzowa jedoch nicht teil.

Die Einstellung zu Spinoza unter den russischen Philosophen war an der Schwelle zum 20. Jahrhundert bei weitem nicht einheitlich. Dabei war das Interesse an seiner Persönlichkeit und Theorie sehr groß. In St. Petersburg, Moskau, Warschau, Kasan und Odessa erschienen Übersetzungen seiner Werke. Laufend wurden umfangreiche Bücher über die Philosophie von Spinoza herausgegeben, darunter Übersetzungen von René Worms, Kuno Fischer und Maurice Muret. Erstaunlicherweise wagte es kein russischer Philosoph, sich zu den Anhängern von Spinoza zu zählen, obwohl es unter ihnen nicht wenige Platoniker, Leibnizianer, Kantianer, Marxisten und sogar Husserlianer gab. 7 [137]

Die einen negierten Spinoza wegen dessen Gleichstellung von Gott und Natur, die anderen (Schopenhauer folgend) wegen Rückführung aller realen Verhältnisse auf die logischen (gemeint sind die Thesen des Theorems 7 des zweiten Teils der Ethik und der für Spinoza typischen Ausdruck ratio sive causa), wieder andere wegen seines Fatalismus bzw. seiner für die Philosophie untauglichen geometrischen Methode usw. usf.

Nur Wladimir Solowjow setzte sich für Spinoza ein und gestand, daß Spinoza „seine erste Liebe in der Philosophie“ war und daß er „mindestens einen Teil der alten Schuld zurückzahlen möchte“. 8 Dabei beschränkte sich die Solowjowsche Apologie Spinozas im wesentlichen auf die Behauptung, daß Spinoza „ein ganzheitliches philosophisches System“ aus dem für alle Glaubensbekenntnisse gemeinsamen Begriff der absoluten, alleinheitlichen Gottheit gemacht habe. 9 Zum Schluß gesellte sich Solowjow zum Chor der Kritiker: Zwischen der Welt der Erscheinungen und jener der Substanz, so schrieb er, „steht unbedingt das Erkenntnissubjekt“, das Spinoza außer acht gelassen habe und, was noch wichtiger sei, „im System von Spinoza gibt es für den Gott der Geschichte ebenso wenig Platz wie im System der Eleaten“. 10 Übrigens waren das traditionelle Bemerkungen über Spinoza, die einschließlich des Vergleichs der spinozianischen Substanz mit dem statischen „Dasein“ der Eleaten Hegel entlehnt wurden.

Nicht minder charakteristisch waren auch Beschuldigungen Spinozas, er habe seine Ideen bei Aristoteles, bei den Stoikern, den Scholastikern, bei Bruno und bei Descartes entlehnt. Danach wäre die Philosophie von Spinoza eine seltsame Anhäufung fremder Meinungen. Dies ist besonders seltsam, wenn man sich daran erinnert, mit welcher Geringschätzung Spinoza sich über die „Aufnahme vom Hörensagen“ in seiner Abhandlung über die Läuterung des Verstandes geäußert hat. Mit zwei kritischen Stellungnahmen zu einem Werk des Klassikers dieser Interpretation, des Jesuiten Stanislaus von Dunin-Borkowski, begann Polowzowa ihre Laufbahn in der Spinoza‑Forschung. 11

Nach einer ausführlichen Darlegung und einer genauen Analyse der Hauptleitsätze dieses Buches kam Polowzowa zum folgendem Verdikt: „Personen, die mit anderen Erkenntnissen über Spinoza wenig vertraut sind, wird das Buch von Dunin-Borkowski eine verzerrte Vorstellung von Spinoza als Mensch und Philosoph [138] geben. Von diesem Standpunkt aus kann das Erscheinen dieses Buches nicht als positiv aufgenommen werden.“ 12

Drei Jahre später erschien ihre große Abhandlung „Zur Methodologie der Erforschung der Philosophie von Spinoza“. Der wichtigste Teil dieser Arbeit gilt der Präzisierung „einiger Voraussetzungen, ohne die die Lehre von Spinoza weder im allgemeinen noch im besonderen verstanden werden kann“. 13 Das Buch enthält spezielle Abschnitte über den Begriff des Attributs und über die Relation zwischen Geist und Leib mit Bezug auf das Theorem 7 des zweiten Teils der Ethik.

Für ein richtiges Verständnis der Texte von Spinoza war es nach Meinung von Polowzowa unerläßlich, den Inhalt der lateinischen Begriffe, die von Spinoza gebraucht wurden, zu erkennen und die Erkenntnistheorie zu verstehen, die „all seinen Anschauungen zugrunde liegt“. 14 Übrigens wurden die Erkenntnistheorie und die Logik von Spinoza von allen russischen Spinoza-Forschern als die wichtigste und besonders wertvolle Seite seiner Philosophie, als ihr eigentlicher Eckstein, anerkannt.

Um den Sinn der lateinischen Terminologie zu klären, stützte sich Polowzowa auf die Abhandlungen über die Logik von Jacob Zabarella 15, die „Logik von Port Royal“ sowie auf die Angaben von philosophischen Lexika des 17. Jahrhunderts und auf die klassische Studie von Jacob Freudenthal „Spinoza und die Scholastik“. 16 Ganz besonders betonte Polowzowa die Notwendigkeit eines Studiums der Werke von Descartes, bei dem „wir die echten Grundlagen für die Klärung der meisten Ideen und Ausdrücke von Spinoza finden“. 17

Die Mißachtung dieser Quellen verursachte nach Meinung von Polowzowa die verschiedensten Mißverständnisse bei der Übersetzung der Werke Spinozas. Zum Beispiel übersetzte die deutsche philosophische Literatur, der jener Zeit die Hauptmasse der Forschungen und Übersetzungen auf diesem Gebiet zu verdanken war, meistens die lateinischen Begriffe Spinozas gestützt auf die Tradition von Christian Wolff. Dabei wären „die Begriffe des gedankenarmen Wolff ebensowenig imstande, den Reichtum der Ideen Spinozas zu reflektieren, wie die Sprache eines mäßig entwickelten Menschen imstande wäre, den Inhalt der größten Werke der [139] Weltliteratur wiederzugeben“. 18 Allein schon die Übersetzung der Begriffe „perceptio“ und „idea“ mit dem Wort „Vorstellung“ machte es für Wolff unmöglich, die Erkenntnistheorie von Spinoza zu verstehen.

Wenn die Philosophiehistoriker über die „geometrische Methode“ von Spinoza sprachen, so ignorierten sie offenkundig die Tatsache, daß Spinoza (und gleichermaßen Descartes) diesen Ausdruck nie gebrauchten. In seiner Abhandlung über die Läuterung des Verstandes und in seinen Briefen, in denen Spinoza den Begriff „methodus“ untersuchte, erwähnte er absolut keine Methode bzw. „Ordnung“ (mos, ordo) des geometrischen Beweises. Die verbreitete Verwechslung dieser Begriffe führte dazu, daß die echte Methode der Erkenntnis, die Spinoza verwand hatte, der Aufmerksamkeit der Forscher schlicht entging. 19

Die Hauptpräferenz der tatsächlichen Methode von Spinoza war nach Meinung von Polowzowa das Unterscheiden zwischen den „Gebieten“ der Erkenntnis — Imagination und Intellekt –, 20 während der Intellekt seinerseits in ein rationelles und ein intuitives Verständnis der Dinge zerfalle. Dieser Unterschied sei derart groß, daß ein und dasselbe Wort in Abhängigkeit davon, ob es zum Gebiet des Intellektes bzw. der Imagination gehöre, bei Spinoza einen ganz anderen Sinn habe. 21 Diese Aussage untermauerte Polowzowa mit der Analyse der Bedeutungen der Wörter „existentia“, „notio“ und „communis“ in unterschiedlichen Erkenntnisgebieten der Ethik. Um zu zeigen, um welches Erkenntnisgebiet es ging, benutzte Spinoza in der Regel charakteristische Einführungssätze und das Wort „quatenus“.

Polowzowa war davon überzeugt, daß fast alle Widersprüche, die Spinoza zugeschrieben wurden, sowie seine sogenannten „Entlehnungen“ bei anderen Philosophen dadurch verursacht waren, daß „Spinozas Versprecher bezüglich des Gebrauchs allgemein üblicher Termini in einem anderen Sinn außer acht gelassen werden“. Deshalb erwiesen sich diese Entlehnungen „bei näherer Betrachtung lediglich als verbales Zusammenfallen“. 22 [140]

Der zweite Abschnitt der Abhandlung von Polowzowa behandelte Fragen der Erkenntnistheorie, die Spinoza „wahre Logik“ nannte. 23 Hier wurden die imaginative, rationale und intuitive Erkenntnis charakterisiert und Unterschiede in den Begriffsarten (determinatio, definitio, Begriffe traditioneller Logik), die Relationen zwischen den Begriffen „idea — res“, „ratio — causa“, „objective — formaliter“, „esse — existere“ u.a. analysiert. In diesem Abschnitt zeigte Polowzowa den der Methode von Spinoza und dessen Lehre über das Attribut 24 inadäquaten Charakter der Hegelschen Interpretation der Begriffe „Substanz“ und „Attribut“ sowie die Unrechtmäßigkeit der Kritik des spinozianischen Verständnisses der Kausalität bei Schopenhauer.

Angesichts dessen, daß die Erkenntnistheorie Spinozas von Polowzowa als Fundament all seiner philosophischen Anschauungen betrachtet wurde, war ihr nächster Schritt — die Übersetzung von Spinozas Werk Tractatus de intellectus emendatione — völlig logisch. Dieser Traktat stellt eine Einführung in die Erkenntnistheorie von Spinoza und in seine Philosophie insgesamt dar — zugleich ist es auch eine Einführung in das Leben, die für die Philosophie unerläßlich ist. 25

Den Titel des Traktats — de intellectus emendatione — übersetzte Polowzowa als „Über die Läuterung des Intellekts“. Wassilij Wassiljewitsch Sokolow hielt diese Übersetzung für „absolut unbegründet, frei und sogar entstellt“. 26 In der Tat bedeutet das Wort „emendatio“ Vervollkommnung, Verbesserung. Nach Ansicht von Polowzowa reflektieren diese Wörter jedoch nicht den Sinn, den Spinoza in den Ausdruck „de intellectus emendatione“ hineinlegte. Ein verwandter Terminus sei „Katharsis“, wie ihn Plotin versteht (im Sinne der Reinigung des Geistes von all dem, was mit der sinnlichen Rezeption verbunden ist). 27 Außerdem verwies Polowzowa auf Präzedenzfälle der Übersetzung des Wortes „emendatio“ als „Läuterung“ bei Louis Couturat („la purification de l’entendement“) und Jacob Freudenthal („Läuterung des Verstandes“). 28 [141]

Übrigens kann man feststellen, daß diese Tradition der Übersetzung der Abhandlung über die Läuterung des Verstandes in den englischen Übersetzungen von William Hale White und Amelia Hutchinson Stirling eingehalten wurde, die für Polowzowa nicht nur die besten, sondern auch die adäquatesten Übersetzungen der Texte von Spinoza zu jener Zeit waren. Gestützt auf diese Traditionen, bemühte sich Polowzowa darum, von der Terminologie des Originales minimal abzuweichen, wobei sie in die russische Übersetzung eine Reihe von Latinismen — „Imaginazia“, „Razio“, „Perzepzia“, „Ideat“, „Konzept“ und andere einführte und in Klammern und Anmerkungen praktisch alle charakteristischen lateinischen Ausdrücke Spinozas anführte.

Die Übersetzung enthielt einen ausführlichen Kommentar, der in seinen Ausmaßen den Text beträchtlich übertrifft. Hierin sind einige Konjekturen und Lesarten in einer Reihe anderer Ausgaben des Traktats berücksichtigt und Analogien mit Texten von Descartes, Francis Bacon und Franco Burgersdijck angeführt. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß die Übersetzung der Abhandlung von Polowzowa für jene Zeit zu den qualifiziertesten gehörte und alle heutigen russischen Übersetzungen der Texte von Spinoza, was die Qualität der Quellenangaben angeht, bei weitem übertrifft.

An dieser Übersetzung arbeitete Polowzowa in Bonn im Jahre 1913. In ihrem Vorwort und ihrem Artikel über die Methodologie des Studiums der Philosophie von Spinoza erwähnte sie mehrmals eine von ihr geplante „Spezialforschung“, in der sie ihr Verständnis der Lehre Spinozas „detailliert begründen und entwickeln“ wollte. Man kann annehmen, daß das Buch im Jahre 1913 schon fast oder sogar schon ganz druckfertig war. „Die Übersetzung der Abhandlung über die Läuterung des Verstandes, die ich vorgenommen habe“, schrieb sie, „ist ein Ergebnis meiner speziellen Erforschung der Philosophie von Spinoza. Die Hauptergebnisse dieser Erforschung sollen gesondert veröffentlicht werden.“ 29

Dieses Werk sollte u.a. eine Analyse der geometrischen Ordnung der Darlegung und der Bedeutung der mathematischen „Projektionen und Analogien“ und der Lehre Spinozas über die Abstraktion sowie eine Vergleichsanalyse der Theorie des Attributs bei Spinoza und bei den Scholastikern und der Ursachenarten bei Spinoza und Schopenhauer enthalten. Was die Erörterung der Fragen nach dem sogenannten „Parallelismus“, dem „Attribut“ und den „ewigen unveränderlichen und vereinzelten Dingen“ Spinozas betrifft, wollte Polowzowa, wie sie schrieb, „sie in Sonderartikeln noch vor dem Erscheinen der endgültigen Ergebnisse meiner Forschung veröffentlichen“. 30

All diese Projekte wurden aber nicht verwirklicht — jedenfalls wurden sie nicht veröffentlicht. Mir ist unbekannt, was mit Polowzowa nach 1914 geschehen ist. [142] Man kann nur vermuten, daß der Beginn des Weltkrieges sie in Bonn mitten bei der Verwirklichung ihrer Projekte traf, und der Umstand, daß keine ihrer Arbeiten über Spinoza danach veröffentlicht wurde, legt den Schluß nahe, daß ihr weiteres Schicksal sehr traurig war.

Unter den russischen Philosophiehistorikern fand Polowzowa keine Gesinnungsgenossen, obwohl einige Ergebnisse ihrer Forschungen in den 20er Jahren von Anhängern Deborins unterstützt wurden und Gegenstand der Polemik zwischen den Parteien der Anhänger von Deborin und den „Mechanizisten“ bildeten. 31

Die Werke von Polowzowa fanden auch bei Philosophen Anerkennung, die vom Spinozismus weit entfernt standen. Boris Walentinowitsch Jakowenko, ein bekannter „transzendentaler Skeptiker“, setzte den Artikel von Polowzowa über die Methodologie der Erforschung der Philosophie Spinozas unter den drei bis vier „hervorragenden Arbeiten zur Geschichte der Philosophie“, die von russischen Autoren stammen und „die man nicht verschweigen darf“, an die erste Stelle. 32 Seit der Mitte der 30er Jahre wurde jedoch der Name Polowzowa in der Spinoza-Forschung fast nie mehr erwähnt. Das letzte Mal wurden die Ansichten von Polowzowa zur Philosophie Spinozas kurz von George Kline dargelegt. 33


II.

Der hervorragende sowjetische Psychologe Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1934) war in seinen Studentenjahren von der Philosophie Spinozas begeistert – er studierte damals an der historisch-philosophischen Fakultät der A. L. Schanjawski‑Universität in Moskau. „Sein Lieblingsphilosoph war bis zu Ende seiner Tage Benedictus Spinoza“, schrieb Aleksander A. Leontjew in seiner biographischen Arbeit über Wygotski. 34

An der Lehre von Spinoza zog Wygotski vor allem dessen streng kausale Klärung psychischer Erscheinungen aufgrund des Prinzips einer aktiven gegenständlichen Handlung an. Gestützt auf dieses Prinzip stellte Wygotski fest, daß kulturelle psychische Funktionen als Formen aktiver Tätigkeit entstehen, die dann die Natur umgestalten. Ein Charakterzug kultureller psychischer Funktionen zum Unterschied von den natürlichen besteht darin, daß sie durch künstlich geschaffene, bedingte Stimuli (Zeichen) vermittelt werden, mit deren Hilfe das denkende Wesen sein [143] Verhalten aktiv reguliert. Diese Idee gestattet es, nach Ansicht von Wygotski, „den Ursprung der Freiheit des menschlichen Willens empirisch zu zeigen.“ 35

Ein traditionelles Modell des Problems der Willensfreiheit ist die Situation von Buridans Esels, in der der Esel mit absolut gleicher Kraft durch zwei unterschiedliche Ursachen zur Handlung bewegt wird. Falls seine Seele nichts außer den Zuständen des Körpers aufnimmt, die durch diese Gründe verursacht werden, erweist sich der Esel außerstande, eine bestimmte Handlung zu unternehmen, und verhungert deshalb. Da aber der Mensch ein „denkendes Ding“ ist, ist er, so Spinoza, fähig, nicht nur die Zustände des eigenen Körpers zu empfinden, welche durch äußere Gründe verursacht werden, sondern auch die Natur der Dinge aufzunehmen. Die Mächtigkeit der Ursachen, die das menschliche Denken adäquat aufnehmen kann, übertrifft unendlich die Macht jener zwei Ursachen, die unmittelbar auf den Menschen wirken. Deshalb ist der Mensch fähig, sein Dasein in dem Maße zu bewahren, in welchem die adäquaten Rezeptionen der Natur der Dinge im menschlichen Geiste über die unadäquaten Rezeptionen der Zustände seines Körpers überwiegen. Dabei wirkt der Mensch aktiv auf andere Dinge und auf den eigenen Körper und Geist ein.

Dies ist lediglich eine allgemeintheoretische Lösung des Problems der Willensfreiheit. Wygotski, der diese Lösung völlig unterstützte 36, suchte nach ihrer experimentellen Bestätigung. Er organisierte eine Reihe von Versuchen mit Kindern, indem er eine Situation der Ausgeglichenheit der Motiven schuf, und kam zu dem Schluß: „Der Mensch, der sich in einer Buridans-Esel-Situation befindet, entscheidet durch das Los [...] Das ist eine Operation, die bei Tieren unmöglich ist, eine Operation also, in der mit experimenteller Anschaulichkeit das gesamte Problem der Willensfreiheit zum Vorschein kommt.“ 37

Was ist ein Los? Ein neutraler Hilfsstimulus, dem der Mensch die Funktion der Wahl zwischen zwei möglichen Handlungen überträgt. Mittels dieser neutralen Stimuli (Zeichen) wirkt der Mensch auf das eigene Verhalten und macht so dieses Verhalten vernünftig — ähnlich dem, wie er mit Hilfe von Werkzeugen auf die äußere Natur einwirkt. Woher aber kommt diese überraschende Fähigkeit, die eigenen Handlungen vernünftig, d.h. mit Hilfe von Zeichen, zu lenken?

Hier macht der Gedankengang Wygotski eine entscheidende Wende: Die vom Individuum für die Lenkung seiner Handlungen verwendeten Zeichen werden von ihm nicht willkürlich geschaffen, sie sind ursprünglich als Werkzeuge entstanden, mit deren Hilfe der Mensch auf einen anderen Menschen einwirkte. Das Verhalten des Menschen wird dann vernünftig, wenn er dieselben Werkzeuge an sich selbst anzuwenden beginnt, mit deren Hilfe seine Handlungen von anderen Menschen [144] gelenkt wurden. Zeichen sind ideelle Gerinnsel gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich in Akten praktischer Lebenstätigkeit des Menschen bilden. Folglich hat die menschliche Vernunft einen gesellschaftlichen Ursprung, und sie wird in der Ontogenese auf eine besondere Weise in das Individuum „einverleibt“.

Wygotski hielt an der Meinung Spinozas fest, wonach „der Geist eine Idee des Körpers ist“; zugleich zog er eine Grenze zwischen der Idee des Zustandes des organischen Körpers des Menschen und der Idee seines gesellschaftlichen Quasi-Körpers (Spinoza nannte das quasi corpus, nempe societatis 38). Die nächste Aufgabe, die Wygotski lösen wollte, war die Untersuchung der Genese der höheren, sozialen und psychischen Funktionen aufgrund der natürlichen — „die natürlichen Geschichte des Zeichens“.

Spinoza löste dieses Problem rein logisch, u. zw. als Problem der Relation der „Einbildung“ (undeutliche Ideen über Zustände des menschlichen Körpers) und des „Intellekts“ (klare und deutliche Ideen über die Natur der Dinge). Diese Erkenntnisformen werden von Spinoza als allgemeine Momente in die universelle „Methode der Deutung der Natur“ (methodus interpretandi naturam) eingeschlossen. Die Einbildung gibt dem Menschen eine unadäquate Kenntnis der Existenz von finalen Modi der Natur; diese Angaben werden zunächst mit Hilfe der Vernunft (ratio) geläutert, dann werden sie vom Intellekt aufgenommen, der sie benutzt und sich dadurch zur Kenntnis des Wesens dieser Modi erhebt.

In diesem Verlauf des theoretischen Denkens erfährt nur der Gegenstand des Denkens eine „Genese“ bzw. ein Ideat: die Einbildung skizziert ungefähr die Konturen seines vorhandenen Daseins, der Intellekt präpariert gleichsam dieses Dasein durch das Instrumentarium der Vernunft und kehrt es „auf die linke Seite“, wobei das Wesen zum Vorschein kommt. Von Seiten der allgemeinen logischen Form aber kommt es nicht zu einer „Genese“, sondern zu einem einfachen Übergang, zu einer Verdrängung des einen Moments durch ein anderes. Die Einbildungsformen verwandeln sich nicht in Formen des Intellekts und werden mit den letzteren auf keine Weise vermischt.

„Jene Handlungen, aus denen die Einbildung entsteht, verlaufen nach anderen Gesetzen, die sich von den Gesetzen des Intellekts von Grund auf unterscheiden ...“, heißt es im Text der „Abhandlung über die Läuterung des Verstandes“. 39 Polowzowa kam daher zu dem Schluß, daß auch zwischen den Inhalten der Einbildung und denen des Intellekts „eine unüberwindbare Kluft besteht; ihre Inhalte unterscheiden sich voneinander spezifisch“ — ähnlich wie die Geschmacksempfindungen, nach dem Gesetz von Johannes Müller 40, sich von den visuellen unterscheiden. Meines Erachtens stimmt das nicht. Spinoza verweist darauf, daß in der [145] Einbildung auch die Dinge präsent sind, die mit dem Intellekt übereinstimmen (conveniant). Auf dieser Übereinstimmung beruht nicht nur die „Möglichkeit der Ethik“, wie es in der Anmerkung von Polowzowa heißt 41, sondern auch die Möglichkeit der Erkenntnis von finalen Modi der ausgedehnten Natur. Die letzteren gehören zum Inhalt sowohl der Einbildung als auch des Intellekts, obwohl dieses „gehören“ sich nach ganz unterschiedlichen Gesetzen vollzieht. Das bedeutet, daß es zwischen den Inhalten der Einbildung und des Intellekts keine „unüberbrückbare Kluft“ gibt, auch wenn ihre logischen Formen entgegengesetzt sind.

Die „natürliche Geschichte des Zeichens“ von Wygotski löst das Problem der Genese des Denkens in psychophysiologischer Sicht. Hier vollzieht sich die Verwandlung der Denkform selbst — die Verwandlung von einer natürlichen in eine kulturelle Denkform. Es geht dabei auch um die Verwandlung der Form der natürlichen Einbildung in die Form des Intellekts. Wygotski nannte diesen Prozeß „Einverleibung“, dessen wichtigste Momente und Gesetzmäßigkeiten er in seinen Versuchen mit dem Denken, der Aufnahme, dem Begriffsdenken usw. analysiert. Das Werkzeug, mit dessen Hilfe diese Verwandlung realisiert wird, ist gefunden: Es ist das Zeichen. Man fragt sich, was das indifferente Äußere des Zeichens für das Individuum relevant macht? Was bewegt es zu einer aktiven Anteilnahme an der gegenständlich-zeichenmäßigen Tätigkeit des gesellschaftlichen „Quasi-Körpers“? An dieser Stelle suchte Wygotski wiederum bei Spinoza Hilfe.

Den Beweggrund der menschlichen Tätigkeit sieht Spinoza im natürlichen organischen Bedürfnis bzw. Trieb (appetitus). „Das ist nichts anderes als das Wesen des Menschen, aus dessen Natur mit Notwendigkeit das hervorgeht, was seiner Erhaltung dient; auf diese Weise ist der Mensch zu einer Handlung in dieser Richtung vorbestimmt (determinatus est)“. 42 Der Zustand des Körpers, durch den Trieb hervorgerufen, wird von Spinoza zusammen mit der Idee dieses Zustandes im Geiste als Affekt bezeichnet.

Somit bildet das Sozium die psychische Tätigkeit des Menschen mittels der Zeichen von außen her, während der Trieb, nach Wygotski, sie von innen her — mittels des Affektes — determiniert. Jetzt konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf die „innere“, affektiv-motivationelle Determinante der Psyche. „Der Gedanke entsteht nicht aus einem anderen Gedanken, sondern aus der motivierenden Sphäre unseres Bewußtseins, die unsere Triebe und Bedürfnisse, unsere Interessen und Anregungen, unsere Affekte und Emotionen umfaßt. Hinter den Gedanken steht eine affektive Willenstendenz. Nur sie alleine kann auf das letzte ‚Warum’ bei der Analyse des Denkens eine Antwort geben.“ 43

So entstand die Idee der letzten großen Arbeit von Wygotski aus dem Jahre 1933, -„Die Lehre über die Emotionen. Eine historisch-psychologische Studie“. Zu [146] Beginn der 30er Jahre wurde der Zustand des Problems durch die Konfrontation der organischen (bzw. peripheren oder viszeralen) James-Lange-Gefühlstheorie und der beschreibenden (intentionalen, phänomenologischen) Emotionstheorie bestimmt, die ihre Ursprünge bei Wilhelm Dilthey und Franz Brentano hat. Laut der ersten Theorie ist Emotion 44 ein einfaches Epiphänomen physiologischer Prozesse. Die zweite beruht auf der Annahme, daß die menschliche Emotion eine von der Idee einiger Gegenstände hervorgerufene Äußerung der rein geistigen Aktivität des Ich ist. Wygotski unternimmt eine ausführliche historisch-wissenschaftliche Analyse der konträren Lehren und kommt zu dem Schluß, daß die Leitsätze beider Seiten Variationen zum Thema des cartesischen Traktats über die Leidenschaften darstellen und letztlich die Idee des psychophysischen Parallelismus verbergen. „Descartes ist gleichsam auf jeder Seite der psychologischer Werke über Emotionen anwesend, die in den letzten 60 Jahren verfaßt worden sind.“ 45

Andererseits stellte Wygotski fest, daß in der modernen Wissenschaft eine neue Lösung des Problems der Emotionen entsteht und Gestalt findet, deren Idee in der Ethik ihren Ursprung hat.

„Die Linie des Gedankens von Spinoza findet in bestimmter Hinsicht ihre historische Fortsetzung auch bei Lange und Dilthey ...“. Dabei „hat die Lehre von Spinoza einen tiefliegenden inneren Kern, u. zw. das, was es in keinem der beiden Teile gibt, aus denen die moderne Psychologie der Emotionen besteht: die Einheit einer ursachenbezogenen Erklärung und des Problems der Bedeutung der menschlichen Leidenschaften, die Einheit der beschreibenden und erklärenden Psychologie des Gefühls [...] Spinozas Probleme warten auf eine Lösung, ohne die eine Zukunft unserer Psychologie unmöglich ist.“ 46

Leider hatte Wygotski keine Zeit, um diese Probleme zu behandeln. Das Manuskript blieb unvollendet. Sein Autor war erst 37 Jahre alt, als er starb, – genauso wie Spinoza starb er an einer chronischen Lungenkrankheit. Und dennoch konnte er einige Momente seiner Emotionstheorie skizzieren, die hier erwähnt werden müssen, weil sie den Ideen von Spinoza nah verwandt sind.

Vor allem stellte Wygotski fest, daß die Physiologie in Gestalt des „Vaters der Homöostase“, Walter Cannon, den Boden für die neue Emotionspsychologie schon gründlich vorbereitet hatte. Versuche mit sympathoektomierten Tieren des Laboratoriums von Cannon zeigten, daß periphere Nervenprozesse nicht als Ursache von Emotionen angesehen werden können. Der amerikanische Wissenschaftler nahm an, daß die Ursache physiologischer und psychologischer Prozesse, deren Gesamtheit das emotionelle Verhalten bildet, im Bedürfnis zu suchen ist, die bestehende „Ordnung des inneren Lebens“ des Lebewesens trotz der Einwirkung von Außenumständen, die diese Ordnung zerstören, aufrecht zu erhalten. Man muß der Tatsache Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß dies der Bestimmung des Affekts [147] als eines Zustands der Dinge bei Spinoza ähnelt, der sein Verhalten für die Erhaltung seines Daseins „begünstigt bzw. einschränkt“. 47

Diese Ähnlichkeit ließ Wygotski die Versuche von Cannon als einen „empirischen Beweis der Idee von Spinoza“ einschätzen. 48

Bei all ihrer Relevanz tangieren die Untersuchungen von Cannon das schwierige Problem der Unterscheidung zwischen einfachen organischen und höheren, verstandesmäßigen Emotionen nicht. Für den Philosophen Spinoza verwandelt sich dieses Problem in das zentrale. Er formulierte das Problem der Relation des Verstandes und des Affektes, des Begriffs und der Leidenschaft. „Das ist im echten Sinne des Wortes die Kehrseite des Mondes, die in der ganzen Lehre von Descartes unsichtbar bleibt“, betonte Wygotski. 49 Allem Anschein nach wollte er den restlichen Teil des Manuskriptes diesem Problem widmen. Man kann annehmen, daß Wygotski hier eine neue Klassifikation von Emotionen vorschlagen wollte, da die Nomenklatur von Spinoza ihm nicht paßte: „Sie deckt nicht den Inhalt unserer Affekte, sondern verweist lediglich auf die Verhältnisse, unter denen der jeweilige Seelenzustand vorkommt“. 50 Die Lösung dieser Aufgabe hinterließ Wygotski der spinozistischen Psychologie der Zukunft.


III.

Ewald Wassiljewitsch Iljenkow (1924-1979) war wie Wygotski seinerzeit eine anerkannte Kapazität in seinem Fach — auf dem Gebiet der dialektischen Logik. Seine Werke sind mindestens in 18 Sprachen herausgegeben worden — so auf Deutsch, Italienisch, Englisch, Spanisch und Japanisch. Zwei Hauptwerke von Iljenkow – Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im wissenschaftlich-theoretischen Denken und Die dialektische Logik — enthalten vorwiegend eine Interpretation klassischer philosophischer Werke. Meines Erachtens kann man Iljenkow ohne Übertreiben ein Genie der historisch-philosophischen Exegese nennen. Er konnte mit unübertrefflicher Deutlichkeit feine logische Fäden zeigen, die in den Massiven der Wirtschaftstheorie von Marx verborgen lagen, er orientierte sich frei in verworrenen Labyrinthen der Hegelschen Texte und seine Variationen zum Thema Spinoza bezaubern durch ihre Urwüchsigkeit und Tiefe.

Spinoza nahm im Schaffen von Iljenkow einen besonderen Platz ein. Nach den Worten von Sergei Nikolajewitsch Marejew, Nachfolger und Freund von Iljenkow, “war seine philosophische Hauptliebe Spinoza. Wenn jemand daran zweifeln würde, so könnte sogar die oberflächliche Lektüre des Anfangs seiner großen Arbeit über Spinoza, die Iljenkow sein ganzes Leben lang schreiben wollte, aber nicht zu Ende führen konnte, jegliche diesbezügliche Zweifel zerstreuen.“ 51 [148]

Spinozianische Stimmungen sind schon in einem der ersten Essays Iljenkows Die Kosmologie des Geistes zu spüren, der in den 50er Jahren verfaßt wurde. 52 Iljenkow befaßte sich hier mit Spinozas Leitsatz, daß das Denken ein Attribut, d.h. eine absolut notwendige Form und Voraussetzung der Existenz der Natursubstanz ist. Er formuliert hier eine höchst logische und geistreiche Vermutung über die kosmische Prädestination des Geistes, eine Idee, die ihrem kühnen und erhabenen Charakter nach alle bekannten naturphilosophischen Ideen der vergangenen Jahrhunderte übertrifft.

Die Lehre von Spinoza über das Denken in ihren unterschiedlichen Aspekten war Ursprung fast aller Schlüsselideen, die Iljenkow entwickelte. Nach den Worten von Alexei Grigorijewitsch Nowochatko kam Iljenkow „zu Beginn der 60er Jahre gerade über die Erforschung der Philosophie von Spinoza zum [...] Problem des Idealen“ 53, und er verfaßte seinen berühmten Artikel Das Ideale für die Philosophische Enzyklopädie. Iljenkow bekannte, daß er das spinozianische Verständnis der Relation des Idealen zum Realen völlig teile. Mehr als das, dieses Verständnis war Ausgangspunkt all seiner Forschungen.

Das Ideale ist nichts anderes als eine besondere Form des Ausdrucks des Realen, innerhalb derer die allgemeinen Gesetze des Realen in reiner Natur auftreten. Die allgemeinen Gesetze der Natur können verwirklicht werden nicht nur durch eine endlose Reihe mit-wirkender, einander zur Bewegung bestimmender Dinge, wie dies in der Ausdehnung der Fall ist, sondern auch durch ein besonderes finales Ding, das seine Handlungen entsprechend der Natur aller anderen Dinge – ex analogia universi (nach dem Bild des Universums) — ordnet. Nach Spinoza ist das letztere ein Zeichen des „denkenden Dinges“. Formen der universellen Tätigkeit, in reiner Natur betrachtet, bilden in ihrer Gesamtheit das Gebiet adäquater Ideen, den „Intellekt“ bzw., um mit Iljenkow zu sprechen, das Gebiet des Idealen.

Nach Meinung von Iljenkow ist es Spinoza gelungen, die Relation des Idealen zum Realen insgesamt richtig zu bestimmen, dabei bleibt das Rätsel der Entstehung der finalen Form des Idealen bei Spinoza ungelöst. Spinoza teilt die alte Vorstellung davon, daß die einfachsten „intellektuellen Werkzeuge“ dem Menschen ebenso wie die Hand oder das Gehirn inhärent sind. Die gegenständlich-praktische Tätigkeit schafft den menschlichen Intellekt nicht, sie reinigt, vervollkommnet und ernährt ihn lediglich. Iljenkow ist jedoch der Meinung, daß das Ideale als Form einer realen gegenständlichen Handlung (konkreter der Arbeit) entsteht und [149] geboren wird, daß es in der Gestalt eines äußeren Dinges erstarrt und erst dann in die individuelle Psyche im Prozeß der Vergegenständlichung der Tätigkeitsformen „einbezogen wird“. Das ideale Licht der Vernunft, das dem denkenden Wesen ganz natürlich zu sein scheint (lumen naturale), ist in der Tat durch eine gegenseitig koordinierte Mit-Wirkung der Hand und des Materials entzündet. Hier beginnt zum ersten Mal der Logos, das Gesetz des Daseins der Dinge, zu leuchten, und später leuchten mit seinem reflektierten Licht die individuelle Psyche und das Gehirn, der Geist und dessen eingeborenes Werkzeug sowie alle anderen Dinge, die durch das „denkende Ding“ in den Kreis seiner Lebenstätigkeit einbezogen werden; vor allem handelt es sich dabei um andere Individuen, die mit ihm eine Gattung bilden.

Mit der Ausfeilung und Präzisierung dieser Lösung des Problems des Idealen befaßte sich Iljenkow im Laufe von 20 Jahren, inzwischen gerieten auch einige andere Seiten der Philosophie von Spinoza in sein Blickfeld. So „zeigte Iljenkow, daß Spinoza [...] die Lösung der Frage der Zielkausalität als Einwirkung des Ganzen auf seine Teile entfaltet, wobei er schon lange vor Kant einen Zugang zum Problem der Zweckmäßigkeit öffnet“. 54

In der Abhandlung Über die Läuterung des Intellekts fand Iljenkow eine logische Idee, die die Marxsche Methode der Steigerung vom Abstrakten zum Konkreten klar und deutlich vorwegnahm, dabei betrachtete Iljenkow die notiones communes von Spinoza als eine direkte Analogie allgemein-konkreter Begriffe der dialektischen Logik. 55

Wie auch Polowzowa war Iljenkow mit der „Eleatisierung“ des Spinozianischen Begriffs der Substanz nicht einverstanden. Im Unterschied zu Vertretern der „Schule der Eleaten“, schrieb er, „negiert Spinoza bei weitem nicht die faktische Geteiltheit der Natur insgesamt (Substanz) in einzelne Körper. Einzelne Körper und Grenzen zwischen ihnen existieren, nach Spinoza, bei weitem nicht nur in der Einbildung, sondern sie werden lediglich mit Hilfe der Einbildung anerkannt.“ 56 Erwähnt sei auch die Anwendung der Ideen von Spinoza durch Iljenkow in der Psychologie. Iljenkow stellte „eine direkte Verbindung zwischen der Praxis der Herausbildung der Psyche bei blind- und taubstummen Kindern [...] und der Spinozianischen Bestimmung des Denkens“, schreibt Marejew. 57

1965 hielt Iljenkow eine Reihe von Vorträgen über die Philosophie Spinozas, und einige Jahre später begann er mit der Arbeit am obenerwähnten Werk über Spinoza. Aus unklaren Gründen legte er die Arbeit an dem Buch beiseite, obwohl er, nach Worten seiner Freunde, oft darüber sprach, daß er es bis zu Ende führen [150] wollte, und in den letzten Jahren seines Lebens lagen Spinozas Werke stets auf seinem Schreibtisch.

Ende 1975 bis Anfang 1976 schrieb Iljenkow Notizen zum Thema „Willensfreiheit“. Zwei Lösungen des Problems — eine von Fichte und die andere von Spinoza – lagen vor ihm. Und wieder entschied sich Iljenkow für Spinoza. „Was bedeutet also ‚Willensfreiheit’? Eine Fähigkeit, die Gesamtheit von Handlungen den ablehnenden Einwirkungen der nächsten Umstände zum Trotz, d.h. ‚frei’ in bezug auf sie, zu verwirklichen, wobei die Handlungen mit der universellen Abhängigkeit (Notwendigkeit) in Einklang gebracht werden, die in der Form des Ziels ideell ausgedrückt ist [...] Das ist Spinoza in reinster Natur.“ 58

Spinoza wird oft Ungeschichtlichkeit vorgeworfen: Er stelle alles als sub specie aeternitatis vor, das heißt, daß er die „Götter der Geschichte“ nicht respektiere. Iljenkow erwiderte: die Deduktion von Spinoza ist eine „logische Form des Wesens der historischen Anschauung“. 59 Sie ist „auf eine reale Genese des ‚Dinges’ orientiert [...] Hier liegt der Vorzug Spinozas (seiner ‚Deduktion’) vor der Deduktion Fichtes. Darin besteht auch der Vorzug der Schule von Wygotski gegenüber jedem anderen Schema der Erklärung der Psyche.“ 60 Daraus ergibt sich, daß es richtig wäre, sich in der Relation des Historischen zum Logischen und des Ewigen zum Provisorischen insgesamt besser zurechtzufinden, bevor man sich über die Einstellung Spinozas zu den „Göttern der Geschichte“ eine Meinung bildet.

Die letzten Artikel Iljenkows über Spinoza — Drei Jahrhunderte Unsterblichkeit (Koautor Lew Konstantinowitsch Naumenko) und Seiner Zeit voraus — wurden 1977, zum 300. Jahrestag des Todes des Amsterdamer Philosophen verfaßt. Selbst die Titel dieser Arbeiten sprechen für sich: Die verflossenen drei Jahrhunderte schwächten auf keine Weise die Aktualität der Philosophie von Spinoza; ihr heuristisches Potential, von Goethe, Einstein und Wygotski bezeugt, muß erst aufgedeckt werden. Jedoch wird das allem Anschein nach nicht bald geschehen, erst dann, wenn der Mensch für sich echt menschliche Existenzbedingungen schaffen wird, damit die Menschen „in allem einander übereinstimmen würden, damit die Seelen und die Körper aller gleichsam eine Seele und einen Körper bildeten, damit alle zusammen, soweit es möglich ist, nach Allgemeinnützlichem für alle suchten“. 61 Die Notwendigkeit einer solchen gesellschaftlichen Ordnung rührt aus der Gesamtheit unserer Natur her, und Spinoza konnte besser als alle anderen zu jener Zeit diese Notwendigkeit sehen und formulieren. „Einmal sagte Goethe, Genie sei Intellekt, eingespannt in den Schraubstock der Notwendigkeit. Darin liegt die Enträtselung des Genies Spinozas, seiner Persönlichkeit und seines Intellekts.“ 62 [151]


IV.

Unsere drei Spinozisten arbeiteten zu verschiedenen Zeiten und kannten sich nicht persönlich, und auch ihre geistige Nähe war nicht sehr stark. Wygotski und Iljenkow haben Polowzowas Arbeiten nie erwähnt. Und doch bevorzugte Iljenkow die ältere Übersetzung Polowzowas von De intellectus emendatione und nicht die neueren Ausgaben von Wassilij Sokolow oder Jakow Borowsky. Weiterhin lehnt sich seine Interpretation von Spinozas notiones communes unmittelbar an Polowzowas Kommentar an. Warum wird dann ihr Name nicht erwähnt? Noch mehr erstaunt uns, daß Iljenkow sich kein einziges Mal auf Wygotskis Texte bezog und nur sehr selten und beiläufig seinen Namen erwähnte, Und das obwohl Iljenkow laufend mit Alexei Nikolajewitsch Leontjew, Piotr Jakowlewitsch Galperin und anderen Schülern Wygotskis korrespondierte. Ungeachtet dessen folgten die späteren Arbeiten Iljenkows bezüglich des Persönlichkeitsbegriffs unmittelbar den Untersuchungen Wygotskis.

Die Nähe aller drei Spinoza-Lesarten zeigt sich in erster Linie in ihrem „methodologischen“ Herangehen. Polowzowa, Wygotski und Iljenkow sahen Spinozas logische Methoden als das Rückgrat seiner ganzen Philosophie an. Sie hielten diese Methode für besonders ergiebig, obwohl von ihr fast kein Gebrauch in der modernen Wissenschaft und Gelehrtenwelt gemacht wurde.

Gibt es eine konkrete Gemeinsamkeit zwischen den dargestellten Interpretationen der Philosophie von Spinoza? Ohne Zweifel gibt es sie. Denn alle drei Interpretationen sind Spielarten ein und derselben „dynamischen“ Darlegung der spinozianischen Kategorien. Ein Hauptpunkt ihrer Gemeinsamkeiten besteht in der These, daß die Aktivität eines jeden Dings seine wirkliche Essenz bildet. Sie nahmen alle gleichermaßen den aktiven, dynamischen Charakter der Kategorien wahr, welche Spinozas philosophischen Standpunkt bezeichnen. Polowzowa wies darauf hin, daß Spinoza das genuine, substantielle Sein der Dinge als actu existere bezeichnete, um es von der imaginären Existenz „hier und jetzt“, der duratio, zu unterscheiden. 63 Die Aktivität eines Dinges ist das einzige authentische Maß seiner Wirklichkeit.

Wygotski wird allgemein als ein Begründer der Handlungstheorie in der modernen Psychologie angesehen. In seiner Nachfolge hielt Iljenkow die menschliche objektive Aktivität für eine letzte Substanz aller psychischen Erscheinungen, von den einfachsten Empfindungen des eigenen Körpers bis hin zu den Kategorien der „reinen Vernunft“. Iljenkow schrieb, daß es Spinoza war, der dieses Prinzip begründete und daß wir mit der Akzeptanz dieses Prinzips das Gebiet des Spinozismus betreten. [152]

„Der Spinozismus [...] verbindet das Phänomen des Denkens insgesamt mit der realen Tätigkeit des denkenden Körpers (und nicht mit dem Begriff der körperlosen Seele) und in diesem denkenden Körper setzt er eine Aktivität voraus ...“. 64

Polowzowa verwies darauf, daß das wahre, substantielle Sein der Dinge von Spinoza als actu existere bezeichnet wird und daß diese „aktive Existenz“ 65 sich von der lediglich imaginären „Existenz in der Zeit“ (duratio) unterscheide. Die Aktivität des Dinges bildet denn auch sein Wesen, meinte Polowzowa. 66 Bei . Wygotski und Iljenkow verwandelte sich die gegenständliche Tätigkeit in eine ultima ratio aller psychischen Bildungen — vom einfachsten Selbstgefühl und von den natürlichen Affekten bis hin zur Kategorie der „reinen Vernunft“ und zu den kompliziertesten ideellen Konstrukten. Dieses Prinzip wurde von Spinoza entdeckt, und wir, die wir es akzeptieren, betreten dadurch den wahren Boden des Spinozismus, meinte Iljenkow. „Der Spinozismus [...] verbindet das Phänomen des Denkens insgesamt mit der realen Tätigkeit des denkenden Körpers (und nicht mit dem Begriff der körperlosen Seele) und in diesem denkenden Körper setzt er eine Aktivität voraus [...]“. 67

Auch in der westliche Spinozaforschung gibt es einen sehr ähnlichen Trend. Als Klassiker dieser einflußreichen Richtung im Westen gilt der englische Spinoza-Forscher und Philosoph Harold Forster Hallett (1886-1966). Er schrieb, daß für Spinoza „zu sein“ bedeute „zu handeln“, die wahre Realität des Dinges sei dessen Aktivität, Wirksamkeit (agency) — das sei die Seele der Lehre von Spinoza. 68

Die Wirklichkeit eines Dings ist seine Aktivität, nicht seine objektive Dinglichkeit. 69 Ago, ergo sum — Ich handle, und deshalb existiere ich, dies könnte das erste Axiom von Spinozas Philosophie des Geistes sein. [153]

***

Die Geschichte des russischen Spinozismus ist recht kurz und hat keinen glücklichen Weg zurückgelegt. Aus verschiedenen Gründen war es weder Polowzowa, noch Wygotski, noch Iljenkow gelungen, ihre Hauptwerke über Spinoza zu Ende zu führen. Und trotz alledem ist der Spinozismus der heimischen Philosophie und Psychologie in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl die heutigen Erforscher der theoretischen Gedanken der Lehre von Spinoza dem noch wenig Aufmerksamkeit schenken. [154]


1 So manche Untersuchung von Spinoza hat versagt, insofern sie keine spinozistische Untersuchung gewesen ist.
2 Georgi W. Plechanow: Isbrannyje filosofskije proiswedenija, Bd. 1-5, Moskau 1956-1958. Bd. II, S. 339; Bd. III, SS. 76, 135.
3 Vgl. die gründlich kritische Arbeit über die allgemein bekannte Debatte in George L. Klines Einführung zu „Spinoza in Soviet Philosophy“, London 1952 (Routledge & Kegan Paul).
4 Allgemein gesprochen, übersteigt es mein Verständnis, wie jemand Spinozas Natur als Mechanismus ansehen konnte. Was für ein wunderbarer Mechanismus, in welchem jede „Schraube“ in ihrem eigenen Sein fortzubestehen sucht (in suo esse perseverare conatur) und sich mittels ihrer eigenen Natur bewegt, in welchem alles belebt ist (omnia ... animata sunt) und einen teil eines denkenden Dinges bildet.
5 Den größten Teil meiner Angaben über Polowzowa erhielt ich im Archiv der Rheinischen Universität (Bonn). Ich danke Herrn Dr. Paul Schmidt herzlich, der diese Angaben im Archiv gefunden hat.
6 Die erste Notiz von Polowzowa stellt einen ausführlichen Kommentar zum „Ecce homo“von Nietzsche dar. Vgl. Warwara N. Polowzowa: Zur Autobiographie Fr. Nietzsches, in: Woprosy filosofii i psichologii 98 (1909) 501-520.
7 Übrigens schätzte Polowzowa die „Logischen Untersuchungen“ von Husserl ebenfalls hoch ein. Sie schrieb sogar, daß sie „als eine Vorbereitung für das Verständnis der Lehre von Spinoza über die Abstraktion dienen können“. Vgl. Warwara. N. Polowzowa: Zur Methodologie des Studiums der Philosophie von Spinoza, in: Woprosy filosofii i psichologii 118 (1913), 333.
8 Wladimir Solowjow: Vorstellung von Gott (zur Verteidigung der Philosophie Spinozas), in: Woprosy filosofii i psichologii 38 (1897) 383‑414.
9 Ebenda, S. 407-408.
10 Ebenda, S. 408-409.
11 Vgl. Warwara N. Polowzowa: Notizen zum Buch von S. Dunin-Borkowski „Der junge Spinoza Leben und Werdegang im Lichte der Weltphilosophie“, München/Aschendorff 1910, in: Woprosy filosofii i psichologii 105 (1910) 325-332. Eine andere Notiz von Polowzowa zu diesem Buch veröffentlichte die „Historischen Zeitschrift“ 108 (1911) H. 1.
12 Polowzowa, Notizen, S. 332. „Die ausgesprochen negative Meinung von Frau Polowzowa“, schrieb Prof. Wladimir Se mjonowitsch Schilkarskis gereizt, „stellt, soweit wir wissen, die einzige Ausnahme unter den zahlreichen Rezensionen, Notizen und Artikeln dar, die dem Buch Dunin-Borkowskis gewidmet sind. Polowzowa hat fast alle hervorragenden Kenner von Spinoza im Westen gegen sich, die die hervorragenden Qualitäten des genannten Werkes anerkennen“ (Wladimir S. Schilkarskis: Über den Panlogismus bei Spinoza, in: Woprosy filosofii i psichologii 123 (1914) 258.
13 Polowzowa, Zur Methodologie, S. 319.
14 Ebenda, S. 321.
15 Jacobi Zabarellae Opera Logica. Köln, 1597.
16 Jacob Freudenthal: Spinoza und die Scholastik, in: Philosophische Aufsätze, Eduard Zeller gewidmet, Leipzig, 1887, S. 83-138.
17 Polowzowa, Zur Methodologie, S. 329.
18 Ebenda, S. 322.
19 Diese schlechte Angewohnheit hat sich auch heute noch erhalten, und dies sogar bei angesehenen Philosophiehistorikern wie Edwin Curley. Vgl. dessen “Spinoza’s Geometric Method“, in: Studia Spinozana, Bd. II., Alling 1986; Ders.: Behind a geometrical method, Princeton 1988.
20 Polowzowa wollte diese lateinischen Begriffe nicht mit den entsprechenden Wörtern „woobrashenije“ (Einbildung) und „rasum“ (Verstand) übersetzen, damit ihre Inhalte nicht mit gewöhnlichen, aus der deutschen Philosophie stammenden Begriffen verwechselt werden konnten.
21 Einen ähnlichen Fall findet Abigail Rosenthal in der „Phänomenologie des Geistes“: „Derselbe Begriff wird von Hegel in unterschiedlichem Sinne verwendet, u. zw. entsprechend der Etappe, auf der das erkennende Bewußtsein auftritt“ (Abigail Rosenthal: A Hegelian Key to Hegel’s Method, in: A Journal of the history of philosophy 9 (1971) H. 2, 206). Es ist offensichtlich ein Erbzug dialektischer Lehren: Die konkrete Bestimmtheit und der Sinn von Begriffen unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Natur des Ganzen, in dem sie festgelegt worden sind.
22 Polowzowa, Zur Methodologie, S. 331.
23 Vgl. Spinoza: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glückseligkeit, Teil I, Kapitel 7.
24 Als eine der ersten trat Polowzowa gegen die „Eleatisierung“ der Philosophie von Spinoza auf, die von Hegel vorgenommen wurde. In unseren Tagen ist die Unrechtmäßigkeit seiner Deutung fast allgemein anerkannt. Vgl. die jüngsten Arbeiten zu diesem Thema: Errol Harris: The Concept of Substance in Spinoza and Hegel, in: Spinoza nel 350º anniversario della nascita, Neapel 1985, S. 249-257; Amihud Gilead: Spinoza’s „Principium individuationis” and Personal Identity, in: International studies in philosophy 15 (1983) H. 1, S. 41-44.
25 Filippo Mignini, Alexandre Matheron, Edwin Curley, Wim Klever und einige andere moderne Forscher haben bewiesen, daß die Abhandlung über die Läuterung des Verstandes früher als alle anderen bekannten Werke von Spinoza verfaßt wurde. Polowzowa hingegen meinte, daß die erste Arbeit von Spinoza die Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glückseligkeit gewesen sei.
26 Wassilij Wassiljewitsch Sokolow: Anmerkungen, in: B. Spinoza: Isbrannyje proiswedenija, Bd. 1-2, Moskau 1914, S. 54.
27 Warwara. N. Polowzowa: Vorwort, in: B. Spinoza: Abhandlung über die Läuterung des Verstandes, Moskau 1914, S. 54 (russ.)
28 Verschiedene Varianten der Übersetzung des Titels des Traktats sind detailliert analysiert worden in der Arbeit von Paul Eisenberg: How to Understand De Intellectus Emendatione, in: Journal of the history of philosophy 9 (1971) H. 2, 171-179.
29 Polowzowa, Vorwort, S. 3.
30 Ebenda, S. 56.
31 „Was mich angeht, so unterstütze ich die Meinung von Polowzowa“, schrieb z.B. Nikolai Kibowski (Vgl. Nikolai Kibowski: Theorie der Substanz, der Attribute und Modi Spinozas, in: Istoriko-filossofski sbornik (Red. Abram Moissewitsch Deborin), Moskau 1925, S. 49. Andererseits fand Ljubow Isaakowna Axelrod, daß „die philosophischen Forschungen, die Polowzowa gelingen, ihre Bedeutung haben. Das aber, was sie zu beweisen versucht, bleibt unbewiesen, u.zw. aus dem einfachen und natürlichen Grunde, daß dies zu beweisen unmöglich ist“ (L. I. Axelrod: Spinoza und Materialismus, in: Krasnaja nowj 7 (1925) 149).
32 Boris W. Jakowenko: Grundriß der Geschichte der russischen Philosophie, Berlin 1922, S. 125.
33 George L. Kline: Spinoza in Soviet Philosophy, London 1952, S. 12-13.
34 Aleksander Aleksejewitsch Leontjew: L. S. Wygotski, Moskau 1990, S. 16 (russ.)
35 Lew. S. Wygotski: Werke, Bd. 1-6, Moskau 1982-1984, Bd. 3, S. 291 (russ.)
36 „Wir können nicht umhin, die Tatsache anzuerkennen, daß wir zum selben Verständnis der Freiheit und der Herrschaft gekommen sind, das Spinoza in seiner Ethik entwickelt“, Wygotski: Werke, Bd. 3, S. 291.
37 Ebenda, S. 277.
38 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Kapitel 3.
39 Spinoza, Opera quotquot reperta sunt, 3 vols (Ed. Johannes van Vloten et Jan Pieter Nicolaas Land), Den Haag 1895, Bd. 1, S. 27.
40 Vgl. Polowzowa, Einführung, S. 34-35; Zur Methodologie des Studiums de Philosophie von Spinoza, S. 321.
41 Anmerkung 140 Polowzowas Arbeit: Spinoza: Abhandlung über die Läuterung des Intellekts, S. 148.
42 Spinoza, Ethik, T. 3, Theorem 9, Scholia.
43 Wygotski, Werke, Bd. 2, S. 357.
44 Wygotski verwendet die Begriffe „Emotion“, „Affekt“ und „Leidenschaft“ synonym.
45 Wygotski, Werke, Bd. 6, S. 213.
46 Ebenda, S. 300-301.
47 Spinoza, Ethik, T. 3, Definition 3.
48 Wygotski, Werke, Bd. 6, S. 101-102.
49 Ebenda, S. 167.
50 Ebenda, S. 297.
51 Sergei N. Marejew: Einige Worte über Iljenkow, in: Westnik MGU, R. 7, (1990), Nr. 1, S. 58.
52 Der Publikation dieser Arbeit 30 Jahre nach ihrer Niederschrift in der Zeitschrift „Nauka i religija“ (1988, Nr. 8-9) wurde mit zwei äußerst negativen Rezensionen begegnet. „Ich habe gewußt, daß Ewald Wassiljewitsch in den letzten Jahren seines Lebens für Spinoza begeistert war, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Sache so weit gegangen ist“, schrieb Arsenij Gulyga, der allem Anschein nach nicht im Bilde war, wann die Arbeit verfaßt worden ist. Sein Urteil lautete: Es gehe um einen „Hylozoismus“ und um einen „pessimistischen Spinozismus, nietzscheanisch eingefärbt“. Arsenij Gulyga: Die kosmische Verantwortung des Geistes, in: Nauka i religija (1988), Nr. 11, S. 32-34.
53 Alexei G. Nowochatjko: Das Phänomen von Iljenkow, in: Ewald W. Iljenkow: Philosophie und Kultur, Moskau 1991, S. 13. (russ.)
54 Ebenda, S. 13.
55 Vgl. E. W. Iljenkow: Das Verständnis des Abstrakten und Konkreten in der Dialektik und formalen Logik, in: Dialektik und Logik. Denkformen, Moskau 1962, S. 182-188 (russ.)
56 Ewald W. Iljenkow: Quantität, in: Filosofskaja enziklopedia, Bd. 2, Moskau 1962.
57 Sergei N. Marejew, Begegnung mit dem Philosophen Ewald Iljenkow, Moskau 1994, S. 57.
58 E. W. Iljenkow: Willensfreiheit, in: Woprosy filosofii (1990) Nr. 2, S. 73.
59 I. Wassiljew (Pseudonym von E. W. Iljenkow); Lew Naumenko: Drei Jahrhunderte Unsterblichkeit (zum 300. Jahrestag des Todes von B. Spinoza), in: Kommunist (1977) Nr. 5,71.
60 Iljenkow, Willensfreiheit, S. 74.
61 Spinoza, Ethik, T. 4, Theorem 18, Scholia.
62 Ewald Iljenkow, Operediwschij swojo wremja, in: Filosofia i kultura, S. 102.
63 Zur Methodologie, S. 69-70.
64 Iljenkow, Willensfreiheit, S. 70
65 Das Wort actu, das bei Spinoza oft zu treffen ist, hat zwei verwandte Bedeutungen: „aktiv“ und „aktuell“, „wirksam“ und „wirklich“. Bei der Übersetzung kann man jede dieser Bedeutungen benutzen, weil das Maß der Aktivität des Dinges, nach Spinoza, das Maß der Wirklichkeit des Dinges ist.
66 Polowzowa, Zur Methodologie des Studiums der Philosophie von Spinoza, S.365, 369
67 Iljenkow: Willensfreiheit, S. 70. Der Ausdruck „denkender Körper“, den Iljenkow übernahm, soll aus dem Arsenal von Hobbes oder der französischen Materialisten stammen; diesen Ausdruck würde Spinoza allem Anschein nach als Redefiktion charakterisieren. Bei Iljenkow findet man auch andere peinliche Ungenauigkeiten bei der Darlegung der Philosophie Spinozas. So verwendet er manchmal den Begriff „Attribut“ in der Bedeutung, in welcher Spinoza über den „unendlichen Modus“ der Substanz spricht. Polowzowa und Wygotski (auch Iljenkow selbst, wenn er die deutsche Philosophie darlegt) ließen derartige Ungenauigkeiten nicht zu.
68 Harold Forster Hallett. Benedict de Spinoza. The Elements of His Philosophy, London 1957, S. 5‑6, 9‑10.
69 Ebenda, S. 6.