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"Logik der Differenz" statt Dialektik: Gilles Deleuzes Spinoza-Hermeneutik

I.

1. Ein poststrukturalistischer Differenzphilosoph

Gilles Deleuze ist, darin sind sich die meisten einig, ein origineller Philosoph; hinsichtlich der Frage aber, ob es eine Originalität im guten oder schlechten Sinne sei, gehen die Einschätzungen auseinander. Gewöhnlich wird der inzwischen schon emeritierte Professor der Pariser Vincennes-Universität zusammen mit Foucault, Lacan, Lyotard und Derrida den "Neo-" oder "Poststrukturalisten" zugerechnet. Doch ist diese Bezeichnung, wie Manfred Frank bemerkt, ziemlich ungenau: es handelt sich um eine recht divergente Strömung französischen Geisteslebens "im Vorfeld des Mai '68" — vielleicht sollte man bescheidener nur von den "neuen Parisern" sprechen. 1

Als gemeinsamer Nenner für dieses intellektuelle Gebilde gilt jedoch, erstens, daß es die theoretischen Ansätze des klassischen Strukturalismus (Saussure, Lévi-Strauss) weiterführt — und sie häufig zugleich umkehrt; und zweitens, daß an Nietzsche angeknüpft wird — wenn auch dies in einer anderen Weise als in der herkömmlichen Lebensphilosophie.

Ist der Neostrukturalismus an sich schon eine ambivalente und schwer durchschaubare Erscheinung, so trifft dies offenbar in besonderem Masse auf Deleuze zu, der den Ruf eines philosophischen Einzelgängers genießt. Erst in den letzten Jahren haben Übersetzungen seiner Arbeiten in andere Sprachen zu erscheinen begonnen, und wenn auch Michel Foucault einst (1970) von seinem Freunde auch prophezeite, daß "eines Tages das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein wird" 2, so ist der Ruhm Deleuzes auch heute nicht einmal annähernd so groß wie der Foucaults oder Derridas. Dazu dürfte die eigentümliche "deleuzianische Trockenheit", eine Darstellungsweise, die zugleich sowohl luzid als auch undurchschaubar ist, beigetragen haben.


1 Frank 1984, S. 20 ff.

2 "Un jour, peut-être, le siècle sera deleuzien". Michael Foucault, Theatrum Philosophicum, in: Critique 282, Paris 1970, deutsch in: Deleuze & Foucault 1977, S. 21.


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"Auch seine Einstellung zum eigenen Werk führt zu einem ähnlichen Ergebnis", schreibt Jean-Jacques Lecercle. "Die verblüffende Agilität, womit er von Gegenstand zu Gegenstand springt, von der abstrusen Philosophie zum modernen Roman, die Ungeniertheit, mit der er sowohl den Leser als auch den zu kommentierenden Text behandelt — das erweckt Faszination, aber auch Widerspruch. Ist er seriös? Meint er wirklich, was er sagt?" 3

Heinz Kimmerle trifft den Kern am besten, wenn er Deleuze einer Strömung zurechnen will, die er "Philosophie der Differenz" nennt. Obgleich die Bezeichnung nicht problemlos ist, "kann man wohl Heideggers kleine Schrift Identität und Differenz" als "Gründungsdokument dieser Denkarbeit" betrachten. Heidegger kritisiert die vorherrschende Tendenz europäischer Philosophie seit Platon, alles "ad unum vertere" (auf Eines hin zu wenden), was zum Verlust des Besonderen, des Nicht-Identischen geführt habe. 4 Nur, nimmt man das Programm der Differenzphilosophie ernst, ist ihre Kennzeichnung als Philosophie problematisch, da das begriffliche Denken auf Identifizieren, dem Gegenteil der Differenz, beharrt. Wie dem sei: die Rehabilitierung der Differenz, des Einmaligen, des Singulären ist ein Leitmotiv der Produktion Deleuzes. In den letzten Jahren hat man sich über ihn und seine "Logik der Differenz" auch außerhalb Frankreichs in wachsendem Masse zu interessieren begonnen, wovon besonders die in den 90er Jahren erschienenen Übersetzungen zeugen. 5

So ist Deleuze beispielsweise für Manfred Frank offensichtlich ein wichtiger Philosoph, er hätte ihm wohl sonst in seiner Darstellung des französischen Neostrukturalismus nicht so viel Raum gewidmet. Zur gleichen Zeit aber ist Frank sich mitunter nicht sicher, ob er es nicht doch mit einem Scharlatan zu tun habe. Besonders verdächtig erscheinen ihm Deleuzes letzte Arbeiten, die zusammen mit Félix Guattari verfaßten Anti-Oedipe und Mille Plateaux. Nicht nur, daß der Foucaultsche Ansatz übertrieben wird;


3 Lecercle 1985, S. 91.

4 Kimmerle 1988, S. 7 f. Andere Vertreter der "Philosophie der Differenz" sind nach Kimmerle Foucault, Lyotard, Derrida, Julia Kristeva und Luce Irigaray.

5 Um nur die wichtigsten zu nennen: Die Spinoza-Monographie (1968) erschien auf Englisch 1990, auf Deutsch 1993 (Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie). Difference et répétition erschien ebenfalls ursprünglich 1968 und wurde 1992 ins Deutsche übersetzt (Differenz und Wiederholung) — beide beim W. Fink Verlag, München. Auch die Bergson- und Hume-Monographien liegen in neuen Verdeutschungen vor (1989, 1993), und von Logique du Sens (1969) gibt es eine amerikanische (The Logic of Sense, New York: Columbia University Press 1990) und deutsche Ausgabe (1993).


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Frank wittert auch im "anarchistischen touch" Deleuzes Verbindungen zur Nouvelle Droite und zu "faschistisch eingefärbten Neovitalismen". 6

Frank ist nicht der einzige, der Deleuze gegenüber eine gewisse Ratlosigkeit an den Tag legt. Schon vor mehr als zehn Jahren vertrat auch der bundesdeutsche Spinoza-Forscher Konrad Hecker die Ansicht, daß Deleuzes 1968 in Paris erschienenes Buch Spinoza et le Problème de l'Expression "ohne Zweifel zu den wichtigsten neueren Untersuchungen über Spinoza" gehöre. Fast im gleichen Atemzug aber mußte Hecker konstatieren, daß Deleuzes Spinoza-Buch eine Interpretation sei, die "unter derart pauschalen Stilisierungen leide", daß "von einer werkgetreuen Auslegung des tatsächlich Formulierten kaum noch die Rede sein kann". 7

2. Gleitbewegungen und von hinten gemachte Kinder

Deleuze würde sich wohl nur freuen, zu hören, daß es ihm gelungen ist, gewissenhafte deutsche Professoren zu verblüffen. Er hat selbst eingestanden, daß es seine Absicht beim Schreiben der Philosophen-Monographien gewesen sei, mit dem jeweiligen Klassiker gleichsam einen coitus a tergo zu bewerkstelligen, also einen Akt, der nach Volksüberlieferung Missgeburten hervorbringt: "Ich stellte mir vor, hinter den Rücken eines Autors zu gelangen und ihm ein Kind zu machen, das sein eigenes und trotzdem monströs wäre. Es ist sehr wichtig, daß es sein eigenes ist, weil es nötig ist, daß der Autor wirklich all das sagt, was ich ihn sagen lasse. Aber es war auch wichtig, daß das Kind monströs ist, weil er alle Arten von Dezentrierung — Gleitbewegungen, Brüchen, geheimen Absonderungen — durchlaufen mußte, die mir beliebten". Nur Nietzsche bilde davon eine Ausnahme. Es sei "unmöglich, ihn einer ähnlichen Behandlung zu unterziehen. Er ist es, der Euch von hinten Kinder macht". 8

Was für ein Kind macht Deleuze mit Spinoza? Die Frucht seines Umgangs ist das eben genannte Spinoza-Buch vom Jahre 1968, dessen Material er später für das kleine Bändchen Spinoza - Philosophie pratique (1970, erweiterte Neuauflage 1981) verwendet hat. 9 Aber schon in seiner Nietz-


6 Frank, a.a.O., S. 434.

7 Hecker 1978, S. 59 f.

8 Deleuze 1980, S. 12 f.

9 Das französische Original erschien in Paris bei den exklusiven Editions de Minuit. Es besteht im Grunde nur aus einigen Auszügen aus der Spinoza-Untersuchung.


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sche-Studie vom Jahre 1962 schlug Deleuze den Grundtenor an, indem er Spinoza in eine Tradition plazierte, die in Nietzsche gipfeln soll: "Lukrez, der die Störung der Seele aufdeckte und jene bloßstellte, die dieser Störung bedürfen, um ihre Macht zu festigen — Spinoza, der den Trübsinn und dessen Ursachen aufdeckte und schließlich jene anprangerte, die inmitten dieses Trübsinns ihre Macht errichten — Nietzsche, der das Ressentiment, das schlechte Gewissen und die Macht des Negativen bloßstellte, die ihnen zugrunde liegt". 10 Somit schließen Spinozas praktische Thesen, die seine Philosophie zum Skandal gemacht haben, "eine dreifache Anklage ein: die des 'Gewissens/ Bewußtseins', die der Werte' wie der 'trübsinnigen Leidenschaften'. Hier liegen die drei großen Ähnlichkeiten mit Nietzsche". 11

Carlo Vinti gesellt Deleuze also zurecht anderen "nietzscheanisierenden" Spinoza-Deutern zu, vor allem Antonio Negri. 12 Beiden ist zudem eine scharfe kritische Ablehnung der Dialektik gemeinsam; laut Deleuze ist dies sogar die Form des Philosophierens, die er am meisten hasst. 13 Aber während Negri noch im Kielwasser des Marxismus — wenn auch eines voluntaristisch geprägten — segelt, ist die Hermeneutik Deleuzes viel eigenwilliger. Um aus Spinoza einen Vor-Nietzsche zu stilisieren, bedient er sich der Methode, daß er sich angeblich nur auf das Authentische beim dargestellten Klassiker stützt, aber diesem zugleich "Gleitbewegungen, Brüche, geheime Absonderungen" unterschiebt.

Ein Beispiel: Deleuze zeigt zuerst ganz richtig, wie Spinoza in seiner Ethik die menschlichen Leidenschaften analysiert, wenn er ein trostloses Bild der im leidenden Zustand lebenden Menschen malt. Aber dann folgt die Deutung, die "Gleitbewegung": Tatsächlich mache Spinoza nach Deleuze nichts anderes, als Nietzsche zwei Jahrhunderte später. Schon Spinoza "zeichnet das Porträt des Ressentiment-Menschen", der von trübsinnigen Leidenschaften zum Haß gegen das Leben gebracht wird 14


vom Jahre 1968, die um einen "Index der Grundbegriffe der Ethik" ergänzt worden sind. 1988 kam eine deutsche Übersetzung "Spinoza — Praktische Philosophie" (auch diese beim Merve Verlag, West-Berlin) heraus, auf die ich mich in der Folge beziehen werde. Die Übersetzung hat leider ihre Mängel, die ich gegebenenfalls nach dem Original korrigiert und in Fussnoten vermerkt habe.

10 Deleuze 1985, S. 205 (das französische Original: Nietzsche et la philosophie, Paris 1962).

11 Ebd. S. 27.

12 Vinti 1984, S. 155.

13 Deleuze 1980, S. 12.

14 Deleuze 1980, dt. Übersetzung, S. 37.


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Darauf würde ein borniert-gewissenhafter Spinoza-Forscher allerdings erwidern, daß der wirkliche Spinoza — anders als Nietzsche - nie in herabsetzender Weise von den unter der drückenden Last der Leiden lebenden Menschen gesprochen habe. "Denn wenn es auch unwissende Menschen sind, so sind sie doch Menschen" (Eth. IV.70 schol.). Eben weil nach Spinoza alle Menschen die gleiche Möglichkeit zur Bildung adäquater Ideen und damit auch zur Vervollkommnung haben, kann man in seiner Philosophie die Menschheit nicht nietzscheanisch in unvermittelt nebeneinander stehende "Ressentiment-Menschen" und "Herren" teilen.

Doch würde Deleuze eine derartige Kritik wahrscheinlich nur mit einem Achselzucken quittieren: er ist nicht primär um eine historisch treue Widergabe der Ideen Spinozas bemüht. Michael Hardt verteidigt den deleuzianischen Lektüre-Typus mit der Bemerkung, er wähle zum Gegenstand seiner jeweiligen philosophischen Studie nur "eine sehr spezifische Frage, die seine Sichtweise fokussiert und bestimmt". 15 Dies müsse man in Betracht ziehen, damit die verschiedenen Projekte nicht vermengt werden. 16 Zugleich aber positioniert auch Hardt Deleuzes Oeuvre in den Rahmen des Poststrukturalismus und betrachtet die Frage: "How to evade a Hegelian foundation?" als grundlegend 17.

Diesbezügliche Leitmotive wird der Leser bei Deleuze aber nur mühselig herausfinden, falls er sich lediglich auf die Lektüre einzelner Werke beschränkt. Für unser Interesse an der Spinoza-Monographie ist es daher ratsam, die zur gleichen Zeit erschienenen Texte Différence et répétition (1968 hier fortan als Deleuze 1968b zitiert) und Logique du sens (1969) in die Betrachtung miteinzubeziehen, zumal sie alle eine Einheit bilden: das erstgenannte Buch ist der Hauptteil der Habilitation Deleuzes, während die Spinoza-Arbeit den zweiten Teil ausmacht. Alle drei Werke haben ein gemeinsames philosophisches Programm — eine Logik der Differenz zu entwerfen, die sich subversiv versteht. In den späteren Arbeiten Deleuzes, ins-


15 Hardt 1993, S. 22.

16 Ebd. S. 23.

17 Ebd. S. x. Im französischen Postmodernismus sei Deleuze nach Hardt "the most important example to consider [...], because he mounts the most focused and precise attack on Hegelianism". Doch entgehen Hardt auch verwandtschaftliche Züge nicht: "in his effort to establish Hegel as a negative foundation for his thought, Deleuze may appear to be very Hegelian" (ebd. S. xi). Über die Aporien eines der artigen antidialektischen Begründungsversuchs der Seinsproblematik, der dazu führt, daß die Dialektik doch in Gestalt des "Anderen" sich geltend macht, siehe die Abschnitte 13 und 14.


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besondere in Anti-Oedipe (1972) und Mille Plateaux (1980), die er zusammen mit Félix Guattari verfaßt hat, ufert diese "Differenzphilosophie" dann in eine Theorie vom energetischen Flux aus, die an eine radikalisierte Neuauflage des Vitalismus Bergsons erinnert. Bei der Verwirklichung dieses Programms ist Spinoza letzten Endes bloß die Rolle eines Statisten zugedacht.

Ungerecht wäre es aber, bei Deleuze nur eine Absicht zum "épater le bourgeois" zu vermuten. Was er tut, ist programmatisch. Er arbeitet aus der Überzeugung heraus, daß die bisherige akademische Philosophiegeschichtsschreibung eine repressive Rolle gespielt hat. Im Vorwort zu Differérence et répétition erklärt er: "Die Suche nach neuen philosophischen Ausdrucksmitteln wurde von Nietzsche eingeleitet und muß heute entsprechend den Neuerungen in manchen anderen Künsten, im Theater oder im Film etwa, fortgesetzt werden [...] Die Philosophiegeschichte muß, wie uns scheint, eine ganz ähnliche Rolle wie die Collage in einem Gemälde übernehmen [...] Man sollte dahin gelangen, ein wirkliches Buch der vergangenen Philosophie so zu erzählen, als ob es ein imaginäres und fingiertes Buch wäre."

Die neuartige Philosophiegeschichte vergleicht Deleuze mit den imaginären Büchern in den Novellen des Jorge Luis Borges, der auch wirkliche Bücher, wie beispielsweise Don Quixote, als imaginäres Buch behandelt; dank solcher Interpretation werden die Texte eine "Doppelexistenz" führen und "einem doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Textes entsprechen". 18

Die "provokativen", doppelbödigen Interpretationen klassischer Autoren sollten Deleuze zufolge einem emanzipatorischen Zweck dienen, um eben eine "Kultur der Freude" zu fördern und die Macht zu denunzieren. 19 Seine dabei angewandte methodische Spezialität besteht darin, aus verschiedenen Denkern das herauszuschälen, was den Rationalismus in Frage stellt. 20 Dementsprechend findet er auch bei Spinoza neben und hinter dem vernünftelnden Gerüst von Definitionen, Propositionen und Demonstrationen eine zweite, "vulkanische und diskontinuierliche" Kette der Schoben. 21 In


18 Deleuze 1968b, dt. Ü., S. 14.

19 Deleuze 1980, S. 12.

20 So wird Deleuze treffend charakterisiert z.B. von Krause-Jensen 1983, S. 41.

21 Deleuze 1980, S. 83 (französisches Original in: Revue de synthèse, janvier 1978; die zitierte Stelle fehlt in der Neufassung in: Spinoza — Philosophie pratique). — Der US‑amerikanische Philosoph Harry Austryn Wolfson stellte schon 1934 eine


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der Ethik gebe es also so etwas wie einen Freudschen Dualismus zwischen rationalem Über-Ich und chaotisch-tobendem Es, wobei das letztere der Träger der Emanzipation wäre. Deleuze scheint hier ebensosehr am Romantischen in den Ideen des Mai '68 fixiert zu sein, wie daran, die bekannte Nietzschesche Dualität von Apollinischem und Dionysischem zu reproduzieren.

3. Exkurs: Vom Rationalismus Spinozas

Der deleuzianische Spinoza aktualisiert abermals die Frage nach den Grenzen der Rationalität. Es stimmt, daß Spinoza, den Martial Gueroult einen "absoluten Rationalisten" nannte 22, die Rahmen des Rationalismus sprengt und so einen "Skandal in der Metaphysik" auslöst.

Die dabei entstandenen Aporien können wir in Anlehnung an Wolfgang Rod folgendermassen charakterisieren: Wenn Spinoza sich anschickt, "aus reiner Vernunft eine Metaphysik zu entwickeln, deren Aussagen etwas über die Realität besagen sollen", so liegt darin ein Widerspruch. Ein System absolut erfahrungsunabhängiger Aussagen kann niemals Informationen über die Wirklichkeit bieten; will man also über die Realität etwas aussagen, müssen empirische Voraussetzungen gegeben sein.

Das rationalistische Programm erweist sich also, sobald es zu Ende gedacht wird, als unmöglich und die Schwierigkeiten, auf die Spinozas Ver-


Deleuze sehr ähnliche These von den "zwei Spinozas" auf. Der erste, explizite ("den wir Benedictus nennen werden") rede in den Definitionen, Axiomen und Propositionen; der andere wiederum ("den wir Baruch nennen") schimmere dann und wann in den Scholien hervor und bediene sich mittelalterlichen Gedankenguts (vgl. The Philosophy of Spinoza, vol. I. 1962, Vorrede, S. VII).

22 Schon Martial Gueroult hob hervor, wie "le rationalisme absolu est ce qui distingue Spinoza des trois autres grands du rationalisme classique". Bei Descartes bleibt der Gott letzlich unverständlich; auch für Malebranche ist Gott "caché, inconnu, invisible"; und nach Leibniz ist es dem Menschen nicht gegönnt, zur erschöpfenden Erkenntnis vom absolut-unendlichen Gott zu gelangen. Mit seiner Lehre von den adäquaten Ideen setzt Spinoza die Akzente radikal anders (vgl. Gueroult 1968:I, S. 9 f.). Es ist Gueroult vollständig zuzustimmen, wenn er den Spinoza-Deutern den Rat gibt: "L'affirmation spinoziste, primordiale, de la totale intelligibilité des choses, spécialement de l'absolue compréhensibilité de Dieu, offre le plus sûr des fils d'Ariane" (ebd. S. 13).


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such stösst, "sind nicht subjektiver Art, sondern system-immanent". 23 Spinozas Scheitern war, laut Röd, unvermeidlich, obgleich "an der Grösse seines Versuchs [...] nicht zu zweifeln" sei. 24

Ich habe hier oben Rods Kritik an Spinozas Rationalismus wiedergegeben, weil mir darin eine ziemlich weit verbreitete Ansicht ihre beste Formulierung gefunden zu haben scheint. Es ist dies meines Erachtens eine Ansicht, die Spinoza nicht ganz angemessen beurteilt. Das Programm des reifen Spinoza ist nicht mit dem Versuch gleichzusetzen, "aus reiner Vernunft zur Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen" 25, schon deswegen nicht, weil es für die Vernunft in der Tat unmöglich ist, "rein" hervorzutreten: Sie ist immer notwendig von Freude und Liebe begleitet (vgl. III. 53, V. 15).

Um Spinoza als einen Wahrheitsabsolutisten darzustellen, zitiert Röd vorzugsweise aus einer früheren Arbeit Spinozas, dem Tractatus de intellectus emendatione, und berücksichtigt nicht die Differenzen zwischen diesem und der Ethik. Spinoza vertrat im Tractatus tatsächlich noch die Ansicht, die richtige Methode bestünde darin, "cognitio reflexiva" oder "idea ideae" zu sein. Hier gab Spinoza zwei Ausgangspunkte für die Methode an: erstens, daß es in uns eine eingeborene "idea vera" gibt, und zweitens, daß die Seele, um zur Erkenntnis zu gelangen, das vollkommenste Wesen, d.h. Gott reflektiert (vgl. G II, 15-16). Dies ist de facto reinster Rationalismus. Spinoza fügt zwar nach einigen Zeilen hinzu: "idea omnino cum sua essentia formali debeat convenire". Aber diese Forderung nach dem Inhalt der Idee — daß sie sich "formaliter" ähnlich verhalten muß, wie "objective" — steht schon implizit in Widerspruch zum Programm des reinen Rationalismus (wie Röd ihn interpretiert), weil das einzig denkbare Verhältnis zwischen "Formellem" und "Objektivem" nur das der Korrespondenz sein kann.

Doch bleibt der Widerspruch im Tractatus noch ungelöst das empiristische Element, oder die als Korrespondenz begriffene Wahrheit spielt hier deutlich eine unterlegene Rolle gegenüber dem rationalistischen Erkenntnisprinzip. Spinoza fährt nämlich unmittelbar nach dem Gesagten fort, daß die menschliche Seele "alle ihre Ideen aus derjenigen ableiten muß, die den Ursprung und die Quelle der ganzen Natur darstellt", also aus der Idee Gottes, die "fons caeterarum idearum" ist (G II, S. 17). Erst in der Ethik er-


23 Röd 1985, S. 108 f.

24 Ebd. S. 111.

25 Ebd. S. 108.


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fährt das empiristische Element der Erkenntnis eine Rehabilitation. Das Axiom 6 des ersten Teils besagt, daß die wahre Idee ihrem Gegenstand entsprechen muß (convenire debet). Hatte Spinoza noch im Tractatus die Wahrheit und Adäquatheit identifiziert (G II, S. 28: "cogitationes veras, sive adaequatas"), unterscheidet er in der Ethik zwischen inneren und äußeren Kennzeichen der Wahrheit (II, def. 4). Diese Doppeltheit von Adäquation und Korrespondenz ist für die Ethik konstitutiv. 26

Das bedeutet: der reife Spinoza versucht gar nicht, wie Röd meint, nur "aus reiner Vernunft" zur Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen. Wäre dem so, bliebe unverständlich, warum er in der Ethik nachdrücklich einschärft, daß die menschliche Seele erst dadurch konstituiert wird, daß sie die Idee eines aktual existierenden Einzeldinges bildet (II.11). Auch Röd bemerkt, daß Spinoza empiristische Prämissen in das Argumentationsgewebe der Ethik einflicht, 27 und deutet dies dann als "Preisgabe des rationalistischen Erkenntnisideals". 28

Eine andere, und meines Erachtens auch mehr plausible Auslegung gibt Wolfgang Bartuschat. Er konstatiert, daß das metaphysische Interesse bei Spinoza gar nicht vordergründig gewesen ist. "Vielmehr ist es das Interesse am Menschen, das die Metaphysik der absoluten Substanz selber bestimmt [...] Die Ethik basiert nicht auf einer ihr vorausgehenden Metaphysik [...] Sondern Probleme der Ethik [...] sind es, die eine Metaphysik erforderlich machen". 29

Im ersten Teil der Ethik, der von Gott handelt, ist "überhaupt von keinem Inhalt die Rede": hier entfaltet Spinoza lediglich die Strukturen, die "den Satz, daß alles, was ist, aus Gott folgt, beweisfähig machen". 30 Die Empirie thematisiert er zum ersten Mal in den Axiomen des zweiten Teiles, die u.a. besagen, daß der Mensch denkt (ax. 2) und der menschliche Körper auf vielerlei Weisen affiziert werden kann (ax. 4). Erst die Einführung dieser nicht deduzierbaren Tatbestände gibt, wie Bartuschat bemerkt, der attributiven Gliederung Gottes eine Inhaltlichkeit. 31


26 Vgl. zudem, was vom "Erkenntnis-Utopismus" des Tractatus und dessen Überwindung in der Ethik im Althusser-Essay (Fussnote 120, auch Fussnote 74) gesagt wird.

27 Röd, a.a.O., S. 107 f.

28 Ebd. S. 108.

29 Bartuschat 1991, S. 15 f.

30 Ebd. S. 16.

31 Ebd. S. 16.


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Mit anderen Worten, Spinozas Philosophie zeigt sich in der Ethik in ihrer konkreten Gestalt als eine Synthese von einer rationalistischen und empiristischen Komponente. Ein Vergleich zu Kant drängt sich hier natürlich auf, obgleich der realistisch-materialistische Ansatz Spinozas zu einer andersartigen Synthese als der Aphorismus Kants führt: waren es bei Kant letzten Endes unerkennbare Dinge an sich, die hinter dem sinnlichen "Stoff der Erkenntnis liegen, so stehen für diese bei Spinoza noch unbefangen die formalen Wesenheiten, die dem entsprechen, was in den Ideen "objective" gegeben ist.

Die Behauptung Gueroults, daß Spinoza ein absoluter Rationalist sei, muß also modifiziert werden. Man kann Gueroult jedoch fortwährend in dem Punkt zustimmen, daß der sicherste "Ariadne-Faden" zum Verständnis Spinozas darin liegt, daß dieser — im Gegensatz zu den anderen Rationalisten des 17. Jahrhunderts, und auch zu Kant — die Dinge für durchgängig intelligibel hielt. 32 Aber Spinoza hat dennoch kein komplettes, bis in alle Einzelheiten durchdachtes metaphysisches System liefern wollen. Gueroult scheint in seiner sonst so beachtenswerten Studie hier von der nicht ganz stichhaltigen Annahme auszugehen, Spinoza habe eine "Darstellung Gottes" wie es die Hegelsche Logik war, im Sinne gehabt, und nur sein frühzeitiger Tod hätte ihn daran gehindert, sie zur Ausführung zu bringen. Gueroult versucht dies wirklich im Namen Spinozas zu tun und das System zu rekonstruieren; in dieser Rekonstruktion besteht im wesentlichen die Hauptmasse der zwei eindrucksvollen Bände seines Spinoza-Buchs.

Man soll auch bedenken, daß Spinoza vor allem eine Philosophie "ad usum vitae" (Eth. II.49 schol., ad fin.) beabsichtigte. Darum setzt er die Deduktion aus Gott nach dem ersten Teil der Ethik nicht mehr fort, sondern wechselt die Perspektive. "An die Stelle einer Deduktion", schreibt Bartuschat, "tritt in den folgenden Teilen der Ethica ein Verfahren, das zeigt, unter welchen Bedingungen der spezifischen Verfassung des Menschen der Mensch überhaupt ein Seiendes sein kann, das aus sich heraus tätig ist und nicht nur von etwas ihm Äußeren abhängig bleibt". 33

In dieser Hinsicht ist es berechtigt, zu sagen, daß der Spinozismus nicht nur ein Rationalismus, sondern auch eine Lebensphilosophie ist, die zeigen will, wie der Weise "ea tantum agit, quae in vita prima esse novit" (IV.66 schol.). Somit ist auch die Deutung Deleuzes, wo eben die "lebensphiloso-


32 Siehe Fussnote 22.

33 Bartuschat, a.a.O., S. 19.


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phischen" Aspekte des Spinozismus als "philosophie de la joie" 34 und des "Heils" 35 in den Vordergrund gerückt werden, in ihrer Grundintention keineswegs abwegig. Problematisch wird sie erst, wenn dieser humane Standpunkt im Spinozismus im Sinne der Lebensphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts (einer nietzscheanischen Ethik oder Bergsonschen Ontologie 36) uminterpretiert wird.

Gegen eine solche Deutung ist grundsätzlich zu bemerken, daß der Perspektivenwechsel nach dem ersten Buch der Ethik keine Absage an die rationalistischen Prinzipien bedeutet; im Gegenteil, die "Theorie des an einem adäquaten Erkennen orientierten Handelns des Menschen bedarf einer Theorie der unbedingten Substanz, die in Teil 1 der Ethica entwickelt wird". Nur müssen die weiteren Teile den endlichen Modus Mensch thematisieren, weil "an dessen Sein erst zu erweisen ist, inwiefern die metaphysische Theorie der Substanz eine Theorie von leistungsfähiger Erklärungskraft ist". 37

Spinoza ist überzeugt, daß seine Theorie erklärungsfähig ist, sonst hätte er nicht Albert Burgh antworten können: "Ego non praesumo, me optimam invenisse Philosophiam; sed veram me intelligere scio" (G IV, S. 320). In diesen Worten zeigt sich kein Bewußtsein von einem "Scheitern", das Röd bei Spinoza hat sehen wollen.

Die Frage ist nun, ob das spinozistische Skandalieren in der Metaphysik tatsächlich einem subversiven Anarchismus nach dem Munde redet, wie seine deleuzianische Interpretation als "philosophie de l'affirmation pure" 38 uns versichert.

II.

Ohne sorgfältige Vorbereitungen gelingt es Deleuze nicht, Spinoza vor den Karren seiner Differenz-Logik zu spannen. Das Spinoza-Buch vom Jahre


34 Deleuze 1968a, S. 251; dt. Ü. S. 241.

35 Ebd. S. 298; dt. Ü. S. 283.

36 Sehr klar skizziert Hardt dieses philosophiegeschichtliche Spannungsfeld: "With Bergson, Deleuze develops an ontology. With Nietzsche, he sets that ontology in motion to constitute an ethics. With Spinoza, we will take a further step in this evolution, toward politics" (Hardt ebd. S. 57).

37 Bartuschat, a.a.O., S. 20.

38 Deleuze 1968a, S. 251; dt. Ü., S. 241.


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1968 bedient sich schon auf den ersten hundert Seiten folgender Szenarien: 1) der Konstruktion einer besonderen "spinozistischen" Realdistinktion; 2) der Annäherung Spinozas an die Univozität-Lehre des Duns Scotus; wie 3) dem Insistieren auf der expressiven Natur der Substanz.

Betrachten wir alle diese Operationen in derselben Ordnung, wie sie uns in Deleuzes Darstellung begegnet.

4. Spinozistische und Cartesische Distinktionslehre

Deleuze eröffnet seine Spinoza-Betrachtungen mit der Frage, was unter einem Unterschied (distinctio) zu verstehen sei. Anhand der Analyse der neun ersten Propositionen des ersten Buches der Ethik meint Deleuze, daß Spinoza hier vor allem zur cartesianischen Lehre von den Distinktionen eine kritische Distanz einnimmt. In der Principia philosophiae lehnt Descartes die in der früheren Scholastik gebräuchlichen zahlreichen Distinktionen ab und reduziert sie auf drei: reale, modale und Vernunftdistinktion. Die Anzahl (numerus) der Dinge entsteht durch diese Distinktionen. Eine reale Distinktion gibt es nur zwischen zwei oder mehreren Substanzen: sie bedürfen keiner außer ihnen befindlichen Dinge, um zu existieren. Eine modale Distinktion gibt es entweder zwischen einem Modus und der Substanz, oder dann zwischen zwei Modi derselben Substanz. Die Vernunftdistinktion (distinctio rationis) endlich ist eine solche Unterscheidung, die man zwischen Gedankenobjekten macht (Princ. Phil. I, її 60 — 62).

Deleuze weist auf die bekannte Tatsache hin, daß ihm der Status, den Descartes der Realdistinktion einräumt, Schwierigkeiten bereitet. In den Principia sagt er, daß Denken und Ausdehnung auf zweierlei Weise begriffen werden können: entweder als zwei realiter unterschiedene Substanzen (I, ї 63), oder dann nur als Modi einer Substanz, die sich nur modaliter voneinander unterscheiden (I, ї 64). Descartes optiert in seiner Philosophie für die erste Alternative, obgleich sie zum schwer lösbaren Leib-Seele-Dualismus führt. Doch wird seine Distinktionslehre noch zusätzlich dadurch verkompliziert, daß er auch andere Substanzen annimmt, die ein gemeinsames Attribut haben (I, ї 60, vgl. auch II, ї 55). 39

Angesichts dieser Probleme ist es durchaus angebracht, daß Spinoza die Ethik mit einer kritischen Revision der Distinktions- und Substanzlehre sei-


39 Z.B. spricht Descartes in der dritten Meditation - in die scholastische Terminologie zurückfallend davon, daß man einen Stein ebenso gut für eine Substanz halten kann wie einen denkenden Menschen.


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nes Vorgängers eröffnet. Insofern kann man Deleuze zustimmen, wenn er schreibt, "l'anti-cartesianisme de Spinoza trouve une de ses sources dans la théorie des distinctions". 40 Die Frage nach dem Status der Realdistinktion ist zentral. Indem Spinoza in Prop. I.11 endlich nach einer langen Beweisführung Gott als die einzige Substanz setzt, die aus unendlich vielen Attributen besteht, befreit er sich mit einem Schlag von der lästigen Realdistinktion, die Descartes und den Cartesianern einen unerwünschten Dualismus erzeugte. Descartes blieb in seiner Ausmerzung von scholastischen Distinktionen noch auf halbem Wege stehen; Spinoza reduziert ihre Anzahl auf zwei. Weil es nur eine Substanz geben kann, sind alle nach der Lehre Spinozas praktisch möglichen Distinktionen entweder modale, oder dann solche der Vernunft

Die Realdistinktion verschwindet aber nicht spurlos, sondern führt in der Lehre von den Attributen noch ein Schattendasein. Spinoza definiert das Attribut als "dasjenige, was der Intellekt an der Substanz als deren Wesen ausmachend wahrnimmt". Und im Scholion zu I.10 sagt er, daß "zwei Attribute als tatsächlich verschieden gedacht werden" (realiter distincta concipiantur). Dies ist nicht so zu verstehen, daß Spinoza die cartesische Lehre von der Realdistinktion wieder inkonsequent bei der Hintertür hereinläßt. Entscheidend ist nämlich, daß die Realdistinktion zwischen Attributen nur "gedacht wird"; sie reduziert sich somit zu einer Art Vernunftdistinktion, und man kann sich, wenn man will, ihrer als eines "auxilium intellectus" bedienen.

Eben an dieser Stelle setzt Deleuze zu einer Gleitbewegung an. Er zitiert aus Scholion I.10 denselben Satz wie wir, bestreitet aber, daß der Ausdruck "realiter distincta concipiantur" einen "abgeschwächten Gebrauch der Realdistinktion" intendiert. Nach ihm will Spinoza keineswegs die Realdistinktion nur hypothetisch oder polemisch anwenden. Im Gegenteil, sie ist bei ihm ebenso wichtig wie bei Descartes. Deleuzes Begründung lautet: die Realdistinktion ist, als Gedachtes, immer "une donnée de la représentation". 41 So habe auch Descartes die Realdistinktion verstanden. In den Principia schrieb er in Hinblick auf zwei oder mehrere Substanzen: "percipimus a se mutuo realiter esse distinctas, ex hoc solo, quod unam absque altera clare et distincte intelligere possumus" (Princ. Phil. I, ї 60;


40 Deleuze 1968a, S. 31; dt. Ü. S. 37.

41 Ebd. S. 28; in der deutschen Übersetzung wird diese "représentation" ungenau als "Vorstellung" widergegeben (S. 35).


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Hervorhebungen von V.O.). Die Realdistinktion sei demnach schon bei Descartes ein ähnliches "Gedankending" wie bei Spinoza. 42

Obgleich Deleuze eine feinsinnige Analyse vorlegt, hat er ein Detail übersehen. Nach Spinoza wird die Substanz nicht nur durch sich begriffen. Sie ist zudem in sich (I. def. 1: "in se est, & per se concipitur"). Das heißt, die Suisuffizienz, wodurch die Realdistinktion konstituiert wird (denn nur suisuffiziente Entitäten können realiter voneinander unterschieden sein), ist nicht nur im Denken, sondern auch im Sein begründet. Und wiewohl wir mit dem Gedanken spielen können, daß es mehrere Substanzen gibt, obwohl es tatsächlich nur eine Substanz gibt, so folgt daraus doch nicht, daß eine Realdistinktion im ontologischen Sinne möglich ist.

Aus dem Kontext der cartesianischen Lehre wird zudem klar, daß Descartes, wenn er vom "Wahrnehmen" der realen Distinktion spricht, keineswegs behaupten will, die Realdistinktion sei nur eine "objective", im Bewußtsein des erkennenden Subjekts gemachte Unterscheidung. Wenn er das nämlich wirklich behauptet hätte, würde daraus automatisch folgen, daß es nur eine Substanz geben kann, d.h. Descartes wäre zur Position Spinozas übergegangen. Demgegenüber ist für Descartes wohl der Unterschied zwischen den Begriffen der Substanz einerseits und des Denkens und der Ausdehnung andererseits eine bloße Vernunftdistinktion (Princ. Phil. I, ї 63). 43

Doch gibt es nach Deleuze bei Descartes und Spinoza einen wesentlichen Unterschied zwischen den Begriffen der Realdistinktion. Er besteht darin, daß die Realdistinktion bei Spinoza niemals numerisch ist; dies ist laut Deleuze sogar "eines der wichtigsten Anliegen der Ethik". 44 Wie ist es also möglich, realiter unterschiedene Attribute in einer Substanz zu setzen, ohne sie numerisch zu unterscheiden? Dies ist das Problem. Deleuze löst es folgendermassen: "Die Identifizierung des Attributs mit einer unendlich vollkommenen Substanz ist keineswegs [...] eine vorläufige Hypothese. Sie muß unter dem Gesichtspunkt der Qualität positiv interpretiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Qualität gibt es eine Substanz pro Attribut, unter dem Gesichtspunkt der Quantität jedoch nur eine Substanz für alle Attribute". Dies ist, wie Deleuze im nächsten Satz selbst gesteht, eine


42 Ebd. S. 28: "A cet égard Spinoza ne diffère nullement de Descartes"; dt. Ü. S. 35.

43 "...in abstrahenda notione substantiae a notionibus cogitationis vel extensionis, quae scilicet ab ipsa ratione tantum diversae sunt" (Hervorhebungen von mir V.O.).

44 Deleuze 1968a, S. 31; dt. Ü. S. 38.


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"dunkle Formulierung", 45 doch besteht die Grundthese darin, daß die Realdistinktion bei Spinoza einen qualitativen Status 46 habe, keinen numerisch-quantitativen.

"Wesentlich ist der neue Status der realen Unterscheidung: als rein qualitative, quidditive oder formale schließt die reale Unterscheidung alle Teilung aus", fährt Deleuze fort. Nun ist er auch bereit, Spinozas Realdistinktion neu zu benennen: eigentlich sei sie dasselbe wie die (von Duns Scotus eingeführte) formale Distinktion. 47 "Strikt getrennt von jeglicher numerischen Unterscheidung wird die reale Unterscheidung ins Absolute getragen. Sie vermag die Differenz im Sein auszudrücken". 48

Sehr "deleuzianisch" wird hier einer scheinbar akriben und vorlagetreuen Textanalyse eine solche Interpretation zugesellt, die sich in der authentischen Lehre Spinozas wie ein aufgepfropfter Fremdkörper ausnimmt. Natürlich gibt es bei Spinoza keine numerisch verschiedenen Substanzen mehr, und daß es nur eine Substanz gibt, ist natürlich "eines der wichtigsten Anliegen der Ethik". Dem Leser wird aber nicht sogleich klar, warum Deleuze dessen ungeachtet die Benennung "Realdistinktion" beibehalten will. 49 Im Spinozismus hat sie ja ihre eigentliche Funktion verloren. In der Ethik bedient sich Spinoza dieses Terminus nicht ein einziges Mal, und auch in seiner Cogitata metaphysica, die eine Beilage zur Darstellung der Ideen Descartes' ist und wo die Kritik am Cartesianismus nicht explizit hervorgehoben wird, ist nur ganz beiläufig von der distinctio realis die Rede.

Ich habe oben die von Deleuze dargebotene Darstellung der Distinktionslehren Spinozas und Descartes so genau analysiert, weil er eben damit seine "Philosophie der Differenz" begrifflich untermauert. Wie weiter unten dargelegt werden wird, sucht Deleuze mit einem solchen Differenzbegriff zu arbeiten, der keine Negation involviert. Michael Hardt faßt die Intention seines Meisters präzis zusammen: "Dieser eigenmächtige und tendenziöse Gebrauch von der 'Realdistinktion' soll unsere Aufmerksamkeit auf das originelle Differenz-Konzept Deleuzes lenken [...] Die reale Unterscheidung ist bei Descartes relational (es gibt einen Unterschied zwischen x und y);


45 Ebd. S. 30; dt. Ü. S. 37.

46 Ebd. S. 31; dt. Ü. S. 38.

47 Ebd. S. 31; dt. Ü. S. 37.

48 Ebd. S. 32; dt. Ü. S. 38.

49 So sieht Hecker (S. 157) in dieser Idee einer nichtnumerischen reellen Verschiedenheit von Seinsweisen einen "sachlich in der Tat schwer einsichtig zu machenden Gedanken".


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oder, genauer, sie stellt einen Differenz-Begriff vor, der gänzlich auf Negation begründet ist (x unterscheidet sich von y). Spinozas Herausforderung liegt darin, den relationalen bzw. negativen Aspekt der Realdistinktion abzustreifen. Statt die reale Unterscheidung als 'einen Unterschied zwischen' oder 'eine Differenz von' vorzustellen, will Spinoza die Realdistinktion in sich identifizieren (es gibt einen Unterschied in x; oder vielmehr, x ist different)". 50 Es versteht sich von selbst, daß der Cartesische Differenz-Begriff zugleich der Hegelsche ist.

5. Scholastische Distinktionen vs. neuzeitliches Wissenschaftsverständnis

Wo Deleuze die spinozistische und (angeblich) reale Distinktion mit der formalen gleichsetzt, nähert er Spinoza der Scholastik an. Spinoza wäre somit von den antischolastischen Positionen von Descartes wieder abgerückt. In den Primae objectiones schlug ein Theologe Descartes vor, das Verhältnis von Körper und Seele mit dem Begriff der formalen Distinktion zu charakterisieren. Diese Distinktion setze nämlich "ein vermittelndes Glied zwischen der realen und der Vernunftdistinktion" und würde den sonst zu schroffen Unterschied zwischen Cogitatio und Corpus mildern.

Descartes lehnte ab. Höflich aber entschieden stellte der Philosoph fest: "Was die formale Distinktion betrifft, die der gelehrte Theologe aus Scotus genommen hat, sage ich kurz, daß sie sich nicht von der modalen unterscheidet und nur unvollständigen Wesen zugehört". Es ließe sich zwar sagen, daß es z.B. zwischen der Bewegung und der Figur eines Körpers eine formale Distinktion gebe, da wir sehr gut die Bewegung und die Figur unabhängig voneinander begreifen können. Aber dies käme ja einer modalen Distinktion gleich. 51

Eine solche Haltung folgt zwanglos aus der Grundeinstellung des Cartesianismus, den Subjekt-Objekt-Gegensatz möglichst weit, auf zwei autarke Substanzen zu reduzieren. Von diesem Standpunkt aus gesehen wird die distinctio formalis des Duns Scotus — ähnlich unzähligen anderen scholastischen Distinktionen - eine überflüssige façon de parler.

Nach Deleuze gelte dasselbe nicht für Spinoza, der eigentlich ein Krypto-Scotist sei: "In seiner Konzeption einer realen Unterscheidung, die keine numerische ist, findet man ohne Schwierigkeiten die formale Unter-


50 Hardt a.a.O., S. 61.

51 Des Cartes 1658, S. 60, 73 (Primae objectiones).


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scheidung des Scotus wieder. Darüber hinaus hört mit Spinoza die formale Unterscheidung auf, ein Minimum der realen Unterscheidung zu sein, sie wird zur ganzen realen Unterscheidung und gibt dieser einen exklusiven Status [...] Spinoza setzt die formale Unterscheidung wieder in ihre Rechte ein und gibt ihr darüber hinaus eine Tragweite, die sie bei Scotus nicht hatte. Die formale Unterscheidung erst gibt einen absolut kohärenten Begriff der Einheit der Substanz und der Pluralität der Attribute". 52

Um den Einfluß von Duns Scotus auf Spinoza zu dokumentieren, liefert Deleuze eines der wenigen philosophiehistorischen Exposés seines Buchs, allerdings mit dem mageren Resultat, daß Spinoza wahrscheinlich den Doctor subtilis nur aus Quellen zweiter Hand kannte, wenn überhaupt. Auch gesteht Deleuze, daß Spinoza niemals den Terminus "formale Distinktion" anwendet. Das sollte uns aber nicht kümmern, denn die formale und die reale Distinktion seien bei Spinoza in der Tat identisch. 53

Besonders eine Stelle in der Ethik, das Scholion 2 zu Prop. I.8, ist für Deleuzes Beweisführung wichtig. Dort hebt Spinoza gegen Descartes hervor, daß es, erstens, nur eine einzige Substanz von derselben Natur geben kann; und, das zweitens, wenn man von der Natur (d.h. von der Wesenheit) spricht, dies keine bestimmte Anzahl von Individuen einschließt, es gebe in der Substanz also keine numerische Distinktion. Die Individuen in numero gehören in die modale Welt. Demgegenüber gebe es zwischen den Attributen nach Deleuze eine reale Distinktion, die nicht numerisch ist. 54

Auf den ersten Blick scheint es, daß Deleuzes Konstruktionen bis zu einem gewissen Punkte plausibel sind: weil Spinoza den Cartesischen Dualismus bekämpfte, konnte man sich denken, daß sich der schroffe Charakter einer substanzbildenden Realdistinktion durch Einführung "schwächerer" Distinktionsformen entschärfen ließe — und entstammten sie auch der Vorratskammer der Scholastik, 55 die Cartesius sonst laut Spinoza mit Recht


52 Deleuze 1968a, S. 6 f.; dt. Ü. S. 59 f.

53 Ebd. S. 57; dt. Ü. S. 60.

54 Ebd. S. 27 f.; dt. Ü. S. 35.

55 Die scotistische Schule unterschied nicht weniger als vier verschiedene Grade der Distinktionen göttlicher Attribute, die, von den stärksten bis zur schwächsten aufgezählt, die folgenden sind: 1) distinctio essentialis - zwischen zwei aktuell existierenden Wesenheiten, z.B. Gott und die Kreaturen; 2) distinctio realis - zwischen zwei unterscheidbaren Dingen, z.B. eine Mauer und ihre Farbe; 3) distinctio formalis - zwischen zwei Objekten, deren quidditativen Begriffe verschieden sind; 4) distinctio modalis — zwischen einer Quiddität und ihren Grades (z.B. unendliche und endliche Weisheit). Vgl. Gilson 1952, S. 244 Fussn.


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getadelt hat (vgl. Eth. V. praef.). Eben aus diesem Grunde gab einer der ersten Rezensenten der Spinoza-Studie Deleuzes, Claude Troisfontaines, trotz seiner sonst kritischen Vorbehalte zu, daß "Deleuze ohne Zweifel Recht hat, wenn er Spinozas reale, aber nicht ontologische Distinktion der formalen Distinktion von Duns Scotus annähert". 56

Doch meldet sich dabei sogleich manch neues Bedenken an. Das erste ist von wissenschaftsgeschichtlicher Natur. Die angebliche Rehabilitierung der scotistischen Distinktionen passt nicht gut mit der bekannten Tatsache zusammen, daß Spinoza sonst das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis teilte.

Der alte, aristotelisch-scholastische Wissenschaftstyp war aufs engste mit der formalen Logik verbunden und sein Ideal war eine axiomatische Theorie. Die neuzeitliche Wissenschaft repräsentierte demgegenüber einen anderen Typ, den der analytischen Theorie, dessen Musterbeispiele die analytische Geometrie von Descartes und die analytische Mechanik des 18. Jahrhunderts waren. 57 Die analytischen Theorien operieren nicht mit Axiomen, wie z.B. die euklidische Geometrie, sondern mit mathematischen Gleichungen. Die analytischen Gleichungen, die irgendwelche Prozesse oder Zustände beschreiben sollen, sind wiederum erst möglich, wenn die zu erforschenden Gegenstände so homogenisiert werden, daß sie miteinander vergleichbar sind. So kommt Descartes eben durch eine Reduktion zu den "simplicissima et per se nota", die danach wieder als Ausgangspunkte für seine analytische Wissenschaft dienen. Deren Aufbau erfolgt dann von diesen einfachen Elementen zu immer komplexeren.

Wie Paul Lorenzen dies zuspitzt, ermöglicht es eine gute analytische Theorie grundsätzlich, alle Erscheinungen durch bloßes Rechnen auf dem Papier vorauszusagen, wenn man nur die mathematische Analyse beherrscht, d.h. nicht nur addieren und multiplizieren, sondern auch differenzieren und integrieren kann. "Mit den formal-logischen Operationen schien dies alles gar nichts zu tun zu haben. Die scholastische Logik erschien daher der neuzeitlichen Wissenschaft als ein Instrument, das bloß geeignet sei, unfruchtbar mit Worten zu streiten". 58

Descartes erhält die beiden Attribute Extensio und Cogitatio grundsätzlich durch Analyse. Im ersten Falle werden die mannigfaltigen Gegenstände


56 Troisfontaines 1974, S. 476.

57 Ich folge hier der konzisen und klaren Darstellung von Lorenzen 1974, S. 17 ff.

58 Ebd. S. 18.


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der physischen Welt zerlegt, bis man zur Ausdehnung als dem einfachsten gemeinsamen Nenner aller kommt. Erst der Begriff der Ausdehnung homogenisiert die Gegenstände so, daß man ihre Verhältnisse mit analytischen Gleichungen beschreiben kann. Ähnlich verfährt Descartes mit dem Bewußtsein. Die Dubito-Operation ist im Prinzip eine Analyse der Bewußtseinsinhalte, wo alles, was nicht zum reinen Denken gehört, ausgeschieden wird. Ausdehnung und Denken sind für Descartes Voraussetzungen des Quantums überhaupt. Sie sind homogene Medien zur Erfassung und Beschreibung aller möglichen Dinge überhaupt und werden durch das analytische Suchen nach den "simplicissima" konstituiert.

Von diesem methodischen Horizont aus gesehen nützt die scholastische Logik mit ihren Distinktionen nur wenig. Das Distinguieren als Denkoperation verhält sich zum analytischen Zerlegen sogar gegensätzlich, denn es multipliziert die Entitäten, anstatt sie alle auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Erst von dieser wissenschaftlichen Programmatik her wird Descartes' Unbehagen, die vielfältigen scholastischen Distinktionen zu übernehmen, völlig verständlich. Für die Scholastiker galt wie für Aristoteles, daß "das Seiende auf vielerlei Weise ausgesagt wird" (vgl. Met. VII.I.1, 1026a), Descartes wiederum kehrt dies um und will die zugrundeliegende (analytische) Einheit allen Seins entdecken. 59 Eine Distinktion kommt für ihn erst in Frage, wenn die Analyse nicht weitergehen kann, sondern zu den letzten einfachen, nicht mehr zerlegbaren Entitäten gelangt zu sein scheint. Erst diese Grenze des reduktiven Verfahrens konstituiert die Distinktion: falls die Analyse zu einer suisuffizienten Entität kommt, ist diese Substanz und grenzt sich durch die Realdistinktion aus; sofern es sich um andere "simplicissima et maxime generalia" Resultate der analytischen Abstraktion handelt, unterscheiden sich diese voneinander nun "modaliter" oder "ratione". Anderer Distinktionen bedarf die analytische Methode nicht

Eine andere Sache war es dann, daß Descartes von seiner analytischen Methode nicht immer überzeugenden Gebrauch machte. Begeistert von den


59 In dieser Hinsicht wäre es interessant, Descartes mit Parmenides zu vergleichen. Entgegen Heideggers Versicherungen, wonach Parmenides' Lehre vom Sein ("pin estin homoion") massgebend fürs abendländische Denken gewesen wäre, neigten sowohl die Antike als auch das Mittelalter eher der Ansicht von Aristoteles, der den Irrtum des Eleaten darin sah, daß er vom Sein nur "auf eine Weise" aussagen wollte (vgl. de Vries 1983, S. 70). Erst seit Descartes wird das Sein (oder genauer: die Objektivität) wieder zum "homoion", d.h. zur ausgedehnten Räumlichkeit reduziert.


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neuen Aussichten, die diese Methode zu versprechen schien, kommt Descartes zu übereilten Verallgemeinerungen und macht sich grober Reduktionismen schuldig, wie z.B. wenn er behauptet, Tiere seien nur Automaten (wobei das Spezifische im biologischen Organismus verloren geht), oder wenn er uns im Unklaren darüber läßt, ob die Ausgangspunkte seiner Physik geometrisch oder dynamisch sind. 60 Von Mersenne bedrängt, unterstrich Descartes zwar in den Responsiones ad secundas, daß die Analyse, wodurch der Gegenstand "tanquam a priori inventa est", mit einer entgegengesetzten synthetischen Verfahrensweise ergänzt werden kann, wobei man sich "tanquam a posteriori" an die Sache heranmacht. Bei der Synthese bedient man sich "longa definitionum, petitionum, axiomatum, theorematum, & problematum serie" so, daß alles "ex consequentibus" schon im Vorangegangenen enthalten ist.

Die Analyse ist also die Methode der Entdeckung, während die Synthese die der Darstellung des schon Gewonnenen ist. Obgleich Descartes dem Vorschlag Mersennes, seine Metaphysik modo geometrico, d.h. synthetisch darzustellen, nicht abgeneigt war, hielt er sich lieber an die analytische Methode. Für die Nachfolger bot sich hier also ein Defizit, das es zu beseitigen galt, und die Freunde Spinozas sahen in ihm den Mann, der dies leisten würde.

So schrieb Lodewijk Meyer in der Vorrede zu Spinozas Principia Philosophiae Cartesianae, daß Descartes' Methode von der des Euklid "sehr abweiche" (multum ab hac diversa) und in der Tat analytisch ist. "Ich habe oft gewünscht", setzt Meyer fort, "daß jemand, der sowohl in der analytischen als auch synthetischen Methode erfahren ist [...], die Hand ans Werk legen möchte und das, was dieser (sc. Descartes — V.O.) in analytischer Weise dargestellt, in die synthetische umarbeiten" würde. Und ein solcher Mann sei nun gefunden, nämlich "Author noster" Spinoza (G I, S. 129 ff.).

Für Meyer konnte es in der Vorrede von 1663 noch nicht klar sein, daß der Wechsel des methodischen Schwerpunkts nicht zu einem konsistenteren Cartesianismus führen würde, sondern zu einer davon abweichenden neuen Philosophie. Doch bleibt Spinoza programmatisch an seinen Vorgänger gebunden. Obgleich die Erkenntnis Gottes bei ihm synthetisch ist, findet er die Attribute als Resultate der schon von Descartes geleisteten analytischen


60 Falls nämlich die Ausdehnung die einzige grundlegende Eigenschaft der Körper ist, muß die Bewegung von außen her eingeführt werden: Gott gibt den ersten Anstoß. Zu den Aporien, die aus dem überstarken Reduktionismus Descartes' folgen, vgl. die Studie von Grosholz 1991.


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Arbeit vor. Dasselbe gilt von den Distinktionen. Spinoza greift nicht auf die Scholastik zurück, sondern wendet sich noch weiter von ihr ab, indem er die cartesianische Realdistinktion unter die distinctiones rationis subsumiert.

Der Strategie Spinozas ist leicht zu folgen in seiner Behandlung des Leib-Seele-Dualismus. Anfangs stellt er ganz cartesianisch fest, daß die Seele und der Körper einander nicht affizieren können. "Der Körper kann die Seele nicht zum Denken, und die Seele den Körper nicht zur Bewegung oder Ruhe oder sonst etwas bestimmen" (Eth. III.2). Die kausalen Wirkungen setzen sich nur im Rahmen eines jeden Attributs fort, so daß nur die Modi des Denkens das Denken determinieren und Bewegung wie Ruhe der Körper nur von einem anderen Körper ausgehen können (III.2 dem.). Die von Descartes analytisch gewonnenen Attribute schaffen auch für Spinoza Voraussetzungen für die wissenschaftliche Erklärung. Will man die Physik als Wissenschaft betreiben, müssen die Körper als quantifizierbare Entitäten einer Ausdehnung betrachtet werden können, ohne Beimischung irgendwelcher ihr fremder, geistiger Prinzipien. Auch Spinoza denkt Geist und Materie als verschieden und als aufeinander nicht reduzierbar.

Der Fehler Descartes' liegt lediglich darin, daß er diesen Unterschied als den von zwei Substanzen begriff; "er hatte gedacht", sagt Spinoza in der Vorrede zum fünften Buch der Ethik, "daß Seele und Körper so voneinander geschieden sind (Mentem a Corpore adeo distinctam conceperat), daß er weder für deren Einheit noch für die Seele selbst irgendeine einzelne Ursache angeben konnte, sondern genötigt war, auf die Ursache des ganzen Universums, also auf Gott, zurückzugreifen". Seine eigene Position legt Spinoza in den Prop. II.12 und II.13 dar: der Körper ist Gegenstand der menschlichen Seele, und insofern also sind Leib und Seele dieselbe Sache, die eine "formaliter", die andere "objective" betrachtet. Auch im Falle Spinozas figuriert Gott als letzte Garantie der Körper-Seele-Entsprechung, doch nicht insofern er unendlich ist, wie bei Descartes, sondern insofern er als mit einer anderen endlichen Modifikation affiziert betrachtet wird (vgl. II.12 dem., II.9, I.28 dem.).

Spinozas Strategie bei der Aufhebung der Cartesischen Realdistinktion bestand also nicht darin, sie in eine andere Distinktion umzutaufen. Es galt vielmehr, den Grund für die tatsächliche Einheit der distinkt gedachten Teile anzugeben. Die Attribute haben eine "Eigenschaft", die ihnen allen gemeinsam ist, trotz der sonst qualitativen Unterschiede, nämlich ihre Aseität (a se - "von sich selbst her"), das heißt, der Intellekt betrachtet die Attribute so, daß er sie durch diese selbst begreift (sie drücken nämlich ein-


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fache Wesenheiten aus, wo die zerlegende Analyse nicht mehr weiter schreiten kann; und ihre Letztbegründung ist nur selbstbezüglich zu denken). Diese über allen Attributen waltende Aseität zeigt nicht nur den Punkt an, wo die Analyse endet und die Bewegung der Synthese einsetzt, sondern weist auch auf ihren substantiellen Einheitsgrund. Diese Strategie steht in Einklang mit Spinozas Neigung zum Materialismus: statt einer verbalen Distinktion - denn in der Scholastik wurden die Unterscheidungen vor allem durch das Urteil fixiert, man sprach einem Subjekt das Prädikat ab — auf die Lösung des Problems in der realen Welt hinzustreben.

6. Die gnoseologische Rolle der Attribute

Des weiteren scheint auch Deleuzes Behauptung, daß Spinoza zwischen den Attributen eine Realdistinktion setze, 61 nicht nur zur These zu führen, daß die Substanz ein Konglomerat von Attributen sei — d.h. eine "multiplicité une" von substantiellen Qualitäten 62 - womit sich Gott gleichsam in den ihn konstituierenden Attributen auflöst -, sondern auch Spinozas eigene Meinung nicht sachgemäß widerzuspiegeln.

Schon in den Cogitata metaphysica von 1663 schrieb Spinoza in seinen Kommentaren zur Darstellung der Prinzipien cartesianischer Philosophie, daß Gott kein Zusammengesetztes sein kann (Deum non esse quid compositum), weil dies voraussetzen würde, daß die realiter distinkten Teile der


61 Dieses Argument scheint für Deleuze wichtig zu sein, da er es noch im späteren Spinoza-Büchlein nachdrücklich wiederholt: "Die Attribute sind real unterschieden: keines braucht ein anderes, noch irgend etwas anderes, um begriffen zu werden [...] Die reale Unterscheidung zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung zwischen letzten substantiellen 'Washeiten' (quiddités)", Spinoza — Praktische Philosophie, ebd. S. 69.

62 So Troisfontaines, a.a.O., S. 469. Troisfontaines vergleicht Deleuzes Studie mit Martial Gueroults Studie Spinoza I: L'Ame, die in demselben Jahr (1968) erschien. Beiden ist nach Troisfontaines gemeinsam, daß sie die Attribute als "authentische Substanzen" betrachten, die in die göttliche Substanz integriert sind, ohne ihre substantielle Qualität zu verlieren. Nach Troisfontaines riskieren sie es dabei, die Idee einer göttlichen Substanz preiszugeben; zudem wird es schwierig, zu begründen, wie der Mensch, dem von unendlichen Attributen nur zwei — Denken und Ausdehnung — bekannt sind, eine adäquate Erkenntnis Gottes erlangen kann, falls Gott in seine realiter unterschiedenen Attribute aufgeht (ebd. S. 476).


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Zusammensetzung von Natur aus vor Gott selbst sein müßten. 63 Vielmehr sei davon auszugehen, daß "alle Unterschiede, die wir zwischen den Attributen Gottes machen, nur Unterschiede im Verstande sind — in der Wirklichkeit seien sie voneinander nicht unterschieden (omnes distinctiones, quas inter Dei attributa facimus, non alias esse, quam rationis, nec illa revera inter se distingui)".

In der Ethik ist dieser Gedanke dann in seiner reifsten Gestalt folgendermassen formuliert: "Wenn zwei Attribute auch als reell verschieden gedacht werden, das heißt, eines ohne die Hilfe des anderen, können wir doch deshalb nicht daraus schließen, daß sie zwei Wesen (entia) oder zwei verschiedene Substanzen ausmachen" (Prop. I.10 schol.). Da Spinoza ein wenig früher bewiesen hatte, daß nur Substanzen realiter verschieden sein können (prop. I.5 dem. & prop. I.6 dem.), kommt einem dieser Satz beim ersten Blick paradox vor, scheint Spinoza doch zu sagen, daß wir von realiter Verschiedenem nicht schließen können, daß es auch tatsächlich realiter verschieden sei.

Das Paradox löst sich aber auf, wenn wir einsehen, daß Spinoza hier nur meint, daß die Attribute als reell verschieden gedacht werden (realiter distincta concipiantur), woraus aber nicht folgt, daß sie solche auch sein würden, im ontologischen Sinne. Sind die Attribute doch das, "was der Verstand an der Substanz als deren Wesenheit ausmachend erkennt" (Eth. I def. 4); sie haben demnach auch eine Funktion, die man, den Sprachgebrauch späterer Zeiten vorwegnehmend, eine erkenntnistheoretische nennen kann.

Das setzt aber, wie schon oben gesagt, voraus, daß an dem Unterschied zwischen Sein und Denken in diesem Teilbereich der Philosophie notwendig festgehalten werden muß. Die Cartesische Distinktion zwischen Denken und Sein (Ausdehnung) ist gnoseologisch berechtigt, nur darf man sie nicht ins Ontologische erweitern, denn damit wird sie fälschlicherweise bis zur Realdistinktion verabsolutiert. Im Grunde ist es die analytische Methode, die uns die Attribute zur Hand gibt; und diese Errungenschaft des neuzeitli-


63 "Cum enim per se darum sit, quod partes componentes priores sunt natura ad minimum re compositae, necessario substantiae illae, ex quarum coalitione & unione Deus componitur, ipso Deo priores erunt natura [...] Deinde, cum ilia inter se necessario realiter distinguantur [...] sic [...] tot possent dari du, quot sunt substantiae, ex quibus Deum componi supponeretur" (Cogitata metaphysica, II cap. V; ed. Gebhardt I, S. 258). Hier faßt Spinoza die "Substanzen" terminologisch noch im Cartesischen Sinne, obgleich der Übergang zu seiner eigenen Philosophie zu dieser Zeit in der Hauptsache schon vollzogen ist.


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chen Denkens, deren Anwendung so glänzende Resultate wie die analytische Geometrie geliefert hatte, denkt Spinoza doch keinen Augenblick preiszugeben.

Die Deutung Deleuzes wiederum basiert just auf dem Nichtbeachten dieser sozusagen gnoseologischen Rolle der Attribute. Er sagt ausdrücklich, daß die Attribute "keine Wahrnehmungsarten des Verstandes" sind, weil ja "der spinozistische Verstand nur das wahrnimmt (perçoit), was ist". Oder genauer: "Wenn das Attribut sich notwendig auf den Verstand bezieht, dann nicht, weil es dem Verstande innewohnt, sondern weil es expressiv ist und weil das, was es ausdrückt, notwendig einen Verstand (entendement) impliziert, der es 'wahrnimmt'". 64

Es stimmt natürlich, daß Spinoza sich die Attribute nicht als subjektive Sichtweisen dachte. Sie sind "objektive façons de voir", d.h. Widerspiegelungen des substantiellen Wesens im Intellekt, wie Spinoza ganz deutlich in Def. I.4 schrieb: "Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit, tanquam ejusdem essentiam constituens". (Es ist übrigens besonders zu beachten, daß sich Spinoza hier des Terminus "percipere", d.h. "wahrnehmen", bedient. An einer anderen Stelle — Def. n. 3 explic. — präzisiert er nämlich, worauf "perceptio" hinweist daß die Seele "vom Gegenstande leide", d.h. nicht aktiv ist, sondern Eindrücke von außen empfängt). Ein solches Moment der Widerspiegelung in der Erkenntnis zu setzen, spricht Deleuze nicht an; er will sie mit einer Theorie der Expressivität ersetzen, worauf wir zurückkommen werden. Hier sei lediglich bemerkt, daß eine so konzipierte Expressivität neben der Widerspiegelungstheorie auch den — aristotelisch-realistischen - Begriff der Wahrheit als Korrespondenz ausschließt.

7. Weitere Distinktionen

Kehren wir noch einmal zur Distinktionsproblematik zurück. Warum insistiert Deleuze auf der Rolle der realen Distinktion so nachdrücklich, daß er dafür sogar die Entstellung der authentischen Gestalt des Spinozismus in Kauf nimmt? Weil die Logik der realen Distinktion nach ihm "eine Logik


64 Deleuze 1981, S. 72 f.; dt. Ü.S. 68 f.


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der koessentieller Positivitäten wie koexistierender Affirmationen" 65 ist. Die Realdistinktion ist, wie Deleuze sie sieht, eine "distinction sans opposition". Er sucht bei Spinoza den frühen Entwurf einer Logik der Differenz, wodurch ein Nebeneinander reiner Bejahungen konstituiert wird.

Um aber zu zeigen, daß diese Logik einer oppositionslosen Distinktion auch in der geschaffenen Natur herrscht, also in der Welt der Modi, wo aber die Aseität fehlt (denn ein Modus ist das, was in einem anderen ist oder durch ein anderes begriffen wird; I. def. 5), muß Deleuze zu weiteren Konstruktionen greifen. Da die Wesenheiten (essentiae) bei Spinoza von der Existenz unterschieden sind, muß Deleuze hier gleich zwei neue Distinktionen ausfindig machen — sowohl im Rahmen der modalen Wesenheiten als auch der modalen Existenz. Beide konzipiert er derart, daß sie einen Unterschied ohne Gegensatz garantieren.

In der modalen Welt gibt es ein Wechselspiel von "distinction intrinsèque" und "extrinsèque". Ihre systematische Rolle bleibt allerdings etwas kryptisch, weil Deleuze nur eine sehr zusammengedrängte Darstellung gibt. 66 Soweit aber ist klar, daß die erstgenannte Distinktion auf die modalen Wesenheiten weist, die nicht anders existieren, als daß sie in einem Attribut enthalten sind. Da sie nicht actu — d.h. in der zeitlichen Dauer — existieren, können sie nur "innerlich" voneinander unterschieden werden, und mithin herrscht zwischen ihnen also eine "distinction intrinsèque". Deleuze nennt die Wesenheiten auch "réalités intensives". 67

Die voneinander "äußerlich" unterschiedenen, aktual existierenden Einzeldinge seien abhängig von diesen "intensiven Realitäten". Die Einzeldinge existieren auf diese Weise, und ihre Unterscheidung nennt Deleuze deshalb "äußerlich" (extrinsèque), weil sie insofern "außerhalb des Attri-


65 Deleuze 1981, dt. Ü., S. 118. Im französischen Original lautet die Stelle: "La logique de la distinction réelle est une logique des positivités coessentielles et des affirmations coexistantes" (ebd. S. 123).

66 Deleuze 1968a, S. 178 ff., 194 ff.; dt. Ü. S. 174ff, 187 f. In Deleuze 1981 verwendet Deleuze den Begriff "distinction extrinsèque" (ebd. S. 124 ; in der deutschen Übersetzung S. 119 mit "äußerliche Unterscheidung" widergegeben). Hatte er aber im Buch von 1968 den Terminus "extrinsèque" noch mit "intrinsèque" gepaart, so operiert er in Spinoza — Philosophie pratique ausschließlich mit dem Terminus "extrinsèque".

67 Deleuze 1968a, S. 194; dt. Ü. S. 187.


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buts" 68 sind, daß sie nicht mehr bloß im Attribut enthaltene Möglichkeiten darstellen (vgl. Eth. II.8 coroll.).

Das Verhältnis dieser beiden Distinktionsformen faßt Deleuze folgendennassen zusammen:

"Wenn die Modi Gegenstand einer äußerlichen Setzung werden, hören sie auf, unter der komplizierten Form zu existieren, die sie haben, solange ihre Wesen allein im Attribut enthalten sind. Ihre neue Existenz ist eine Explikation [...] Das Attribut drückt sich nicht mehr allein in den modalen Wesen aus, die es kompliziert oder enthält [...]; es drückt sich außerdem in den existierenden Modi aus". 69 Die "Explikation" wiederum ist weiter nichts als ein Synonym für die "Expression" selbst, die der ganzen Philosophie Spinozas generell ihren Stempel aufdrückt. 70

Was Deleuze nun genauer mit diesen "äußeren" und "inneren" Distinktionen meint, 71 illustriert er in Anlehnung an Duns Scotus mit dem Bild einer weissen Mauer. So lange die Mauer weiß ist, kann man nicht sehen, daß darauf irgendwelche Gestalten existieren. Damit solche entstehen können,


68 Ebd. S. 195. Den Anlaß zur Konstruktion dieser Distinktion nimmt Deleuze aus einer Bemerkung in der frühen Arbeit Spinozas Cogitata metaphysia. Dort hatte Spinoza "das Sein der Existenz" (esse existentiae) als "die Wesenheit der Dinge selbst außerhalb Gottes" (ipsa rerum essentia extra Deum) definiert. Dieses Sein werde den Dingen zugeteilt, "nachdem sie von Gott geschaffen worden sind" (G I, S. 238). Später in der Ethik kommt Spinoza darauf nicht mehr zurück - was Deleuze nicht stört. "Nun sehen wir in der Ethik diese These nicht zurückgenommen", meint er (ebd. S. 195; dt. Ü. S. 187). Doch scheint dies Spinoza eben so getan haben. Denn in Cogitata metaphysica hielt er noch daran fest, daß Gott unkörperlich ist (vgl. G I, S. 176; Pars I, Prop. 16). Dies war ein Überbleibsel des Cartesianismus, das später in der Ethik überwunden wird. So lange Spinoza aber dachte, Gott sei unkörperlich, mußte er natürlich die Existenz körperlicher Dinge außerhalb Gottes setzen.

69 Ebd. S. 196; dt. Ü. S. 188 f.

70 Vgl. ebd. S. 11 ff.; dt. Ü. S. 19 ff.

71 Die Darstellung bleibt etwas unklar. Siehe ebd. S. 180, dt. Ü. S. 175: "Bei Spinoza ist die Individuation weder qualitativ noch äußerlich, sie ist qualitativ-innerlich, intensiv". Dagegen S. 194, dt. Ü. S. 187: "Die modalen Wesen [...] existieren nur als im Attribut enthalten [...] Wenn aber die Modi in die Existenz übergehen, erhalten sie extensive Teile" und sie unterscheiden sich auch äußerlich untereinander. Individuation und In-die-Existenz-Treten wären demnach also zwei verschiedene Sachen. Da nur Existenz numerisch gefaßt werden kann, nicht die Wesenheit, so scheint daraus zu folgen, daß auch die Individuation nicht numerisch gedacht werden kann.


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bedarf es eines "innerlichen Prinzips", das heißt, man muß voraussetzen, daß solche Gestalten überhaupt möglich sind. Mit anderen Worten, das geforderte "innerliche Prinzip" besteht eben in dieser Voraussetzung. 72 Damit die äußerlich voneinander distinkten Gestalten auf der Wand erscheinen können, bedarf es also einer innerlichen Distinktion. Deleuze meint, daß dies alles Duns Scotus' Lehre von den Intensitäten ähnelt. Die Weissheit hat verschiedene Intensitäten; diese sind ihre innerlichen Bestimmungen, während die Weissheit selbst bei allen ihren Modalitäten immer gleich univok bleibt. "So scheint es auch bei Spinoza zu sein: die modalen Wesen sind innerliche Modi oder intensive Quantitäten". 73

Es ist dies eine geistreiche Konstruktion, die nur daran hinkt, daß sie für das Verstehen von Spinozas authentischer Lehre von den Modi ganz unnötig ist. Indem Deleuze seine neuen Distinktionen vorschlägt, ist sein Augenmerk darauf gerichtet, eine Logik der Differenz ohne Opposition oder Gegensatz zu begründen. Die Intensitäten scheinen so etwas zu ermöglichen. Im Spinoza-Buch allerdings spricht Deleuze nicht viel davon. Aber in seiner gleichzeitig verfaßten Schrift Differenz und Wiederholung kommt er öfters darauf zurück. Das Eigentliche der Intensität hege daran, sagt er an einer Stelle, daß "sie durch eine Differenz gebildet wird, die selbst auf andere Differenzen verweist (E — E', wobei E auf e — e' und e auf e — e'... verweist)". 74 Die Intensität, heißt es an einer anderen Stelle, ist Differenz, die sich und eine Folge von anderen Differenzen bejaht. Sie produziert also keine Gegensätze, keine Negativität — wie es auch "keine Nullquotienten von Frequenzen, kein wirkliches Nullpotential, keinen absoluten Nulldruck gibt". 75

Und was hat es mit der zweiten Unterscheidung auf sich, die "distinction modale extrinsèque", die die Existenz der Einzeldinge untermauert? Als Existenz in der Dauer (duratio) setzt sie ein Außersichsein örtlich und zeitlich voneinander differenter Teile voraus. Der Leser vermutet nun natürlich, daß mindestens bei dieser Distinktionsform Opposition und Gegensatz gelten würden. Aber nein. Merkwürdigerweise vermeidet es Deleuze im 13.


72 Ebd. S. 179, dt. Ü. S. 174: "Wir können die existierenden Dinge nur unterscheiden, insofern ihre Wesen als unterschiedlich angenommen werden; zudem scheint jede äußerliche Unterscheidung eine vorhergehende innerliche Unterscheidung vorauszusetzen".

73 Ebd. S. 179; dt. Ü. S. 175.

74 Deleuze 1968b, S. 155 f.

75 Ebd. S. 297.


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und 14.Kapitel seines Spinoza-Buches, die der Theorie der Modi gewidmet sind, davon zu sprechen, wie ein endlicher Modus in seiner Existenz immer durch einen anderen determiniert sein muß, obgleich dies einer der Eckpfeiler der Moduslehre Spinozas ist (vgl. Eth. I.28, I.29). Das würde nämlich Deleuzes Konstruktion zerstören, kommen doch der Gegensatz und die Opposition — d.h. das "esse in alio" — eben mittels der universellen Determination in die modale Welt. 76

Statt also zuzugeben, daß Existenz Determination und dadurch Anderssein voraussetzt, gibt Deleuze eine andere Erklärung für sie. Nach dieser Erklärung bestehe die Existenz darin, in der Wirklichkeit (actuellement) "eine sehr große Zahl von Teilen" zu haben. 77 Einige Seiten später präzisiert Deleuze, daß die "sehr große Zahl" tatsächlich der unendlichen gleichkommt. "En d'autres termes, chez Spinoza, il n'y a pas de mode existant qui ne soit actuellement composé à l'infini". 78 Zwar seien auch diese Teile extensiv, doch sind sie nicht Atome 79, sondern "aktuell unendlich-kleine Teile einer Unendlichkeit, die selbst aktual ist". Und was noch verwunderlicher ist: diese kleinen Teile haben keine eigene Existenz, obgleich die Existenz aus ihnen zusammengesetzt ist. 80

Ohne Deleuze nun das Recht auf eine eigene Deutung abzusprechen, möchte ich, auch gegen den Vorwurf der Pedanterie hin, hier doch an die Tugend der gewissenhafter Forschung erinnern. Erstens: Spinoza sagt nirgends, daß die Existenz identisch damit sei, aus einer großen (unendlichen) Zahl von Teilen zu bestehen. Die Existenz folgt "aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes" (II.45 schol.). Zweitens: Im Scholium zu Prop. I.11 sagt Spinoza expressis verbis, daß die Einzeldinge "entweder aus vielen oder dann wenigen Teilen" bestehen können; wie dem auch sei, ist die Anzahl der Bestandteile nicht ausschlaggebend für ihre Existenz, sondern nur für die Vollständigkeit der äußeren Ursache. Drittens: Wenn De-


76 In Prop. I.28 sagt Spinoza — was er in der Demonstration dann noch deutlicher erklärt ‑, daß zur Existenz eines Einzeldinges notwendigerweise die Determination durch ein anderes endliches Einzelding erforderlich ist. Da die Einzeldinge von äußeren Ursachen zerstört werden können (vgl. III.6 dem., III.8 dem.), entstehen bei einer unendlichen Kette von Determinationsvorgängen auch unendlich viele Andersseine, die einander gegensätzlich sind oder dann nicht.

77 Deleuze 1968a, S. 183; dt. Ü. S. 177. Hervorhebung von Deleuze.

78 Ebd. S. 189; dt. Ü. S. 182.

79 Ebd. S. 187; dt. Ü. S. 180.

80 Ebd. S. 189f: "Elles n'ont pas d'existence propre, mais composent l'existence"; dl. Ü. S. 183.


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leuze behauptet, daß die kleinen Teile, woraus die Modi komponiert werden, keine "existence propre" haben, kommt das der Behauptung gleich, Existenz werde aus Nicht-Existenz zusammengesetzt. Mithin erweist Deleuze sich hier also als ein Anhänger der These "ex nihilo aliquid" — ganz im Gegensatz zu Spinoza, der Gott, d.h. die Positivität schlechthin, für die Ursache dessen hielt, daß Dinge zu existieren beginnen und sich in der Existenz erhalten (vgl. Eth. I.24 coroll.).

8. Eine Ontologie "aus der Univozität"

Das von Deleuze praktizierte Zurückgreifen auf die scholastische Terminologie scheint nicht nur belanglos in bezug darauf zu sein, "was Spinoza wirklich sagte", sondern schafft zudem neue Probleme. Indem Deleuze dem Spinozistischen Gott Distinktionen aufoktroyiert, macht er ihn zu einem "ens compositum", wenn auch nicht im numerischen, sondern qualitativen Sinne 81. Indem Deleuze an einer anderen Stelle noch zuspitzt: "Strikt getrennt von jeglicher numerischen Unterscheidung, wird die reale Unterscheidung ins Absolute getragen", 82 so schafft es diese Behauptung zwar, eine "Differenz ohne Gegensatz" zu begründen (denn die Differenz ist insofern ohne Gegensatz, als sie absolut ist). Zugleich aber lastet sie dem Spinozismus das interpretatorisch nicht zu rechtfertigende Handicap, daß die Attribute sich zu verselbständigen drohen: das Begründen der Einheit der Substanz wird zu einem ähnlich kopfzerbrechenden Problem wie es für die Theologen die Einheit Gottes trotz seiner drei Personen war. 83

Doch gibt es in Differenz und Wiederholung eine Stelle, wo Deleuze eindeutig gegen das Zerfließen der Substanz bei ihm selbst zu sprechen scheint: "Gleich zu Beginn der Ethik" erfahre man, "daß sich die Attribute nicht auf Gattungen und Kategorien reduzieren lassen, weil sie zwar formal


81 "Die Attribute sind real unterschieden (réellement distincts); keines braucht ein anderes, noch irgend etwas anderes, um begriffen zu werden. Sie drücken also substantiell absolut einfache Qualitäten aus; genauso wie man sagen muß, daß eine Substanz jedem Attribut qualitativ oder formal entspricht (nicht zahlenmäßig)... Die reale Unterscheidung zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung zwischen letzten substantiellen 'Washeiten' (quiddités)"; Deleuze 1981, S. 73 (dt. Ü. S. 69).

82 Deleuze 1968a, S. 32; dt. Ü. S. 38.

83 So prägte ja schon Duns Scotus seine "formale Distinktion" anfänglich vor allem, um zu begründen, warum das göttliche Wesen nicht "vervielfältigt" wird durch die Dreizahl der Personen. Siehe Gilson ebd. S. 244.


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geschieden, aber alle gleich und ontologisch eins sind und keinerlei Teilung in die Substanz einführen" 84. Diesen Satz, der die ontologische Einheit der Attribute bei Wahrung ihrer formalen Distinktion feststellt, könnte man unterschreiben — wenn nicht Deleuzes Auffassung einer "Ontologie" (von der er übrigens nur en passant spricht, ohne ihr größere Bedeutung beizumessen) so eigenartig wäre. Nach ihm gründe diese "einzige verwirklichte" Ontologie nämlich auf dem scotistischen Begriff der Univozität des Seins. In Logique du sens definiert Deleuze weiter, diesmal ganz allgemein gesprochen und ohne besonderen Bezug auf Spinoza: "La philosophie se confond avec l'ontologie, mais l'ontologie se confond avec l'univocité de l'être". 85

Wie ich gleich unten genauer anführen werde, führt das zu einer "Ontologie" im lediglich phänomenologischen Sinne, d.h. das Sein der Objekte reduziert sich letztlich darauf, ein Korrelat des Bewußtseins zu sein. Dabei verliert aber die Aufteilung des Gebiets der Philosophie in Erkenntnistheorie und Ontologie ihren eigentlichen Zweck, und es verwundert nicht, daß die diesbezügliche Problematik für Deleuze uninteressant bleibt.

Ein Einheitsgrund muß also gefunden werden. Deleuzes Gleiten besteht hier aus einem Schritt vor, einem anderen zurück.

Der erste Schritt: Simon de Vries bat Spinoza in einem mit 24. Februar 1663 datierten Brief um eine deutlichere Erklärung zu Proposition I.10 der Ethik, die wir einige Seiten zuvor schon zitiert haben. In seiner Antwort an den "doctissimo Juveni" erinnert Spinoza zuerst an seine Definition der Substanz ("die in sich ist und durch sich begriffen wird") und fährt dann fort: "Unter Attribut verstehe ich dasselbe, außer daß das Attribut in bezug auf den Intellekt ausgesagt wird, welcher der Substanz eine solche bestimmte Natur zuteilt" (attributum dicatur respectu intellectus, substantiae certam talem naturam tribuentis; Epist. IX).

Die Stelle ist bemerkenswert, da Spinoza hier wohl am deutlichsten die "erkenntnistheoretische" Dimension der Attribute hervorhebt Um der größeren Anschaulichkeit willen gibt er für de Vries noch ein Beispiel, um zu zeigen, wie man dieselbe Sache mit zwei verschiedenen Namen bezeichnen kann. "Erstens wird unter Israel der dritte Patriarch verstanden; denselben meine ich auch mit Jakob, welchen Namen er erhielt, indem er die Ferse seines Bruders ergriffen hatte [...]"


34 Deleuze l968b, S. 376.

85 Deleuze 1969, S. 210.


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Doch Deleuze sieht es anders: "Natürlich legt diese Stelle eine intellektualistische oder sogar idealistische Interpretation der Attribute nahe. Aber ein Philosoph ist immer verleitet, bei bestimmter Gelegenheit sein Denken zu vereinfachen oder es nur teilweise zu formulieren..." 86 Wollte Deleuze nun sagen, man soll die Spinozistischen Attribute nicht intellektualistisch interpretieren, sondern in ihnen subjektive (sowohl wissenschaftsgeschichtlich als auch kulturell bedingte) Widerspiegelungsformen mit objektivem Inhalt sehen, hätte er ganz Recht

Er unternimmt aber statt dessen wieder eine der bekannten Gleitbewegungen. Jedes Attribut sei "ein Name oder ein unterschiedlicher Ausdruck; was es ausdrückt, ist wie sein Sinn; aber so wie das Ausgedrückte nicht außerhalb des Attributs existiert, ist es auch auf die Substanz als auf den durch alle Attribute bezeichneten Gegenstand bezogen". Die Attribute sind Namen, die ihrem Sinn nach unterschiedlich sind, aber alle beziehen sich auf die Substanz als auf das designierte Objekt 87 — ganz wie 'Israel' und 'Jakob' im Beispiel Spinozas auf dieselbe Person bezogen werden.

Dieser erste Schritt war notwendig, um den Spinozismus zu einer Differenz-Philosophie hinzustilisieren, er hat aber Deleuze zugleich noch tiefer in Schwierigkeiten gebracht, denn die Attribute als realiter distinkte, verschiedene Sinn-Ausdrücke scheinen der Substanz eine arge Vielheit aufzudrängen. Deleuze löst das Problem durch einen zweiten Schritt, mit dem er die unerwünschten Wirkungen des ersten zunichte zu machen hofft. Er führt den Scotistischen Univozitäts-Begriff ein:

"Duns Scotus verwirft die negative Eminenz der Neuplatoniker und zugleich die Pseudobejahung der Thomisten. Beiden stellt er die Univozität des Seins gegenüber: das Sein wird im selben Sinn von allem ausgesagt, was ist, unendlich oder endlich, obgleich nicht immer unter derselben 'Modalität'. Aber das Sein wechselt eben nicht die Natur, wenn es seine Modalität wechselt, d.h. wenn sein Begriff vom unendlichen Sein und den endlichen Seienden prädiziert wird (schon bei Scotus also zieht die Univozität keinerlei Gleichsetzung der Wesen nach sich). Und die Univozität des Seins zieht selbst die Univozität der göttlichen Attribute nach sich: den Begriff eines Attributs, das bis zum Unendlichen erhoben werden kann, teilt


86 Deleuze 1968a, S. 52; dt. Ü.,S. 56.

87 Deleuze, a.a.O., S. 53; dt. Ü. S. 57.


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selbst Gott mit den Geschöpfen, vorausgesetzt er wird in seinem formalen Grund oder in seiner Quiddität genommen". 88

Deleuze wird nicht müde, die Bedeutung des Univozitäts-Begriffs zu unterstreichen; er sei "der Schlußstein des ganzen Spinozismus: gerade weil die Attribute in derselben Form in Gott existieren, dessen Wesenheit sie konstituieren, und in den Modi, die sie in ihre Wesenheit einschließen, gibt es nichts Gemeinsames zwischen der Wesenheit Gottes und der Wesenheit der Modi, und dennoch gibt es absolut identische Formen und Begriffe, die Gott und den Formen absolut gemeinsam sind. Die Univozität der Attribute ist das einzige Mittel, die Wesenheit und die Existenz der Substanz und die der Modi radikal zu unterscheiden, wobei die absolute Einheit des Seins erhalten wird". 89

Mehr noch: "Der Kampf, den Spinoza gegen Descartes aufnimmt, ist nicht ohne Beziehung zu demjenigen, den Duns Scotus gegen den Heiligen Thomas führte", meint Deleuze. Denn sowohl Descartes wie auch der Doctor angelicus hielten bedauerlicherweise am Analogiebegriff fest. 90 Das Unglück mit der Analogie ist, daß sie die gemeinsamen Formen bei Gott und den Geschöpfen verneint; so z.B. übertragen wir durch Analogieschluß Gott solche menschlichen Eigenschaften wie Wille, Güte, Weisheit zu; diese besitzt Gott aber auf äquivoke oder eminente Weise, d.h. in einem anderen Sinne als der Mensch. Doch wird in ihm Menschliches gesehen. Darum enthalte die Analogie "einen subtilen Anthropomorphismus, der genauso gefährlich ist wie der naive". 91

Die Methode des Analogie-Schlußes bestreitet also das Vorhandensein gemeinsamer Formen für Gott und die Geschöpfe, vermengt aber trotzdem


88 Ebd. S. 54; dt. Ü. S. 57 f. Deleuze stützt sich hier auf die Darstellung Etienne Gilsons, vgl. Gilson 1952, S. 222 ff.

89 Deleuze 1981, dt. Ü., S. 78. Ich habe hier die deutsche Übersetzung korrigiert, die 'univocité' mit 'Eindeutigkeit' wiedergibt.

90 Deleuze 1968b S. 64.

91 Deleuze 1968a, S. 38; dt. Ü. S. 43. — Es muß allerdings bemerkt werden, daß Descartes z.B. den freien Willen beim Menschen gar nicht nur als analog mit dem göttlichen Willen dachte; im Gegenteil, der freie Wille macht uns gewissermassen gottähnlich ("nos quodammodo reddit Deo similes", d.h. die Willensfreiheit wird in ein und derselben Bedeutung, mithin univok, sowohl von Gott als von den Menschen ausgesagt. Aber eben die Cartesische Lehre von der Willensfreiheit wurde eine der Hauptzielscheiben von Spinozas Kritik. Schon diese Tatsache relativiert den von Deleuze konstruierten vermeintlichen Kampf des "Univokisten" Spinoza gegen den "Äquivokisten" Descartes erheblich.


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ständig die Wesenheiten der geschaffenen Dinge mit der Wesenheit Gottes. Spinoza seinerseits vermeide derartige Konfusionen, indem er die Formidentität zwischen Gott und den geschaffenen Dingen setzt, aber zugleich keine Vermengung ihrer Wesenheiten zuläßt. 92 Doch gelingt eine solche Operation nur durch die Mobilmachung des Univozitätsbegriffs. Und in der Tat gehe Spinoza noch weiter als Duns Scotus. Während der Doctor subtilis das univoke Sein noch als neutral dachte, "bewirkt Spinoza einen beträchtlichen Fortschritt Anstatt das univoke Sein als neutrales oder indifferentes zu denken, macht er aus ihm ein Objekt reiner Bejahung". 93 Dieses ruft einem natürlich das dionysische Ja Nietzsches in den Sinn, und Deleuze meint auch, daß es dem Spinozismus nur noch fehle, "die Univozität als Wiederholung in der ewigen Wiederkunft" zu verwirklichen. 94

9. Das Zeugnis Heideggers

Soweit also das deleuzianische Konstrukt. Wie ernst sollte es genommen werden? Hören wir erst einen Zeugen, der nach Deleuzes eigenem Urteil der Univozität des Seins "neuen Glanz" 95 verleiht. In seiner 1916 erschienenen Studie über Duns Scotus weist Heidegger darauf hin, wie Scotus das Sein in zwei Bereiche, in die der Natur und die der Vernunft teilt; der letztere ist der Bereich der Logik. 96 Dem logischen Bereich eigentümlich ist die Intentionalität, die ihn homogen macht. Dank dieser Eigenschaft sind alle logischen Objekte univok, 97 während die realen analog bleiben. Warum


92 Ebd. S. 38; dt. Ü. S.43.

93 Deleuze, 1968b, S. 64; vgl. Deleuze 1968a, S. 58, dt.Ü. S. 61.

94 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 376.

95 Ebd. S. 94.

96 Heidegger 1978, S. 281 ff. Die entscheidenden Duns Scotus-Stellen, worauf diese Charakterisierung sich stützt, lauten folgendennassen: "Ens est duplex, scil[icet] naturae et rationis. Ens autem naturae inquantum tale est, cuius esse non dependet ab anima. Sed ens rationis dicitur de quibusdam intentionibus, quas adinvenit ratio in ipsis rebus..." (Quaest. in lib. elench., qu.I, 1 b). Und weiter: "Quia ergo Logica est de huiusmodi intentionibus" (l.c., 2 a).

97 Ebd. S. 281. Die entsprechenden Scotus-Stellen: "...univocum apud logicum dicitur omne illud, quod per unam rationem devenit apud intellectum" (Quaest. in libr. praed. qu. VII, 455a sq.); und: "Aliquid intentionale univocum applicari potest rebus omnium generum; quia diversitas in rebus [...] non impedit ipsas ab intellectu posse coneipi per eundum modum coneipiendi; intentiones autem omnes eis attribu-


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dem so ist, erklärt Heidegger mit einem Hinweis auf die Phänomenologie Husserls:

"Das Noematische, der Gehalt der psychischen Akte, ist eine eigenartige Gegenständlichkeit 'Während die Gegenstände schlechthin (in unmodifiziertem Sinne verstanden) grundverschiedenen obersten Gattungen angehören, sind alle Gegenstandssinne und alle vollständig genommenen Noeme, wie verschieden sie sonst sein mögen, prinzipiell von einer einzigen obersten Gattung'. Nichts anderes besagt die von Duns Scotus behauptete Univozität des logischen Sinnbereiches, gegenüber der Geordnetheit durch Analogie in der Welt der realen sinnlichen und übersinnlichen Objekte". 98

Daß auch die von Deleuze Spinoza zugeschriebene Univozität in ganz ähnlichem phänomenologischen Sinne begriffen werden muß, zeigen seine weiteren Ausführungen. In seiner Logique du Sens gibt es ein Kapitel, betitelt "De l'univocité", wo er den Begriff folgendermassen einzukreisen sucht: "La philosophie se confond avec l'ontologie, mais l'ontologie se confond avec l'univocité de l'être. L'univocité de l'être ne veut pas dire qu'il y ait un seul et même être: au contraire, les étants sont multiples et différentes [...] L'univocité de l'être signifie que l'être est Voix, qu'il se dit. Ce dont il se dit n'est pas du tout le même. Mais lui est le même pour tout ce dont il se dit". 99 Mit anderen Worten, die "ontologische" Einheit der Welt gründet auf dem Sagen, d.h. auf der Sinngebung. Tatsächlich bedient eine solche "univoke Ontologie" sich der phänomenologischen Prozedur, wodurch die Gegenstände letzten Endes zu Korrelaten des Bewußtseins nivelliert werden.

Mehr noch. Ganz wie Duns Scotus, der seine Lehre dahingehend präzisierte, daß die Univokation eigentlich erst in der sprachlichen Aussage zur Geltung kommt 100, fährt auch Deleuze fort: "L'univocité signifie que c'est la même chose qui arrive et qui se dit: l'attribuable de tous les corps ou états


untur, inquantum ab intellectu concipauntur" (l.c., qu. II, 442 b sq.). Alle Dinge sind also insofern univok, als sie vom Intellekt begriffen werden, da sie dann alle gleichermassen zu intentionalen Objekten werden.

98 Ebd. S. 282. Heidegger zitiert hier Edmund Husserl aus dessen Ideen zu einer reinen Phänomenologie.

99 Deleuze 1969, S. 210.

100 Heidegger, a.a.O., S. 329f: "Scotus (..) sagt: die Univocation ist nicht eigentlich etwas, das primär die Bedeutung angeht, sondern die Bedeutung, der Begriff, insofern er in prädikativer Verwendung steht [...] Die Univocatio ist letzten Endes nichts anderes als die identische Setzung der dem einen identischen Wort (Sprachgestalt) zufallenden identischen Bedeutung".


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et l'exprimable de toutes les propositions. L'univocité signifie l'identité de l'attribut noématique et l'exprimé linguistique: événement et sens". Die Univozität reisst das Sein von den Dingen los, um es ihnen wieder gleichmäßig zuzuteilen 101 — d.h. sie macht aus dem Sein einen linguistischen Ausdruck, einen Sinn, der von jedem Ding prädiziert werden kann. Der Deleuzianische Ontologie-Entwurf geht somit von einer Kreuzung von Phänomenologie und Sprachphilosophie aus.

10. Spinoza kein Pnänomenologe avant la lettre

Man findet bei Spinoza nirgends einen solchen Begriff von Univozität, den Deleuze ihm unterstellt, und noch weniger ist es möglich, aus Spinoza einen Phänomenologen avant la lettre zu machen. Zwar ist es wahr, daß die Phänomenologie darin mit den Gedankengängen Spinozas verwandt zu sein scheint, daß auch sie den Cartesischen Dualismus kritisiert. In seiner Phénoménologie de la perception (1945), die vor allem auf Husserls Ideen baut, wendet Maurice Merleau-Ponty sich scharf gegen den Leib-Seele-Dualismus von Descartes, den er für das Resultat einer falschen Methode hält. Nimmt man demgegenüber, wie Merleau-Ponty empfiehlt, die phänomenologische Analyse der Perzeption hin, schmelzen Objektives und Subjektives zusammen. In der Wahrnehmung ist der Körper immer mit; er ist dann kein bloßes Objekt mehr, und das Bewußtsein wiederum nicht mehr bloßes Denken. Die Erfahrung des eigenen Körpers "zeigt uns eine zweideutige Daseinsweise" (une mode d'existence ambigu), wo die Verbindung von Leib und Seele immer "implizit und verworren" sei. 102

Tatsächlich aber überwindet die Phänomenologie die dualistische Spaltung der cartesianischen Tradition in die Linien Vulgärmaterialismus und Spiritualismus nicht, sondern begnügt sich mit der "einen Hälfte" des Cartesianismus, mit dem durch die Cogito-These implizierten Spiritualismus. Dies ist leicht daraus ersichtlich, daß Merleau-Ponty — trotz aller Polemik gegen Descartes — bei der phänomenologischen Betrachtung subjektiver Bewußtseins- und Erfahrungsinhalte bleibt Sein Fazit: "Man soll also nicht fragen, ob wir die Welt richtig wahrnehmen, man muß im Gegenteil sagen: die Welt ist, was wir wahrnehmen" (le monde est cela que nous perce-


101 Deleuze 1969, S. 211.

102 Merleau-Ponty 1945, S. 231.


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vons)". 103 Man kann die "phänomenologische Welt" nach ihm nicht von der Subjektivität und Intersubjektivität trennen. 104

Es ist hier nicht der Ort, die Bedeutung und philosophiegeschichtliche Rolle phänomenologischer Methode eingehend zu würdigen. Das würde uns vom eigentlichen Thema zu weit abführen. So viel kann man aber sagen: Merleau-Pontys Problem besteht darin, daß er in unmittelbare Nähe zum subjektiven Idealismus, ja zum Solipsismus rückt, weil er — gut phänomenologisch - alles Nicht-Subjektive "ausgeklammert" hat. Da die phänomenologische (eidetische) Reduktion im Grunde nur die Cartesische Dubito-Operation im neuen Gewande ist, soll man sich nicht wundem, daß die heutigen Phänomenologen zu einer ähnlichen Auffassung vom "Theater der Seele" gelangen, wie schon Descartes, und dies trotz aller Kritik an ihm. 105

Schon Husserl, die philosophische Autorität Merleau-Pontys, verwies in der Einleitung seiner Cartesianischen Meditationen auf die Bedeutung der "prima philosophia" von Descartes für die Weiterentwicklung des phänomenologischen Ansatzes, und zwar in die Richtung des transzendentalen Subjektivismus. 106 Vom Standpunkt der Begründung der Phänomenologie war der Spinozismus demgegenüber für Husserl eine Randerscheinung. Ihm war dieser lediglich "eine rein rationale Metaphysik, die alle besonderen Ontologien in sich schließen solle" und deswegen den bahnbrechenden transzendentalphilosophischen Ansatz in den Meditationes von Descartes nicht gehörig würdigen könne. 107

Husserl hat ganz recht. Spinoza unterscheidet sich von der Phänomenologie vor allem darin, daß er die das Bewußtsein bedingenden Prioritäten anders setzt. Er sagt ausdrücklich, nicht nur hänge "die Vortrefflichkeit der Ideen" von der "Vortrefflichkeit des Gegenstandes" ab (idearum praestantia, & actualis cogitandi potentia ex objecti praestantia aestimatur; Eth. III, Aff. gen. def., explic.), sondern das aktuale Dasein des Körpers sei auch die Voraussetzung der Seele (II.11, III.10). Die letztgenannte Position ließe sich wohl auch vom Standpunkt von Merleau-Pontys verteidigen, aber auch


103 Ebd. S. XI.

104 Ebd. S. XV.

105 Darüber siehe z.B. Allen 1976, S. 132-154.

106 Husserl 1992b, S. 3 ff.

107 Über Husserls abschätziges Bild von Spinoza als einem naiven Metaphysiker, der "das Problem der Möglichkeit objektiver Erkenntnis in der Immanenz des erkennenden Subjekts" nicht begriffen habe, vgl. besonders den Abschnitt "Kritische Ideengeschichte" in: Husserl 1992b, vor allem S. 193.


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da bleibt der Unterschied zu Spinoza, daß bei ihm die Einheit von Leib und Seele auf der Abhängigkeit des Subjekts von der ganzen Natur gründet, während bei Merleau-Ponty diese Einheit der Analyse der Wahrnehmung des einzelnen Subjekts abgewonnen wird.

Alles oben von Merleau-Ponty Gesagte läßt sich auch auf Deleuze anwenden. Sein Versuch, aus Spinoza einen "Univozitäts-Philosophen" zu machen, kommt der Phänomenologisierung des Spinozismus gleich. Und da die Univozität nichts anderes ist als das Vereinen aller möglichen Gegenstände unter die einzige Bestimmung, intentionales Objekt für das Subjekt zu sein, können wir die Spuren dieser Prozedur bis zu seiner (wie auch der der Phänomenologie) wahren Quelle verfolgen, nämlich zu Kants Lehre von der "Verknüpfung des Mannigfaltigen" im Subjekt. Und von der Phänomenologisierung ist es nur ein kurzer Schritt, die Gegenständlichkeit überhaupt semiotisch zu interpretieren. Eben so verfährt Deleuze.

11. Expression und das "Lekton" der Stoiker

Das Spinoza-Buch vom Jahre 1968 weist schon im Titel auf eine der Hauptthesen deleuzianischer Deutung: der Spinozismus sei vor allem als eine "Philosophie der Expression" zu verstehen. Spinozas Bindung zum Rationalismus wird damit zwar gelockert, aber nicht, wie dies bei solchen Auslegungen früher üblich war, z.B. dem Neoplatonismus angenähert, sondern vielmehr den zum Irrationalismus tendierenden Lebensphilosophien späterer Zeiten ("Expression" als ein Code für das "Leben" 108).

Deleuze geht von der Tatsache aus, daß Spinoza sich hier und da des Wortes exprimere (ausdrücken) bedient — beispielweise in seiner Definition der Substanz: "Unter Gott verstehe ich [...] die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt" (Eth. I def. 6). Dies ist für Deleuze Anlaß genug, das gesamte Denken Spinozas unter den Gesichtspunkt der Expression zu subsumieren, und zwar in einer Weise, daß er — um Konrad Hecker noch einmal zu zitieren — "sich oft weit von Spinozas tatsächlichen Ausführungen löst und eine systematisierende Neuauffassung ihrer Gedankengänge ansteuert,


108 "La Vie, c'est-à-dire l'expressivité"; Deleuze 1968a, S. 70; dt. Ü. S. 72.


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die auf deren Verwertung für eine konsequentere und explizitere 'Metaphysik der Expressivität' hinausläuft". 109

Obgleich Spinoza selbst nirgends genauer erklärt, was er mit dem Begriff der Expression meint, läßt sich nach Deleuze dennoch feststellen, daß er sich als eine Triade darstellt, und zwar auf mehreren Ebenen. Die erste Triade ist die von Substanz — Attribut — Wesenheit: "die Substanz drückt sich aus, die Attribute sind Ausdrücke, das Wesen ist ausgedrückt" 110. Danach kommen andere, z.B. die Triaden des Absoluten und des Vermögens (potentia). 111 Die triadische Struktur spinozistischer Substanzlehre ist eine Interpretation, die sich am konkreten Material des Werks von Spinoza selbst schwerlich nachweisen läßt. Doch scheint Deleuze dafür besondere Gründe gehabt zu haben, diese Triplizität zu setzen, wie wir bald sehen werden.

In der ersten Triade stellen die Attribute nun genau das dar, worauf die deleuzianische "Philosophie der Expression" hinauswill. Die Attribute sind nämlich die Expression selbst, sie drücken die Wesenheit (essentia) der Substanz aus. Das Attribut ist, laut Deleuze, "keine einfache Weise zu sehen oder zu begreifen [...] Denn weil Attribute selbst Ausdrücke sind, verweisen sie mit Notwendigkeit auf den Verstand, als der einzigen Instanz, die das Ausgedrückte wahrnimmt". 112

Damit erweise sich die spinozistische Logik als Teil einer langen Tradition, die bis zu den Stoikern und einigen Scholastikern zurückreicht. In dieser Tradition unterscheide man in einem Ausdruck — z.B. in einer Proposition — das, was er ausdrückt und das, was er designiert. "Das Ausgedrückte ist wie der Sinn, der nicht außerhalb des Ausdruckes existiert; dieser verweist deshalb auf einen Verstand, der es [...] idealiter erfaßt". 113

Spinozas Auffassung vom Attribut sei nach Deleuze "etwas wie eine Transposition dieser Theorie des Sinns". Jedes Attribut sei "ein Name oder ein unterschiedlicher Ausdruck; was es ausdrückt, ist wie sein Sinn". Die Substanz wiederum wird zum "durch alle Attribute bezeichneten Gegenstand [...]; auf diese Weise bilden alle ausgedrückten Sinne das


109 Hecker, a.a.O., S. 73. Allerdings meinen andere Autoren, daß Deleuze mit seiner Spinoza oktroyierten "Theorie der Expressivität" eine wirkliche Entdeckung gemacht habe — so z.B. Alquié 1981, S. 134 f.

110 Deleuze 1968a, S. 21; dt. Ü.S. 29.

111 Ebd. S. 71, 84; dt. Ü. S. 73,86.

112 Ebd. S. 52; dt. Ü. S. 56.

113 Ebd. S. 53; dt. Ü. S. 56 f.


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'Ausdrückbare' (l'exprimable), oder das Wesen der Substanz". 114 Mit anderen Worten, die Logik der Attribute ist ein Sonderfall der "Logik des Sinns".

Nun wird auch deutlich, warum Deleuze die Triade Substanz — Attribut — Wesenheit konstruiert hatte, von der man in den Texten Spinozas selbst keine Spuren fand. Es handelt sich ganz einfach um die altbekannte semiotische Triade, die der Substanz so zugesprochen wird, daß ihre Momente den Zeichenkonstituenten analog sind. Die Substanz ist das designierte Objekt. Es wird die Wesenheit ausgedrückt, die also den Sinnesinhalt im Attribut-Ausdruck bildet. Will man dies alles in die Sprache der stoischen Semantik übersetzen, so wäre die Substanz das tynchanón, das Attribut das sêmaínon bzw. phônê und die Wesenheit das lektón.

Das interessanteste Glied dieser Triade ist das letztgenannte. Zwar diskutieren die Forscher über die Nuancen des Lektons bei den Stoikern, doch wird es gewöhnlich mit "Signifikat", d.h. geistiger Bedeutungsgehalt, widergegeben. 115 Es ist hier nicht der Ort, die Problematik ausführlich zu behandeln; nur ein Zitat aus Brief 117 von Seneca mag anschaulich erhellen, wie man im Altertum die Sache betrachtete. "Ich sehe", schreibt Seneca, "daß Cato vorbeigeht; das zeigen die Sinne und die Seele glaubt daran. Der Körper ist es, was ich sehe und worauf ich sowohl die Augen als auch die Seele richte. Danach sage ich: 'Cato geht vorbei'. Das, was ich nun spreche, ist keineswegs ein Körper, sondern etwas vom Körper Gesagtes". 116 Auch andere antike Autoren, z.B. Sextus Empiricus attestieren die Nicht-Körperlichkeit des Lektons (asômaton lektón, Adv. math. I, її 155, 156, 157; vgl. Adv. math. I, ї 20: tà dè sômata ouk èsti lektá). 117


114 Ebd. S. 53: "Chaque attribut est un nom ou une expression distincte; ce qu'il exprime est comme son sens"; dt. Ü. S. 57.

115 Eine gute Darstellung der Problematik gibt Losew 1982, S. 168 ff., doch die Übersetzung des Terminus Lekton als "Wortgegenständlichkeit" (slovesnaja predmetnost') ist etwas vieldeutig - es handelt sich ja um einen reinen Sinn-Inhalt, der im Wort ausgedrückt wird und noch abstrakter ist als die übrigen psychischen Akte, wie Vorstellungen u. dgl. (vgl. ebd. S. 172).

116 Seneca 1619:I, S. 653: "...tamquam, video Catonem ambulantem: hoc sensus ostendit, animus credit. Corpus est quod video, cui & oculos, & animum intendi. Dico deinde, Cato ambulat: non corpus quidem est quod nunc loquor, sed enunciativum quiddam de corpore: quod alii effatum vocant, alii enunciarum, alii edictum".

117 In Deleuze 1969 werden die Lektonen weiter mit den Simulacra identifiziert. Wir verfolgen hier diese Entwicklung nicht weiter, da sie die Spinoza-Rezeption Deleuzes nicht unmittelbar berühren.


130

Deleuze setzt also die Wesenheit (essentia) der Substanz, das "Ausdrückbare" (1'exprimable) mit dem stoischen Lekton-Begriff gleich. Das hat weitreichende Folgen. Es impliziert, daß nicht nur die Wesenheit (oder Natur, denn die beiden Termini decken sich bei Spinoza weitgehend) der Substanz unkörperlich ist, sondern auch — weil Wesenheit und Existenz in der Substanz zusammenfallen - daß das substantielle Sein überhaupt nicht körperlich sein kann. Für Deleuze besteht die Substanz eigentlich aus dem Sinn (Bedeutung, sens). Wenn dem aber so ist, wird von der Substanz nicht nur univok ausgesagt — sie ist Univozität selbst, oder besser: ein univoker Sinn.

In Differenz und Wiederholung formuliert Deleuze denselben Gedanken, aber diesmal als eine allgemeine ontologische Konstatierung ohne ausdrücklichen Bezug auf Spinoza, wobei statt von "Substanz" vom "Sein" gesprochen und "das Sein, dieses gemeinsame Bezeichnete, sofern es sich ausdrückt, seinerseits in ein und derselben Bedeutung von all den numerisch geschiedenen bezeichnenden oder ausdrückenden Elementen ausgesagt wird". 118 De facto ist Deleuze bei dieser Gleichsetzung von Essentia und Lekton ins Lager der Widersacher Spinozas übergegangen, die verneinen, daß Gott körperlich sein kann; eine Auffassung, gegen die Spinoza im Prop. I.15 schol. polemisiert.

Nun könnte man zwar erwidern, daß Gott selbst als Tynchanón, als designiertes Objekt doch körperlich sein kann, die Unkörperlichkeit betreffe nur seine Wesenheit. Man könne nämlich mit Wesenheit als Lekton eben das meinen, was der Verstand in Gott als seinen Sinn-Inhalt erblickt. Spinoza hat selbst auf die subjektive, "gnoseologische" Seite des essentia-Begriffs hingewiesen (vgl. die Identifizierung der "certitudo" mit "essentia objectiva" in Tractatus de intellectus emendatione). Aber dies schließt keineswegs das Vorhandensein einer formalen Wesenheit aus, wie auch aus dem Scholion zu I.17 hervorgeht, wo Spinoza über "veritas, et formalis rerum essentia" spricht, die "ideo talis est, quia talis in Dei intellectu existit objective". Gerade in der formalen Wesenheit liegt das objektiv-gegenständliche Moment des spinozistischen essentia-Begriffs, der eine Ontologie voraussetzt.


118 Deleuze 1968b, S. 59.


131

12. Logik der Differenz statt Dialektik

Bis dahin gelangt, können wir nun die verschiedenen Gedankenfaden und Motive deleuzianischer Spinoza-Interpretation zusammenknüpfen. Diese Motive — "Expression", Univozität und Rehabilitierung der formalen Distinktion — bilden kein zufälliges Sammelsurium. Sie dienen dazu, den schon oben vielfach genannten Leitgedanken zu begründen. Deleuze bemüht sich, eine neuartige Logik zu entwerfen, die nichts mit der Dialektik zu tun haben soll.

"Non opposita sed diversa" soll die Devise der neuen Logik sein. 119 Die Interpretation, die Deleuze der Realdistinktion gibt, spielt hier eine wichtige Rolle, denn sie "schien eine neue Konzeption der Verneinung anzukündigen, ohne Opposition oder Privation, aber auch eine neue Konzeption der Bejahung". 120 Die "Gleitbewegung" besteht nun darin, daß man, um diese Perspektive zu verwirklichen, die Realdistinktion als nicht-numerisch uminterpretieren muß und um sie so tatsächlich mit der Scotistischen formalen Distinktion gleichzusetzen. 121 So kann man die Substanz als eine, und zugleich die Attribute als formal unterschieden denken. 122 Das Sein (bei Spinoza: Substanz) ist univok, d.h. die Unterschiede implizieren kein Anderssein. Und weil kein Anderssein, so auch keine Negation. "Mit Spinoza wird die Univozität ein Gegenstand reiner Bejahung". 123 Diese Linie soll dann in der von Nietzsche lancierten dionysischen Bejahung ihre Fortbildung finden.

Was in der Deleuzianischen Logik der Differenz affirmiert wird, ist die Singularität, 124 die konstitutiv für das Sein ist. Indem die Logik der Diffe-


119 Deleuze 1968a, S. 51; dt. Ü.S. 55.

120 Ebd. S. 51; dt. Ü. S. 55.

121 Ebd. S. 55; dt. Ü. S. 59.

122 Ebd. S. 57, 165; dt. Ü. S. 60, 162.

123 Ebd. S. 58; vgl. S. 309; dt. Ü. S. 61, 294. In der Tat geht die Expressivität in die Univozität der Substanz auf: "Bei Spinoza steht die ganze Theorie des Ausdrucks im Dienst der Univozität" (ebd. S. 309, dt. Ü. S. 294).

124 Michael Hardt bemerkt, wie Deleuze bei der Prägung des Singularitäts-Begriffs von Bergson, "seinem Vergil", begleitet wird. Er lese Spinoza durch die Brillen Bergsonscher Ontologie. So verstanden, hat die Singularität des Seins nichts mit Individualität zu tun; eine Singularität ist nicht von etwas unterschieden, im Gegenteil: "The distinction of being rises from within [...] The first task of real distinction, then, is to define being as singular, to recognize its difference without reference to, or dependence on, any other thing" (Hardt a.a.O. S. 10, 62 f.).


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renz die absolute Einmaligkeit des Singulären hervorhebt, ist sie der Dialektik Hegels entgegengesetzt, die im Allgemeinen beharrt.

In Differenz und Wiederholung schärft Deleuze gleich auf den ersten Seiten ein, daß die "Wiederholung" (répétition) nicht mit der Allgemeinheit (généralité) verwechselt werden darf. Denn die Allgemeinheit bringt "einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, demgemäß ein Term gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt werden kann", während es sich mit der Wiederholung ganz anders verhält: "Als Verhaltensweise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine nicht vertauschbare, unersetzbare Singularität". 125

Gegen die Allgemeinheit setzt Deleuze das Prinzip einer Vielheit, die aus lauter Differenten, aus Singularitäten bestehen soll: "Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist". 126 Hier sind — wie Manfred Frank richtig bemerkt — die wiederholten Ereignisse "Singularitäten, die den Begriff, unter dem sie angetreten waren, im Akt der Anwendung zugleich überschreiten und unabsehbar verändern". 127

Die Wiederholung ist eigentlich, fährt Deleuze fort, die "Grundkategorie der zukünftigen Philosophie". Denn die Wiederholung "verweist in ihrem Wesen auf eine einzigartige Macht (puissance), deren Natur von der Allgemeinheit abweicht". 128 Schon Kierkegaard und Nietzsche stellten die Wiederholung "allen Formen der Allgemeinheit gegenüber". 129 Bei Kierkegaard ging es darum, "aus der Wiederholung als solcher eine Neuheit zu machen, d.h. eine Freiheit und eine Aufgabe der Freiheit", bei Nietzsche wieder darum, "den Willen von allen Fesseln zu befreien, indem die Wiederholung gerade zum Gegenstand des Wollens gemacht wird". 130 Nietzsches "ewige Wiederkunft" kann nicht die Wiederkehr des Identischen meinen, da sie eine Welt voraussetzt, "in der alle vorgängigen Identitäten abgeschafft und abgelöst sind". Folglich besteht die einzige Identität im Wiederkehren selbst, und "eine solche, durch die Differenz hervorgebrachte Identität wird als Wiederholung bestimmt". 131


125 Deleuze 1968b, S. 15.

126 Ebd. S. 15.

127 Frank a.a.O., S. 476.

128 Deleuze 1968b, S. 18.

129 Ebd. S. 20.

130 Ebd. S. 21.

131 Ebd. S. 67.


133

Die Welt der Wiederholung ist also eine Welt der universalen Differenzierung; und eben hier, im Anerkennen der Einzelheit, sah Deleuze schon 1962 das Verdienst Nietzsches: "An die Stelle der Kantischen Allgemeinheit wie des den Utilitaristen teuren Prinzips der Ähnlichkeit setzt Nietzsche das Gefühl der Differenz oder der Distanz (differentielles Element)". 132 Und die für Hegel zentralen Begriffe der Negation und des Widerspruchs ersetzt Nietzsche mit dem der Differenz:

"Wie ein roter, aggressiver Faden durchzieht der Anti-Hegelianismus das Werk Nietzsches. Schon in der Theorie der Kräfte können wir ihm folgen. Niemals wird bei Nietzsche das wesentliche Verhältnis einer Kraft zu einer anderen als ein im Wesen negatives Element begriffen. In ihrem Verhältnis zu einer anderen negiert die Kraft [...] nicht etwa die andere Kraft oder das, was sie nicht ist; sie bejaht vielmehr ihre eigene Differenz und genießt sie. Im Wesen ist das Negative nicht vorhanden als dasjenige, woraus die Kraft ihre Aktivität schöpft Im Gegenteil verdankt es seine Entstehung selbst allererst dieser Aktivität, der Existenz einer aktiven Kraft und der Bejahung ihrer Differenz. Das Negative ist Produkt der Existenz selbst: ist die notwendig an eine aktive Existenz gebundene Aggressivität [...] Das spekulative Element der Negation, des Gegensatzes oder des Widerspruchs ersetzt Nietzsche durch das praktische Element der Differenz". 133

Anstatt "Arbeit des Negativen" (Hegel) soll es "Genuß der Differenz" (Nietzsche) sein: "Das 'Ja' Nietzsches opponiert dem 'Nein' der Dialektik; die Bejahung der dialektischen Verneinung; die Differenz dem dialektischen Widerspruch; die Freude, der Genuß der dialektischen Arbeit; die Leichtigkeit, der Tanz der dialektischen Schwere; die schöne Unverantwortlichkeit den dialektischen Verantwortlichkeiten". 134

Diese nicht-dialektische Philosophie der Differenz, die "ein Gewimmel von Differenzen", "einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen" voraussetze, 135 besteht nun nach Deleuze genauer darin, daß sie den Begriff der Negativität verwirft, wie er bei Hegel vorkam. Tatsächlich sei das Negative nur ein Epiphänomen. "Das Negative ist das Bild der Differenz, allerdings ihr flachgedrücktes und verkehrtes Bild, wie die Kerze im Ochsenauge — im Auge des Dialektikers". 136


132 Deleuze 1985, a.a.O., S. 6.

133 Ebd. S. 13.

134 Ebd. S. 14.

135 Deleuze 1968b, S. 76.

136 Ebd. S. 77.


134

Der Dialektiker irrt sich, wenn er glaubt, daß Gegensätze Differenzen erzeugen; primär ist die Differenz selbst, die unwiederholbare Singularität. "Wir behaupten [...], die Differenz [...] lasse sich nicht auf den Widerspruch reduzieren [...]. Denn unter welcher Bedingung wird die Differenz derart in einen ebenen Raum [...] projiziert? Eben dann, wenn man sie gewaltsam in eine vorgängige Identität gezwängt hat, wenn man sie [...] sich dort reflektieren läßt, wo das Identische sie haben will, nämlich im Negativen". 137

13. Differenz, Unterschied, Verschiedenheit

Wie sollte man diese Kritik an der Dialektik bewerten? Zuerst läßt sich sagen, daß die deleuzianische Differenz viel Ähnliches mit der Verstandesidee hat, die Hegel im Zusatz zu ї 117 der Enzyklopädie "bloße Verschiedenheit" 138 nannte. Sie folgt aus einer abstrakten Auffassung der Identität. Ich betrachte im folgenden erst Hegels "Lehre von der Differenz", dann Spinozas entsprechende Lehre und komme zuletzt zu Deleuze zurück.

Zuerst zu Hegel. Der Satz der Identität A = A ist nach ihm kein wahres Denkgesetz, sondern nur ein "Gesetz des abstrakten Verstandes". 139 Bei genauer Betrachtung erweist es sich, daß der abstrakte Satz der Identität mehr enthält, als man unmittelbar damit meint, nämlich die stillschweigende Voraussetzung, daß es auch ein Nicht-A gibt, das dem explizit genannten A entgegengesetzt ist. So ist im Satze der Identität schon der Unterschied enthalten. 140

Der Unterschied seinerseits tritt bei Hegel in mehreren sukzessiven Gestalten auf. In der Wissenschaft der Logik sind es drei Momente: (a) der absolute Unterschied, (b) die Verschiedenheit und (c) der Gegensatz. In der Enzyklopädie hat die Darstellung dieselben Stufen, obgleich mehr vereinfacht. Der unmittelbare Unterschied, in der "das Unterschiedene jedes für sich ist, was es ist, und gleichgültig gegen seine Beziehung auf das Andere, welche [...] eine ihm äußerliche ist", heißt Verschiedenheit. 141 Dies ist eben die von Hegel getadelte "bloße Verschiedenheit", wo sich die Verschiedenen zueinander gleichgültig verhalten. Erst im weiteren Gang der


137 Ebd. S. 78.

138 Hegel 1969:8, S. 240.

139 Ebd. S. 237 (ї 115).

140 Hegel 1969:6, S. 42 ff.

141 Hegel 1969:8, S. 239 (ї117).


135

Darstellung kommt man zur Verschiedenheit als "Unterschied der Reflexion", die ein "bestimmter Unterschied" ist. 142 Danach kommt die Kategorie des Gegensatzes, der am ausdrücklichsten dem Satze der Identität widerspricht.

An der "bloßen", "gleichgültigen" Verschiedenheit kritisiert Hegel, daß es darin nur Verschiedenheit vom Anderen geben soll. Tatsächlich aber enthält die Verschiedenheit schon seine Negation in sich (wie wir beim Satz der Identität sahen). Die Verschiedenheit ist somit seine eigene Bestimmung und ist auch von sich verschieden. 143 Das abstrakte Verstandesdenken sieht dies aber nicht, sondern hält nur an der Bestimmung der Verschiedenheit fest, vom Anderen verschieden zu sein.

Und wie steht es mit Spinoza? Ist er ein Antidialektiker und Anti-Hegelianer auch in seiner Theorie vom Unterschied und von der Verschiedenheit, wie ihn Deleuze interpretiert?

Um mich möglichst kurz zu fassen, will ich die Frage nur mit einem Beispiel illustrieren. Die Modi werden nach Spinoza durch das Verhältnis des Andersseins konstituiert (Eth. I. def. 5: "Per modum intelligo ... id, quod in alio est, per quod etiam concipitur"). Dieses "esse in alio" setzt Spinoza doppelt. Erstens wird damit das Sein aller Modi in Gott gemeint (1.15,1.23 dem.: "Modus enim in alio est ... hoc est... in solo Deo est, & per solum Deo concipi potest"). Die Modi sind von der Substanz unterschieden; die Substanz ist ihr Anderes. Aber zweitens werden alle singularen Modi zur Existenz und Tätigkeit durch andere singulare Modi determiniert, diese von dritten und so fort ins Unendliche (I.28; vgl. auch IV.29 dem.). Die Modi sind auch voneinander unterschieden; sie sind Andere zueinander. Daraus, daß die Modi "im Anderen" sind, folgt weiter, daß ihre Wesenheit die Existenz nicht einschließt. Denn nur das, dessen Wesenheit die Existenz einschließt, d.h. die Substanz, ist Ursache seiner selbst und also "in se" (I.24 & dem.).

Zunächst scheint es also, als ob die Modi Spinozas der von Hegel getadelten verstandesmäßigen Logik der "bloßen Verschiedenheit" gehorchen würden. Die Existenz der Einzeldinge ist determiniert, weshalb sie eine klar umrissene Identität haben, die jedes von ihnen von den anderen unterscheidet Vor allem scheint Proposition III.4 diesen Eindruck zu bestätigen: im Wesen des (Einzel)dinges gibt es nichts, was es aufheben könnte, "denn die


142 Ebd. S. 242 (ї 118).

143 Hegel 1969:6, S. 52 f.


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Begriffsbestimmung eines jeden Dinges bejaht das Wesen dieses Dinges, verneint es nicht".

Aber schon in Proposition III.6 ändert sich das Bild. Spinoza führt hier den berühmten Conatus-Begriff ein: "Ein jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren". Und dann wird der Conatus in III.7 als "essentia actualis" des Dinges bestimmt. Ein Ding, das Conatus besitzt, existiert, und darin aktualisiert sich seine Wesenheit. Aber zur Definition des Einzeldinges gehört eben, daß seine Wesenheit und Existenz nicht identisch sind. Die "actualis essentia" vereinigt also zwei nicht-identische Zustände. Somit kann das Einzelding nicht mehr nur vom Anderen verschieden sein. Es muß auch von sich verschieden sein.

Mit anderen Worten, der Conatus zeigt, daß statt der verstandesmäßig fixen Identität und der dadurch bedingten äußeren Verschiedenheit die Dinge schon in sich verschieden sind. Es wohnt ihnen eine substantielle Macht inne. Die Trennungslinie, die man früher zwischen Substanz und Modi zu finden glaubte, verläuft tatsächlich im Inneren der Modi selbst. Die Modi sind dynamische Entitäten, sie stehen nicht gleichgültig nebeneinander.

In der Sprache Hegels ausgedrückt: der Unterschied der Dinge, insofern sie einen Conatus haben, bezieht sich auf sich, d.h. der Unterschied ist mit sich selbst identisch, und so gibt es in den Dingen, insofern sie in ihrem Sein zu beharren streben, eine Einheit der Identität und des Unterschiedes. Diese Einheit nannte Hegel weiter den "Grund", doch will ich hier die Analogien zwischen Spinozas Conatusbegriff und der Hegelschen Dialektik nicht weiter verfolgen. Es dürfte als gesichert gelten, daß das Substanz-Modi-Verhältnis bei Spinoza keiner verstandesmäßigen Logik folgt.

Kehren wir nun zu Deleuze zurück. Heinz Kimmerle hat neuerdings die Frage gestellt, inwiefern es zwischen Dialektik und "Denken der Differenz" Berührungspunkte gibt und von welcher Art diese sein könnten. 144 Obgleich Kimmerle meistens Derrida, Heidegger und Foucault im Auge hat, treffen seine allgemeinen Beobachtungen auch auf Deleuze zu. Er bemerkt zuerst, daß der Unterschied als das wesentliche Moment der Nicht-Identität zu betrachten ist, die Verschiedenheit wiederum als das mehr zufällige Moment. Der Begriff der Differenz aber deckt beide Fälle ab und "weist auf die bewegliche semantische Einheit von Unterschied und Verschiedenheit".

Während man nun die Dialektik als Identität von Identität und Differenz bestimmen kann, die zur Lehre von der Einheit der Gegensätze führt, ist der Standpunkt der "Differenzphilosophie" der umgekehrte: es handelt sich da-


144 Kimmerle 1987, S. 110 ff.


137

bei um die Differenz von Differenz und Identität. 145 Das Resultat der dialektischen Entwicklung ist — mindestens bei Hegel -, daß alle Differenzen allmählich unter eine höhere Identität subsumiert werden, so daß endlich Substanz und Subjekt, die anfangs feindlich gegenüberstehen, in der absoluten Idee versöhnt werden.

Nicht so in der Differenzphilosophie. Sie ist nicht an der rationalen Bewältigung der Unterschiede interessiert. Im Gegenteil. Deleuze spricht an einer Stelle vom "Spiel von Differenz und Wiederholung", bei dessen Beschreibung der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges weiter gegangen sei als niemand sonst: "Wenn die Lotterie eine Verstärkung des Zufalls, eine periodische Ergiessung des Chaos in den Kosmos ist, müßte dann nicht der Zufall gerechterweise in alle Etappen der Ziehung Einlaß finden, nicht nur in eine einzige? Ist es nicht lächerlich, daß der Zufall irgendwessen Tod verfügt, daß aber die Umstände dieses Todes — Ausschluß oder Anwesenheit der Öffentlichkeit, Vollstreckung binnen einer Stunde oder eines Jahrhunderts - nicht dem Zufall unterworfen sind? [...] In Wirklichkeit ist die Zahl der Ziehungen unendlich. Kein Entscheid ist endgültig, alle verzweigen sich in andere..." 146

Kimmerle bedauert, wohl mit Recht, daß die Differenz-Philosophen in die Sphäre der sprachlichen Formen übergehen, statt eine logische Analyse ihrer Grundkonzepte zu leisten. Das Spiel der Bedeutungen erweist sich als die zentrale Idee des Differenz-Denkens. Deleuze unterscheidet das menschliche Spiel, das der kategorischen Regel folgt, vom göttlichen Spiel, von dem Nietzsche, Mallarmé und "vielleicht Heraklit" sprachen. Im göttlichen Spiel gebe es keine vorgängige Regel, "so daß mit jedem Mal der gesamte Zufall in einem notwendig siegreichen Spielzug bejaht wird". Und da dieser "Zufall insgesamt" alle möglichen Konsequenzen "einschließt und verästelt", kann man nicht mehr sagen, daß die verschiedenen Spielzüge numerisch verschieden seien. Die Spielzüge "unterscheiden sich jedesmal nicht numerisch, sondern formal". 147

Wir sind also wieder bei der Deleuzianischen Spinoza-Interpretation gelandet: wie dort die Attribute nicht numerisch, sondern lediglich formal unterschieden waren, so gibt es in der Differenz-Philosophie im allgemeinen ein Spiel der Differenzen, das nicht numerisch, sondern nur formal unterschieden ist Deleuze interpretiert den Spinozismus als einen Sonderfall


145 Ebd. S. 111.

146 Defeuze 1968b, S. 153 f.

147 Ebd. S. 351 f.


138

dieser Differenz-Philosophie um: aus ihm wird eine grundsätzlich semantische Theorie, wobei der Substanz die Rolle des semantischen Feldes zugeteilt wird.

Das Problem ist allerdings, daß die im semantischen Felde sich realisierenden Differenzen noch dieses Feld selbst als die allgemeine Folie voraussetzen müssen, die den Hintergrund für die Entfaltung der Differenzen bildet Es ist offensichtlich, daß hier nur ein altes Thema der neuzeitlichen Subjektphilosophie reaktiviert wird: um es in Kants Terminologie auszudrücken, ist die besagte Folie lediglich ein neuer Ausdruck für das Bewußtsein, das das Mannigfaltige verknüpft.

Von da aus wird auch verständlich, warum Deleuze auf die Univozität sowohl im Spinozismus als auch in seiner eigenen Differenz-Philosophie insistiert. Das univoke Sein ist, wie wir schon oben sahen, ein Korrelat des Bewußtseins. Die Univozität soll das Bewußtsein der klassischen neuzeitlichen Subjektphilosophie ersetzen. Der Unterschied zu den früheren Bewußtseinstheorien besteht darin, daß noch z.B. für Kant die Subjektivität ein aktives Agens war, dessen "Spontaneität" die Verknüpfung gewährleistete; demgegenüber liegt in der Differenz-Philosophie lediglich ein passives semantisches Feld vor, ein phänomenologisch zur Univozität reduziertes Bewußtseins-Substrat, auf dessen Oberfläche sich die Differenzen abspielen.

14. Der Status der Negativität

Deleuze sagt von der Negation, sie sei nur eine Kehrseite der Differenz. 148 Hier verteidigt er anscheinend den spinozistischen Standpunkt gegen Hegel. Indem Hegel die Negativität als ein Moment des Geistes begriff, wurde sie zugleich substantialisiert. Das Negative erhielt eine Selbständigkeit, die Hegel vor allem in seiner Realphilosophie dazu trieb, solche Konstrukte wie "List der Vernunft" zu entwerfen. In letzter Konsequenz würde eine derartige, dem Negativen neben dem Positiven zugeteilte gleichberechtigte Rolle zu einer manichäischen Weltansicht führen.

Spinoza ist hier anderer Meinung als Hegel. Er aktiviert die in der Antike und im Mittelalter häufig vertretene Position, nach der das Negative nicht


148 Ebd. S. 297: "Wann taucht das Negative auf? Die Negation ist das umgekehrte Bild der Differenz, d.h. das von unten gesehene Bild der Intensität".


139

als solches existiert, 149 oder daß es nur ein "ens rationis", ein Vernunftding, ist — worauf Spinozas beiläufige Bemerkung im Tractatus de intellectus emendatione hinwies: "Bei der Armut der Sprache kann der Gedanke vielleicht verneinend ausgedrückt werden müssen, obgleich er bejahend ist" (G n, 32). Auf dieser Ebene schließen sich Spinozas und Hegels Negationsbegriffe einander aus — trotz Hegels Begeisterung für das Dictum "Omnis determinatio negatio" (dessen Bedeutung für den Spinozismus oft übertrieben worden ist).

Aber der Status des Negativen als "ens rationis" bedeutet keineswegs, daß man mit ihm nicht arbeiten könnte. Die Vernunftdinge entstehen ja nicht arbiträr aus dem freien Willen, sondern mit Hilfe der Vernunft, und insofern kann man sie ohne Gefahr als technische Hilfsmittel des Erkennens anwenden. 150 Im Tractatus weist Spinoza an zwei Stellen auf den Begriff


149 Vgl. das Gespräch zwischen Alkuin und Pippin:

ALKUIN: Was ist es, das zugleich existiert und nicht existiert?
PIPPIN: Das Nichts.
ALKUIN: Wieso?
PIPPIN: Es existiert dem Namen nach, aber nicht in der Wirklichkeit.
(Zitat nach Dshohadse & Stjashkin 1981, S. 34).

150 Die Begriffe "ens rationis" und "auxilia imaginationis" hat Gueroult (1968:I, S. 413 ff.) in seiner sorgfältigen und zuverlässigen Manier herausgearbeitet. "A la différence des fictions", schreibt er, "qui sont formées 'par la volonté non guidée par la raison', les êtres de raison ne peuvent être produits par la volonté seule et demandent l'aide de la raison. En effet, pour classer les choses perçues sous les rubriques de genre et d'espèce, pour les comparer entre elles, pour figurer les négations par quelque image, il faut que la volonté ait recours à certaines règles rationnelles d'uniformité et de cohérence". Zu den "entia rationis" zählt Gueroult solche Begriffe wie "Gattung" und "Art", "Zeit", "Zahl", "Mass", "Gutes/ Böses", "Vollständiges/ Unvollständiges" usf.

Und weiter: Alle diese "entia", diese "Vernunftdinge" "ne sont en réalité que des artifices subjectifs n'ayant autre fonction que celle d'auxiliaires de l'imagination (auxilia imaginationis), instruments que fabrique l'esprit de l'homme pour pouvoir s'orienter commodément dans l'univers des perceptions imaginatives. C'est pourquoi, bien que ces notions soient sans vérité et ne nous fassent rien connaître, elles sont utiles pour la vie courante [...] Elles sont sans danger si nous savons qu'elles ne sont que des artifices techniques".

Ein paar Seiten später (S. 418) hebt Gueroult hervor, daß die Vernunftdinge "radicalement étrangers aux idées vraies ou adéquates" bleiben. Sie gehören exklusiv der Imagination, nicht der Vernunft an. Man kann Gueroult insofern zustimmen, daß die "entia rationis" tatsächlich Mischdinge sind, doch bereitet eine so schroffe Gegenüberstellung von ratio und entia rationis Schwierigkeiten. Die Vernunftdinge


140

der "Hilfsmittel" (auxilium) für unser Verstehen (G II, 15, 37) hin. Solche Hilfsmittel sind vor allem die Regel der Methode, die man befolgt, damit "der Geist sich nicht durch Unnützes erschöpfe". Obgleich sie uns zu adäquaterer Erkenntnis der Dinge verhelfen, sind sie selbst nicht etwas außerhalb des Bewußtseins Existierendes. Nun, wie ein methodisches Hilfsmittel benützt man auch negative Ausdrücke: "Man hat Dingen, die nur dem Verstande und nicht der Einbildung angehören, oft verneinende Namen gegeben (nomina imposuerunt saepe negativa), wie 'unkörperlich', 'unendlich' usf.; und andererseits hat man vieles, was in der Tat affirmativ ist, nur negativ ausgedrückt, wie 'nicht geschaffen', 'unabhängig', 'unendlich', 'unsterblich' usw., weil man sich diese Sachverhalte nämlich durch ihre Gegensätze leichter vorstellen kann" (G II, 33).

Bedeutet das nun, daß das Negative doch ein "Bild der Differenz" ist, wie Deleuze behauptet? Es ist ein Umweg des Beschreibens, also eine — ideelle, nicht reelle — "Kehrseite" sonst positiver Entität, wenn man so will. Aber doch nicht die Kehrseite einer Deleuzianischen Differenz. Denn diese ist ja nichts anderes als ein selbständig gewordener Sinn. Sie sollte Singularitäten konstituieren, die einander den Rücken zugewendet haben; jede soll nur sich selbst bejahen. Aber das geschieht lediglich dadurch, daß ihr gedanklich die Eigenschaft, "non opposita sed diversa" zu sein, prädiziert wird. Will man sich der scholastischen Terminologie bedienen, kann man sagen, die deleuzianischen Singularitäten sind nicht "formaliter", sondern nur "objective" da. Würde man das im Sinne von Leibniz begreifen, als ein


weisen nämlich darauf hin, was mehreren sinnlichen Individuen gemeinsam ist (wie eben der Begriff "Gattung"). Nun bestehen aber auch die "Fundamente der Vernunft" nach Spinoza aus Begriffen, die "illa explicant, quae omnibus communia sunt" (Eth. V.29 dem.).

Mir scheint, daß hier vielmehr der Gebrauch bestimmt, ob imaginatio oder ratio bei einem ens rationis überwiegt. Meint man z.B., eine Gattung sei ein selbständiges Ding, das regt und schafft, so ist das eine inadäquate Vorstellung (wie in Hegels Beispiel von den Vorstellungen des Kranken, der nach der Frucht begehrt); ist man aber sich dessen bewußt, daß die angewendeten Gattungsbestimmungen vor allem theoretische Konstrukte sind, so ist ein solches Erkennen notwendigerweise vernunftmäßig und adäquat. Mit anderen Worten, die Funktionen der entia rationis, die nach Gueroult ja als "certaines règles rationnels" (S. 415) zu definieren sind, ähneln denen, welche Kant später Funktionen des Verstands nannte - nämlich "das Vermögen der Regeln" (KdrV B 171, 197), die "das Mannigfaltige der Erscheinungen durch Begriffe" verknüpfen (Kdrv B 692). Zur Zeit Spinozas unterschied man zwischen Verstand und Vernunft noch nicht deutlich, was die Ambiguitäten hinsichtlich der entia rationis mindestens teilweise erklärt.


141

Universum von Monaden, deren Nexus auch in letzter Instanz ideell begründet ist, wäre dieses Konzept trotz seiner Aporien noch philosophisch spannend. Aber die Singularitäten Deleuzes haben keine "Reflexion-in-sich", wie die Leibnizsche Monade nach Hegel 151; nur das flache, univoke Sein hält sich im kaleidoskophaften Spiel der Differenzen durch.

Begreift man den ontologischen Status des Negativen als ein "auxilium" der Erkenntnistätigkeit, so hat ein Spinozist nichts dagegen einzuwenden. Dann kann die Negativität zu keiner selbständigen Macht werden, die regt und schafft, wie bei Hegel. Allerdings dürfte man sagen, daß das Bedürfnis nach solchen Hilfsmitteln wegen der Endlichkeit des menschlichen Verstandes enstanden ist. Gott würde wohl nicht solche Hilfsmittel brauchen, d.h. Sachen modo negativo definieren müssen.

Gottähnlich wäre somit der, der immer nur "Ja!" sagen könnte, dem es nicht, wie uns gewöhnlichen, gebrechlichen Menschen, nötig wäre, sich mit negativen Umschreibungen zu behelfen. Im Nietzsche-Buch von 1962 redet Deleuze zuerst der dionysischen Bejahung, die "von keiner Verneinung beschmutzt werden kann", 152 das Wort Zwar stellt sich sofort heraus, daß man auch das "Jasagen des Esels" vermeiden muß, ein Jasagen, das als ein Aufsichnehmen begriffen worden ist, "Bejahung dessen, was ist, als Wahrhaftigkeit des Wahren oder Positivität des Wirklichen". 153 Mit dem Ja und Nein steht es komplizierter, als man anfangs glaubte, und immer feinere Bestimmungen erweisen sich als nötig.

Deleuze fährt fort: "Werden Bejahung und Verneinung einmal als Qualitäten des Willens zur Macht betrachtet, dann wird ersichtlich, daß ihr Verhältnis kein eindeutig-reziprokes ist. Die Verneinung steht im Gegensatz zur Bejahung, wohingegen die Bejahung von der Verneinung abweicht, differiert. Wir dürfen nicht die Bejahung als eine solche denken, die ihrerseits zur Verneinung 'in Gegensatz steht'. Das hiesse, das Negative in sie einzuführen". 154

Anders als Hegel, der die Differenz durch den Gegensatz, durch das Setzen des Entgegengesetzten bestimmte (so daß eine Entität, sagen wir A, seine Identität erst dank dem Vorhandensein von Nicht-A erhielt), will Deleuze das Verhältnis der Singularitäten so sehen, daß eine jede sich selbst affirmiert und von den anderen nur differiert, ohne in Gegensatz zu ihnen


151 Hegel 1969:6, S. 198 ff.

152 Deleuze 1985, S. 193.

153 Ebd. S. 196, 199.

154 Ebd. S. 203.


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zu stehen. Also ein schlicht neutrales Nebeneinander, ohne dialektische Kunstgriffe. In der Nietzsche-Monographie von 1962 wird diese Differenz-Konzeption anhand des Verhältnisses von Herren und Sklaven expliziert. Der Sklave interpretiere ressentimentvoll (und dialektisch!) seine Differenz zum Herrn als einen Gegensatz, während es vom Standpunkt des Herren gesehen keine Gegensätze gibt, nur — im Vergleich zum Sklaven — einen Unterschied in seiner Lage.

Das wäre die Bilanz der ganzen Theorie. Doch läßt das ersehnte philosophische Happy end auf sich warten. In seiner Studie Le Même et l'Autre (1979) wies Vincent Descombes in Anknüpfung an Deleuzes Lektüre des Herrn-Sklaven-Verhältnisses auf das Aporetische in der Entwicklung hin.

Nehmen wir mit Deleuze an, daß die Nicht-Identität von Gegensatz und Differenz vom Standpunkt des Jasagens (der Affirmation) des Herren her gesehen kein Gegensatz, sondern eben Differenz ist. Vom Standpunkt des Neinsagens (der Negation) des Sklaven wiederum ist dieselbe Nicht-Identität ein Gegensatz. Nun kann man die Nicht-Identität dieser zwei Standpunkte entweder als eine Differenz oder einen Gegensatz deuten. Aber wenn dem so ist, und sich die Wahl des Standpunktes als beliebig erweist, ist es dem Jasager nicht mehr möglich, zwischen seiner eigenen Perspektive und der des Neinsagens irgendeinen Gegensatz zu erblicken, sondern nur eine Differenz. Mit anderen Worten, für den dionysischen Jasager gäbe es in letzter Instanz keine Differenz zwischen Differenz und Gegensatz, und für den Neinsager seinerseits wäre es unmöglich, zwischen seinem eigenen Standpunkt (den Standpunkt des Gegensatzes) und dem des Jasagers (den Standpunkt der Differenz) eine Differenz zu erblicken. Die beiden würden also die Nicht-Identität von Differenz und Gegensatz als eine Identität empfinden. 155

Fazit dieses Schlagaustauschs vom Jahre 1962 war also, daß die Dialektik von Identität und Unterschied, der Hegel das zweite Kapitel seiner Wesenslogik gewidmet hat, Deleuze trotz seinen Bemühungen aus dem Felde geschlagen hatte. Deleuze unternimmt deshalb ein wenig später einen zweiten kritischen Anlauf in seiner Auseinandersetzung mit Hegel. Er erklärt 1968 in Differenz und Wiederholung, daß uns die "traditionellen Theorien eine zweifelhafte Alternative aufzwingen": Entweder gibt es kein Nicht-Sein und alles ist positiv (dies ist ungefähr, was Parmenides be-


155 Ich zitiere hier nach der englischen Übersetzung: Descombes 1980, S. 163 ff.


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hauptete). Oder "es gibt Nicht-Sein, das das Negative ins Sein bringt und die Negation begründet". 156

Deleuze eröffnet seine Attacke mit einem Appellieren an die Instanz der "Frage". Ganz wie Platon im Sophistes solle man die Dinge wie Fragen oder Rätsel betrachten. Und er macht einen Vorschlag: "Vielleicht können wir jedoch mit guten Gründen beides zugleich behaupten: daß es Nicht-Sein gibt und daß das Negative scheinhaft ist". Das Nicht-Sein drückt etwas anderes als das Negative aus; es ist "vielmehr das Sein des Problematischen, das Sein des Problems und der Frage", oder noch besser ein "?-Sein". 157

Nun hängen die Frage und der Sinn aufs innigste zusammen. Der Sinn ist immer eine Antwort auf eine Frage, wie Michail Bachtin einmal bemerkte. 158 Im Deleuzianischen "?-Sein", das die Antinomie: "Entweder lauter Positivität oder dann das Existieren des Nichts" angeblich "aufheben" soll (ganz im Hegelschen Sinn!), stecken demnach noch nicht explizit entfaltete Sinngehalte. Anders ausgedrückt: der in der Frage enthaltene potentielle Sinn, der Sinn des Noch-Nicht, wäre also das tertium quod datur, das die aporetische Alternative zwischen einem parmenideischen, durchgängig positiven Sein und dem Sein des Negativen auflöse. Aber ein tertium quod datur aufzuzeigen ist eben dieselbe Prozedur, wie die berüchtigte Negation der Negation Hegels — ein Aufheben zweier Extreme des Gegensatzes in einem höheren Dritten. Und dies geschieht sogar gut hegelisch-idealistisch, denn das Sein des "?-Seins" ist nichts anderes als Sein des Sinns: die Semantik wird ontologisiert. Wohin immer man sich also wenden mag, es scheint, daß Deleuze den Spuk der Hegelschen Denkfiguren nicht los wird. So endet auch der zweite Schlagaustausch mit Hegel mit einer Punkteniederlage für Deleuze.

Von einem "Ende des Anti-Hegelianismus Deleuzes" spricht auch sein Bewunderer Michael Hardt. Ein Bruch mit Hegel scheint beinahe unmöglich, da "jeder Versuch, ein 'Anderer' hinsichtlich des Hegelianismus zu sein, tatsächlich zum 'Anderen' innerhalb des Hegelianismus umgewandelt werden kann". Deleuze folgt hier nach Hardt zwei Strategien. Die erste ist, statt des dialektischen Gegensatzes, der nur partielle Negationen enthält und immer etwas Konstruktives vom Gegenstand der Verneinung übrigläßt, auf


156 Deleuze 1968b, S. 92.

157 Ebd. S. 92 f.

158 Bachtin 1979, S. 350: "Sinne nenne ich Antworten auf Fragen. Das, was auf keine Frage antwortet, ist für uns ohne Sinn". Der Sinn hat nach Bachtin überhaupt immer einen "Antwortcharakter" ("otvetnyj charakter smysla", ebd. S. 350).


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einen nicht-dialektischen Gegensatz zu insistieren, der "mit dem vollständigen Bruch operiert". 159 Dies ist eben der Standpunkt Deleuzes, dem wir oben schon begegnet waren: eine ins Absolute gesteigerte Realdistinktion führt zur "complete rupture" und begründet die Differenz an sich, ohne Bezug zum Anderen. Wir sahen aber auch, daß diese Position letzten Endes wenig ergiebig ist und nicht das leistet, was sie verspricht, nämlich eine Überwindung der Dialektik.

Wohl gerade deshalb ergreift Deleuze ganz einfach die zweite von Hardt genannte Strategie: "die Dialektik zu vergessen". Hardt meint damit die Tatsache, daß Deleuze in seinen späteren Arbeiten immer weniger von Hegel spricht. 160 Wenn die Dialektik schon nicht überwunden wird, kann man sie wenigstens ignorieren.

15. Zwischenbilanz: Deleuzes Spinoza-Bild

Doch dürfte ein anderer Umstand einen zusätzlichen Erklärungsgrund für diese Ignoramus-Attitüde liefern. Die Frage, das "?-Sein", führt uns auf eine Domäne, die überhaupt nur wenig gemein hat mit der traditionellen, Hegelschen, aber auch Spinozistischen Philosophie. Wir stiessen hier erneut auf die Tatsache, daß die Differenz-Philosophie Deleuzes — ähnlich wie der Neostrukturalismus generell, die angelsächsische analytische Philosophie oder die Hermeneutik — "wesentlich Sprachphilosophie ist", wie Manfred Frank feststellt. 161 Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, hier Deleuzes Ausführungen in diese Richtung weiter zu verfolgen, es würde uns überdies vom eigentlichen Thema, von der Bewertung seiner Spinoza-Lektüre, zu weit abbringen. Es hat sich schon herausgestellt, daß ein Grundzug von "Gleitbewegungen" deleuzianischer Interpretation darin besteht, die noch traditionell-metaphysischen Kategorien Spinozas vom Standpunkt der neueren Semantik und Sinntheorie her umzudeuten.

Sofern von einem so chamäleonartigen Gebilde, wie der Deleuzianismus es ist, überhaupt etwas Abschließendes gesagt werden kann, wäre die Bilanz vor allem, daß Deleuzes Kritik an der Dialektik nicht überzeugend erscheint, obgleich sie viele schwache Stellen des Hegelschen Konzepts trifft. Die Problematik des Verhältnisses der Identität und des Unterschieds (der


159 Hardt a.a.O., S. 52.

160 Ebd. S. 53.

161 Frank a.a.O., S. 488.


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Differenz) bewältigt er nicht besser und — was wesentlich ist — nicht anders als die von ihm beschimpften Dialektiker, und dasselbe trifft auf die Denkfigur der Negation der Negation zu, wo ein Drittes die Extreme aufhebt. Vor dieser Folie betrachtet ist sein Versuch, Spinoza zu einem Vorläufer der Anti-Dialektik zu stilisieren, nicht stichhaltig. Spinoza weicht von der Dialektik Hegels ab, aber nicht in Richtung bergsonianisch-nietzscheanischer Differenzphilosophie, sondern darin, daß für ihn das Negative lediglich eine Art auxilium intellectus war, keineswegs aber ein Subjekt der Weltkonstitution, wie bei Hegel.

Nach Deleuze ist der Spinozismus eine "Philosophie der Expression". Die Plausibilität dieser Behauptung hängt davon ab, was man mit "Expression" meint. Tatsächlich ist die Expressivität der Substanz laut Deleuze seiner Univozität untergeordnet, 162 und bei der letzteren handelt es sich wiederum um ein Prädikat, das jedem beliebigen Ding beigelegt werden kann. Solche Prädikate aber müssen den Dingen gegenüber äußerlich bleiben, und so zeigt es sich als das Wesentliche an der Deleuzianischen Differenz-Philosophie, daß die Welt aus Singularitäten besteht, die sich bejahen, jede für sich. Ganz folgerichtig schreibt Deleuze denn auch, sich von Spinoza absagend: "Dies ist es, was die Philosophie der Differenz zurückweist omnis determinatio negatio..." 163 Ursprünglich sei nur die Bejahung, die "affirmation joyeuse".

Doch entsteht für Deleuze hier gleichzeitig mit dem Verwerfen der Einheit oder des Allgemeinen ein altes Problem, mit dem alle "Singularitäts-Philosophien" ringen mußten. Schon Leibniz, der die Priorität des monadischen Prinzips der Differenzialität Deleuzes nicht ganz unähnlich konzipierte, gerät in Schwierigkeiten, wenn er die Verbindung der Monaden untereinander begründen mußte. Dafür postulierte Leibniz seine bekannte Harmonia praestabilita, die das "spinozistische" Substanzprinzip gleichsam bei der Hintertür wieder in seine Philosophie hineinliess.

Auch Deleuze muß eine ähnliche Operation vornehmen, ist doch schon der Begriff einer Welt von lauter Singularitäten in sich widersprüchlich. Damit diese, um eine Welt zu bilden, überhaupt miteinander kommunizieren können, bedarf es eines Mediums. Das Medium, in dem die durch und durch positiven Einzeldinge sich bewegen, ist, wie wir schon gesehen haben, für Deleuze das als univok konzipierte Sein. "Die Wiederholung aber", schreibt er, "ist die einzige verwirklichte Ontologie, das heißt: die Univo-


162 Siehe Fussnote 123.

163 Deleuze 1968b, S. 79.


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zität des Seins". 164 Die damit gewonnene einheitliche Folie für die Gesamtheit der Singularitäten muß Deleuze allerdings mit einem teuren Preis erkaufen: der Begriff der Univozität impliziert, daß die Dinge lediglich als phänomenologisch konstituierte Sinngebilde betrachtet werden. 165 Das führt dazu, daß die Spinoza zugeschriebene "Philosophie der Expressivität" grundsätzlich semantisch und sinntheoretisch ist.

Indem Deleuze die Philosophie Spinozas durch diesen Raster sieht, erhält sie durch eine Reihe sukzessiver "Gleitbewegungen" eine Gestalt, die in mancher Hinsicht nicht nur dem herkömmlichen Bild, sondern auch den eigenen Äußerungen Spinozas ganz gegensätzlich ist. Hatte Spinoza selbst immer die primäre Stellung Gottes in seiner Philosophie eingeschärft, wird aus dem Spinozismus in den Händen Deleuzes nun vielmehr eine Lehre von den expressiven Singularitäten, die, statt von der unendlich seinsmächtigen Substanz produziert zu sein, letzten Endes nur mit einer faden Seins-Univozität zusammengekleistert sind. Aus Spinoza, dem Kritiker der cartesianischen Realdistinktion, ist ein Denker in Realdistinktionen par excellence geworden.

Deleuzes vielleicht größtes interpretatorisches Verzerrungs-Manoeuvre ist, daß er es für notwendig hält, zu beweisen, daß Spinoza ein Exponent solcher Differenzphilosophie ist, die den Begriff der Opposition, des Gegensatzes und somit auch des Andersseins überflüssig mache. Daß dem nicht so ist, erhellt schon aus Definition 5 des ersten Buches der Ethik, wo der Modus expressis verbis als ein Anderssein definiert wird. Deleuze zitiert diese Definition zwar einmal, aber nur einmal in Spinoza - Philosophie pratique und zieht davon keine Schlüsse hinsichtlich der Logik der Differenzen. 166

Deleuze konnte auch gar nichts anderes tun, hätte er sich nämlich dem spinozistischen Begriff des "esse in alio" widersetzt, hätte er eingestehen müssen, daß dieser sich in seiner logischen Bewegung nicht von dem unter-


164 Ebd. S. 376.

165 Eben aus diesem Grunde muß man die Behauptung von Christopher Norris, daß uns Deleuze "a materialist or thoroughly demystified reading of Spinoza's text" liefere, entschieden zurückweisen (siehe Norris 1991, S. 65).

166 Deleuze 1981, S. 118 (dt. Übersetzung, S. 114 f.). Er begnügt sich lediglich mit dem Zitieren dieser Definition, kommentiert aber mit keinem Wort, was ein Sein im Anderen bedeuten konnte. In der Spinoza-Monographie von 1968 ist von dieser Definition überhaupt nicht die Rede; nur an einer Stelle (ebd. S. 65) nennt er sie ganz beiläufig, indem er sagt, daß die Definitionen 1-5 des ersten Buches nur "einfache Nominaldefinitionen" seien.


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scheidet, was Hegel "Andersheit" oder "Bestimmtheit" nannte. An der Idee festzuhalten, die in diesen Begriffen steckt, ist übrigens nicht spezifisch hegelianisch, vielmehr handelt es sich um klassisches philosophisches Allgemeingut, das schon in der Unterscheidung des "Einen" und des "Anderen" in Platons Parmenides enthalten ist

Was übrigens das logische Projekt Deleuzes betrifft, nämlich ein Denken in sich bejahender Differenzen ohne Gegensätze zu entwerfen, so scheint es, daß die "affirmation joyeuse" solcher Differenzen nur als Spiel möglich ist. Demnach liefert es uns eine "Logik der Délire", wie sie uns in den späteren Arbeiten Deleuzes begegnet und nicht ganz uninteressant ist. Aber das ist eine andere Geschichte, auf die wir hier nicht mehr eingehen brauchen.

III.

16. Spinoza ein ethischer Naturalist?

Folgenschwer wird die Deleuzianische Spinoza-Interpretation vor allem auf dem Gebiet der Moralphilosophie. Dank der "Expressivität" könne Spinoza, nach Deleuze, eine Moral, die "die Existenz immer mit transzendenten Werten verknüpft", durch eine naturalistische Ethik ersetzen. 167 Damit entwerte Spinoza alle Werte und erweise sich als ein "Immoralist", Nietzscheähnlich. 168 Der Weg zur menschlichen Vervollkommnung gehe durch die expressive Selbstaffirmation und "Intensivierung" des Subjekts, ohne auf die "transzendenten" Werte der Moral Bezug zu nehmen.

Die Ethik Spinozas ist also "notwendig eine Ethik der Lust" 169 — im Einklang mit dem allgemeinen Charakter des Spinozismus überhaupt, eine Philosophie der Affirmation zu sein. Diese ethische Lust bei Spinoza ist nämlich nach Deleuze "das Korrelat der spekulativen Affirmation". 170 "Die Eliminierung des Negativen läuft praktisch über die radikale Kritik aller auf Unlust basierenden Leidenschaften". 171

Auf den ersten Blick scheint dies eine ganz korrekte Interpretation zu sein. Bedenken erheben sich allerdings, wenn Deleuze uns lehrt, daß Spi-


167 Deleuze 1981, S. 35; dt. Ü., a.a.O., S. 34.

168 Ebd. S. 33; dt. Ü. S. 32.

169 Ebd. S. 42; dt. Ü. S. 40.

170 Ebd. S. 43; dt. Ü. S. 41, hierverbessert.

171 Ebd. S. 126; dt. Ü. S. 121.


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noza eine "vision éthique" eigentümlich ist, wo es immer nur um "Macht und Vermögen, nichts anderes" geht. "Es gibt also Schwache und Starke, Knechte und freie Menschen". 172

Deleuze knüpft hier an die Herren-Sklaven-Analyse seines Nietzsche-Buches an, wo behauptet wurde, daß die Ausgrenzung des Herren vom Sklaven auf einer Differenz ohne Gegensatz gründe. Im Spinoza-Buch vom Jahre 1968 entwickelt er die These weiter: es handle sich zudem um eine "ethische Differenz" statt einer moralischen Entgegensetzung 173 (die dialektisch-hegelianisch ist und somit verdächtigerweise ein Anderes, nämlich Nicht-Moralisches, Böses impliziert). In mehreren Kontexten läßt Deleuze durchblicken, daß sich im spinozistischen Weisen schon der Übermensch Nietzsches ankündige: Nicht vom Guten und Bösen solle man reden, sondern davon, was jenseits dieser Begriffe sich findet. 174

Um aus Spinoza auch im Ethischen einen Vor-Nietzsche zu machen, sind wieder Gleitbewegungen vonnöten. Die erste wird bereits gemacht, indem man bei Spinoza einen vermeintlichen Gegensatz von Moral und Ethik setzt. Deleuze erwägt nicht die Möglichkeit einer nicht-transzendenten Moral, sondern insistiert darauf, daß die moralischen Werte des Guten und des Bösen lediglich "Vernunft- oder Vorstellungsgebilde seien, die ganz und gar von sozialen Symptomen, vom repressiven System der Belohnungen und Strafen abhängen". 175 Die moralischen Werte seien "rein bürgerlich, sozial" 176, während die ethischen Grundpostulate des Spinozismus auf der Natur basieren und somit "vérités éternelles" seien.

Dies ist eine folgenschwere Supposition. Damit gibt Deleuze sich nämlich dem Naturalismus preis. Die "lustvolle Affirmation" des Subjekts scheint sich gänzlich außerhalb der Gesellschaft zu vollziehen. Zwischen den Vorschriften der (gesellschaftlich bedingten) Moral und der ewig-natürlichen Ethik klafft eine Kluft. 177 Deleuze erörtert zwar in den Kapiteln


172 Deleuze 1968a, S. 247, 249; dt. Ü. S. 237, 239.

173 Ebd. S. 249; dt. Ü. S. 239.

174 Ebd. S. 233; dt. Ü. S. 224.

175 Deleuze 1981, S. 77 (dt. Ü. S. 104 f.).

176 Deleuze 1968a, S. 247 ff: "En vérité, les lois morales ou les devoirs sont purement civils, sociaux: seule la société ordonne et défend, menace et fait espérer"; dt. Ü. S. 237.

177 Ebd. S. 248; dt. Ü. S. 238: es geschehe "immer aus ganz anderen Gründen als denen der Moral, wenn die Vernunft (d.h. die naturalistische Ethik — V.O.) etwas empfiehlt oder anprangert". Als Beispiel führt Deleuze Eth. IV.45 und 46 an, wo gesagt wird, daß Haß niemals gut ist; wer deshalb unter der Leitung der Vernunft lebt,


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16 und 17 seiner Spinoza-Monographie das gesellschaftliche Leben, aber seine Behandlung des Themas ist doch durch seinen Naturalismus stark belastet.

Liest man die Vorrede zum vierten Buch der Ethik, begegnet man dort zuerst Stellen, die Deleuzes Interpretation durchaus zu bestätigen scheinen. Spinoza sagt, daß Gutes und Schlechtes nichts Positives in den Dingen an sich bezeichnen, sondern nur "cogitandi modi" seien, die im Bewußtsein der Menschen infolge des Vergleichs der Dinge entstehen. Der subjektive Standpunkt der Bewertung macht, daß eine und dieselbe Sache auf vielerlei Weise zugleich empfunden werden kann. "So ist z.B. eine Musik gut für den Schwermütigen, schlecht für den Trauernden, aber für den Tauben weder gut noch schlecht".

Aber dann fügt Spinoza etwas hinzu, das Deleuzes Schema sprengt: "Obgleich sich nun aber die Sache so verhält, müssen wir doch diese Formulierungen beibehalten. Denn weil ich eine Idee des Menschen bilden will, die wir als Muster der menschlichen Natur vor Augen haben, wird es uns von Nutzen sein, diese Wörter im erwähnten Sinne beizubehalten".

Daß Spinoza die Bildung eines "Musterexemplars" (naturae humanae exemplar) der erstrebenswerten menschlichen Vervollkommnung für nötig


strebt danach, den erlittenen Haß immer durch Liebe zu vergelten. Und dann kommentiert er: dies geschehe "allein aber (uniquement), weil der Haß nicht von der Traurigkeit getrennt werden kann, die er einschließt" (ebd. Fussn.). Die naturalistische Ethik appelliere also an keine moralischen Vorschriften, sondern werde lediglich (uniquement!) vom utilitaristischen Vermeiden der Traurigkeit motiviert. Das Raisonnement Deleuzes scheint hier nicht das Richtige zu treffen. Denn erstens ist die Erkenntnis des Bösen nach Spinoza immer eine inadäquate Erkenntnis, d.h. eine Traurigkeit, die "nicht durch das Wesen des Menschen erkannt werden kann" (IV.64 dem.). Wir können also, folgen wir der Vernunft, nicht nur von der Idee der Traurigkeit motiviert sein, denn sie ist inadäquat, ganz wie auch "wer sich durch die Furcht bestimmen läßt, und Gutes tut, nur um das Schlechte zu vermeiden, nicht unter der Leitung der Vernunft handelt" (IV.63). Zweitens, da die Tugend seine eigene Belohnung ist, ist man einfach tugendlich, weil man sich ihrer erfreut (V.42), nicht aus utilitaristischen Gründen. Drittens aber — und dies ist der wichtigste Einwand — kann es im System Spinozas keine unüberbrückbare Kluft zwischen einer Vorschriften-Moral und einer vernunftmäßigen Ethik geben, weil seine ganze Philosophie dem Grundgedanken folgt, daß es unmöglich ist, total falsche und inadäquate Ideen zu bilden. Eben deshalb sieht Spinoza auch in der religiösen Moral ein Körnchen Wahrheit.


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hielt, 178 spricht dafür, daß seine Ethik nicht so naturalistisch war wie viele annehmen. Hatte Deleuze behauptet, Spinozas Vernunft-Ethik sei keineswegs transzendent, so kommentiert ein anderer französischer Spinoza-Forscher die eben zitierte Stelle folgendermassen:

"Wie uns scheint, schreibt uns die Vernunft eine transzendente Norm vor, ein Sein-Sollen, das sich dem Sein entgegensetzt, ein Ideal, das weit außerhalb unserer empirischen Natur liegt und nach dem wir wie nach einem Ziel streben sollen [...] Wenn wir auch bestenfalls sehr gut verstehen, daß es sich dabei nur um eine Verhaltensmassregel ohne ontologischen Belang handelt, sind wir doch gezwungen, dies in Anspruch zu nehmen so lange wir unsere individuelle Wesenheit nicht erkennen und nicht völlig verwirklichen: die Vernunft ist in ihrem praktischen Gebrauch normativ, weil sie in ihrem theoretischen Gebrauch abstrakt ist". 179

Ich glaube, daß Alexandre Matheron hier insofern das richtige getroffen hat, daß Spinoza tatsächlich eine nicht empirisch zu begründende Norm aufstellt. Matherons Ansicht unterscheidet sich vorteilhaft von der Deutung Deleuzes darin, daß er die nicht-naturalistische Tendenz Spinozas begriffen hat. Doch macht Matheron sich seinerseits der Fehldeutung schuldig, daß er das Sein-Sollen voreilig mit Transzendenz identifiziert.

Die Idee eines menschlichen Musterexemplars ist, wie alles andere, in Gott, aber Gott seinerseits transzendiert uns nicht, sondern ist in uns immanent. Zu sagen, das "naturae humanae exemplar" sei eine transzendente Norm, ist eine unnötige Annäherung Spinozas an Kant Wollte man kantianisch sprechen, wäre das im Muster der menschlichen Natur gegebene regulative Prinzip als ein homo noumenon zu betrachten, und diesen dürfte man wiederum für ein "transzendentales Objekt" 180 halten. Der große Unterschied Spinozas zu Kant aber liegt darin, daß sein noch unfreier, nach der "gewöhnlichen Ordnung der Natur" lebender Mensch, der — nach der Konsequenz dieser Interpretation - Kants homo phaenomenon entsprechen würde, keineswegs unüberbrückbar vom "exemplar" (dem adäquate Ideen


178 Spinoza schließt sich hier einer langen Tradition an. Die antike Rhetorik bediente sich häufig der Beispielfiguren (z.B.: "Cato ille virtutum viva imago" — Cicero, De or. I, ї 18), und im Mittelalter wucherten diese geradezu. Die Divina commedia Dantes systematisiert solche Beispiele in langen Reihen; die positiven heben mit der Darstellung Trajans als gerechtem Herrscher (Purg. 10: 73 ff.) an. Für Dante sind die moralischen Exempla ein "visibile parlare" (Purg. 10:95).

179 Matheron 1988, S. 225.

180 Kant, KdrV B 344.


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besitzenden Weisen) getrennt ist. Es gibt zwar nach Spinoza zwei Ordnungen der Natur — die "gewöhnliche" der modalen Welt, und die göttliche; doch bilden Conatus (als essentia actualis) und Vernunft (als adäquate Gotteserkenntnis) Bindeglieder zwischen beiden, so daß sie nicht getrennt sind.

Tatsächlich reproduzierte Kant die alte Cartesische Antinomie von Natur und Freiheit, wenn er seinen homo noumenon in die Transzendenz verlegte. Bei Spinoza kommt diese Antinomie nicht vor. Darum ist es auch nicht notwendig, das Musterbeispiel des Menschen im Sinne von etwas Transzendentem aufzufassen: es kann auch unter die "auxilia rationis" eingereiht werden. Darauf weist übrigens auch Matheron selbst hin, wenn er sagt, daß die beste Weise, das Muster des Menschen aufzufassen, die ist, ihn nur als Verhaltensmassregel ohne ontologischen Belang zu betrachten.

Gegen Deleuzes Interpretation ist grundsätzlich einzuwenden, daß das Fehlen einer transzendenten Moral nicht zur Schlußfolgerung berechtigt, daß Spinoza ein jenseits des Guten und Bösen bückender Nietzsche-Vorläufer gewesen wäre. Obwohl Gutes und Böses nur bezüglich der Bewertung menschlicher Praxis Gültigkeit haben, ist Spinoza sich darüber im klaren, daß die Prämissen der Ethik auf Vorhandenes zurückgreifen müssen, um den Menschen aus dem Zustand der Passionen heraus zur Freiheit zu führen, und eben darin bewährt sich die Nicht-Transzendenz der Lehre Spinozas: "Unter gut werde ich im Folgenden das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist, uns dem Muster der menschlichen Natur, das wir uns aufstellen, mehr und mehr zu nähern" (Eth. IV. Praef.).

Zweitens ist zu bemerken, daß einmal ganz davon abgesehen, ob dieses Muster "transzendent" ist oder nicht, dennoch feststeht, daß Spinoza es nicht verwirft — entgegen der Deutung Deleuzes, die ja davon ausging, daß der Spinozismus die gesellschaftlich bedingte Moral zugunsten naturalistischer "vérités éternelles" ablehnt Wenn Spinoza vom Annähern des Musters der menschlichen Natur spricht, handelt es sich ganz deutlich um eine gesellschaftliche, in einer menschlichen Gemeinschaft zu realisierende Strategie der Vervollkommnung des Subjekts, für deren Problematik Spinoza keineswegs blind gewesen ist.


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17. Vom Muttermord Neros

Einer deleuzianischen Differenzphilosophie aber muß die Rede von der "Vervollkommnung des Subjekts" zutiefst verdächtig erscheinen, teilt sie doch mit dem französischen "Strukturalismus" 181 und Poststrukturalismus die Ansicht vom Tod bzw. von der Dekonstruktion des Subjekts überhaupt. Von seinen eigenen Intentionen her verfährt Deleuze nur folgerichtig, wenn er die spinozistische Ethik naturalistisch umzuinterpretieren versucht, sie also als eine Lehre hinstellt, in der sich das moralische Subjekt als unnötig erweisen würde.

Um das zu bewerkstelligen, geht er von dem kurzen "Grundriß der Physik" aus, der sich im II. Buch der Ethik in Anschluß an Proposition 13 befindet. In diesem einige Seiten langen Exkurs bietet Spinoza einen Umriß der physikalischen Eigenschaften der Körper und zählt ihre allgemeinsten mechanischen Bewegungsgesetze auf. Diese gelten ausnahmslos für alle Körper, die menschlichen Körper mit einbegriffen: als Teil dieser mechanischen Welt der Modi ist auch der Mensch ganz naturalistisch der "naturae communis ordo" unterworfen.

Und das sollte er laut Deleuze auch bleiben. Denn alles in der Natur, schreibt er, ist nur eine mechanische Zusammensetzung von kleineren Teilen. Auch der menschliche Körper ist aus solchen Teilen zusammengesetzt und der Körper wird seine Natur nicht verändern, auch wenn an die Stelle seiner Bestandteile andere kommen würden, denn was zählt, ist lediglich die Relation der Teile zueinander (vgl. Lemmata 4,5,6,7 nach Prop. II.13). M.a.W: "tout est composition dans la Nature", wie Deleuze es ausdrückt. 182 Daraus folgt nach Deleuze weiter, daß die nicht-transzendente Ethik Spinozas auf dem Begriffspaar "composition — décomposition" aufbaut Dies ergibt dann die folgende Definition des Bösen (bzw. des Schlechten): Es ist immer das, was den Zusammenhang zersetzt, was die Relation der Teile auflöst. 183 So stirbt nach Spinoza der lebendige Körper, "wenn seine Teile


181 Die Anführungszeichen sollen hier sagen, daß ich auf "den ideologischen und modischen Strukturalismus" hinweise, wie z.B. Jörg Albrecht diese "Pariser Erscheinung" versteht, nicht auf die strukturalistische Sprachwissenschaft, die ernst zu nehmen ist und deren Vertreter folglich "den 'ideologischen' Strukturalismus mit kühler Reserve aufgenommen haben" (vgl. Albrecht 1988, S. 176 ff.).

182 Deleuze 1968a, S. 216; dt. Ü. S. 209.

183 Ebd. S. 226: "le mal est toujours une décomposition de rapport"; dt. Ü. S. 218.


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so determiniert werden, daß sie ein anderes Verhältnis von gegenseitiger Bewegung und Ruhe bekommen" (IV.39 schol.)

Eigentlich gibt es nicht Gutes und Böses im allgemeinen, sondern nur etwas, das gut oder schlecht vom Standpunkt eines existierenden Modus ist. 184 Genauer gesprochen, das Schlechte ist immer "ein schlechtes Airfeinander treffen" (mauvaise recontre) 185 — ich stosse auf einen Modus, der mächtiger ist als ich selbst, und diese Begegnung zerstört mich (vermindert mein Vermögen). "Diese Auflösungen sind vom Typ der Einwirkung von Gift auf unseren Körper. Für Spinoza ist das vom Menschen erlittene Böse immer vom Typ der Unverdaulichkeit oder Vergiftung". 186

Die Analogie der Vergiftung entnimmt Deleuze Spinozas Brief an Blyenbergh vom 5. Januar 1665 wie dessen Antwort. Spinoza hatte geschrieben, daß das an Adam ergangene Verbot Gottes, vom Baume zu essen, nur in der Offenbarung bestand, das Essen von diesem Baume werde den Tod herbeiführen - "gerade wie Gott uns durch den natürlichen Verstand offenbart, daß das Gift tödlich ist" (G IV, 93‑94).

Seine Schlußfolgerung, daß das Böse für Spinoza immer vom Typ der Giftwirkung ist, sucht Deleuze mit einem Hinweis auf Blyenbergh zu belegen, der Spinoza am 19. Februar 1665 geantwortet hatte: "Sie unterlassen das, was ich Laster nenne, weil es Ihrer besonderen Natur widerspricht, nicht weil es Laster enthält; sie unterlassen es, wie man von einer Speise sich wegwendet, vor der unsere Natur sich scheut". Hier bricht Deleuze das Zitat ab und läßt den folgenden Satz Blyenberghs weg: "Wer aber das Böse nur unterläßt, weil seine Natur sich davor scheut, darf sich der Tugend wahrhaftig nicht rühmen" (G IV, 141). 187 Der Zitatabbruch läßt den Eindruck entstehen, als ob Blyenbergh Spinoza nur zustimmend resümieren und die Grundidee einer naturalistischen Ethik formulieren würde. Liest man aber den weggelassenen Satz mit, so bleibt klar, daß Blyenbergh eher eine antinaturalistische Position vertritt: natürliche Neigungen an sich machen noch keine Tugend aus.

Wäre Spinoza nun ein waschechter Naturalist in der Ethik, wie es ihm Deleuze unterstellt, müßte er wohl genau diesen Punkt im Briefe Blyenberghs angreifen. Aber in seinem Antwortbrief vom 13. März begründet


184 Ebd. S. 215 f.: "il n'y a pas de Bien ni de Mal dans la Nature en général, mais il y a du bon et du mauvais [...] pour chaque mode existant"; dt. Ü. S. 217.

185 Ebd. S. 226; dt. Ü. S. 218.

186 Ebd. S. 226; dt. Ü. S. 218.

187 Vgl. ebd. S. 226 f.; dt. Ü. S. 218 ff.


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Spinoza statt dessen den Unterschied zwischen Tugend und Laster mit einem Argument, das die Speise- oder Gift-Analogien ganz außer acht läßt. Er vergleicht einen Dieb und einen Gerechten:

"Fragen Sie aber, ob der Dieb und der Gerechte gleich vollkommen (Hervorhebung von mir — V.O.) und glücklich sind, so antworte ich: nein. Denn unter einem Gerechten verstehe ich den, welcher beständig wünscht, daß jeder das Seinige behalte. In meiner Ethik (die noch nicht herausgegeben ist) zeige ich, daß dieses Begehren beim Frommen aus der klaren Erkenntnis, die er von sich und von Gott hat, notwendig hervorgeht. Da nun der Dieb ein solches Begehren nicht hat, so fehlt ihm die Erkenntnis seiner und Gottes, das heißt, er entbehrt das, was uns vor allem glücklich macht." (G IV 150-151).

Hier ist also die Vollkommenheit (perfectio) der eigentliche Maßstab der Tugend und dessen, was gut ist. Wohl bedeutet Zersetzung (décomposition) einen Übergang zu weniger Vollkommenheit und ist insofern schlecht. Soweit hat Deleuze natürlich recht. Aber da Spinoza zugleich die Vollkommenheit mit der "Erkenntnis seiner und Gottes" in Zusammenhang gebracht hat, ist es offensichtlich, daß die Deutung spinozistischer Ethik ausschließlich im Lichte der Zersetzungs- und Vergiftungs-Analogien zu ihrer naturalistischen Verflachung führt. Der Unterschied von Spinoza und Blyenbergh liegt vor allem darin, daß der ethische Naturalismus schon an sich — verglichen mit der traditionellen transzendenten Bewährung der Tugend, dem christlichen Gott — Blyenbergh verdächtig erscheint, während Spinozas Projekt eher auf eine immanente Aufhebung des Naturalismus zielt.

Aber nehmen wir mit Deleuze an, daß die spinozistische Ethik nicht nur in ihrem Ausgangspunkt, sondern auch in ihren letzten Resultaten wirklich rein naturalistisch ist: Worin bestünde dann die böse Absicht?

Die böse Tat drückt an sich keine Wesenheit aus. Nichts, was an einer solchen Tat Positives ist, enthält etwas, von dem man sagen kann, daß es böse ist Wenn ich meinen Nächsten prügle, so besteht die Handlung rein physisch darin, "daß der Mensch seinen Arm hebt, die Hand schließt und den ganzen Arm mit Kraft rückwärts bewegt"; dies ist, sagt Spinoza, eine Tugend (virtus), die "sich aus dem Bau des menschlichen Körpers erklärt" (Eth. IV.59 schol.). Hätte man z.B. die Absicht, Eisen zu schmieden, so fiele keinem ein, diese körperlichen Bewegungen zu tadeln, im Gegenteil. Dieselbe Handlung kann also ebensogut mit adäquaten wie auch mit inadäquaten Vorstellungen vereinigt werden (vgl. II.22 sqq.), d.h. man kann sowohl durch verworrene bildliche Vorstellungen (ex ... imaginibus) der


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Dinge, wie durch klare und bestimmte zu einer und derselben Handlung determiniert sein.

Die böse Absicht einer Handlung, schlußfolgert Deleuze, besteht also allein darin, daß ich "das Bild dieser Handlung mit dem Bild eines Körpers verbunden habe, dessen Zusammenhang durch diese Handlung zerstört wird". 188

Dies kann mit dem berühmten Beispiel zweier Muttermorde, dem des Orest wie dem Neros, illustriert werden. Orest ist nicht schuldig, obgleich er seine Mutter Klytaimnestra tötete, denn Klytaimnestra hatte zuvor Agamemnon ermordet und dadurch brachte sie "sich in eine Situation [...], die mit derjenigen Orests nicht mehr verträglich sein konnte". Orests Tat war eine gerechte Rache für seinen Vater und kein Verbrechen, weil sie an das Imago Agamemnons "als ewige Wahrheit, mit der sie sich verband", geknüpft war. 189

Nero dagegen macht sich schuldig durch den Mord an seiner Mutter Agrippina, "weil er Agrippina nur aus Bösartigkeit (lui fallut de la méchanceté) festgenommen hat, in einem mit dem seinen absolut unverträglichen Zusammenhang, und um das Bild Agrippinas mit dem Bild einer Handlung zu verbinden, die sie zerstören würde". 190 Mit Recht bemerkt Deleuze, daß Blyenbergh Spinoza missverstanden hat, wenn er geglaubt hatte, daß nach Spinoza, in dem Masse, als dieses eine Wesenheit ausdrückt, aus dem Bösen Gutes werde, aus dem Verbrechen eine Tugend; denn in Wirklichkeit drückt das Verbrechen keinerlei Wesenheit aus. 191

So schön diese Interpretation auf den ersten Blick scheinen mag, ihr ist schwerlich zuzustimmen. Mindestens zwei Einwände drängen sich auf. Der erste: Deleuze, der stark auf Spinozas Naturalismus setzt, misst merkwürdigerweise dem freien Willen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der bösen Absicht bei. Sagte er doch in der soeben zitierten Stelle: Nero nahm nur aus Bösartigkeit Agrippina fest usf. Dieses "nur" (lui fallut) besagt nicht, daß Nero von irgendwelchen äußeren Ursachen determiniert war,


188 Ebd. S. 228; dt. Ü. S. 220, Hervorhebung im Original. Ähnlich, wenn auch deutlicher, formuliert Deleuze in Spinoza - Philosophie pratique (ebd. S. 75, dt. Ü. S. 103): "Sogar das Böse, das ich tue [...] besteht nur darin, daß ich das Vorstellungsbild (imago) eines Gegenstandes, das dieser Haltung nicht standhalten kann, ohne sein konstitutives Verhältnis zu verlieren, assoziiere".

189 Deleuze 1981, S. 52 (dt. Ü. S. 49).

190 Deleuze 1968a, S. 229; dt. Ü. S. 220.

191 Ebd. S. 229; dt. Ü. S. 221.


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seine Mutter scheel anzusehen; der Sinn der Formulierung ist vielmehr, daß Nero seine Mutter in ein Verhältnis setzte, das absolut unvereinbar war mit dem seinigen, und darum mußte Nero böse sein. Mit anderen Worten: Nero hat, allem Anschein nach, aus freiem Willen beschlossen, seine Mutter in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen.

Doch nehmen wir an, daß dies nur eine ungeschickte Formulierung seitens Deleuze ist. Der zweite Einwand ist gewichtiger. Nach Spinoza kann das Bild (imago), das es im Bewußtsein des Täters gibt, nicht den ethischen Charakter einer Handlung allein bestimmen. Denn an und für sich betrachtet, enthalten die Bilder der Imagination keinen Irrtum, mithin nichts Negatives (vgl. II.17). Um bestimmen zu können, ob eine Imago der Einbildungskraft wahr ist oder nicht, d.h. um zu wissen, ob das Verhältnis des anderen Modus, dem ich begegne, mit dem meinigen wirklich vereinbar ist, bedarf es der Vernunft, die allein die Richtschnur für die Bewertung liefern kann: "Es ist aber zu bemerken, daß wir beim Ordnen unserer Gedanken und Vorstellungen immer darauf achten müssen, was in jedem Ding gut ist, damit wir so stets durch den Affekt der Lust zum Handeln bestimmt werden" (V.10). Hier sagt Spinoza also, daß man schon von vornherein irgendeine Auffassung vom Guten haben muß, unabhängig von den jeweiligen Imagos.

So kann Orest auch nicht einfach ein Imago von Agamemnon "als ewige Wahrheit" besessen haben, wie Deleuze meint; denn ewige Wahrheiten werden überhaupt nicht aus der Imagination geschöpft, sondern aus der Vernunft. Was Gutes ist, bestimmen wir durch Vernunft. Wie Spinoza sagt, ist das Gute das, von dem wir "gewiß wissen (certe scimus), daß es uns nützlich ist" (Eth. IV. def. 1). Man kann aber dessen nicht auf der Ebene der bloßen Imagination gewiß sein. Fehlt die urteilende Vernunft, wird man nicht bestimmen können, welche Begegnung zweier aufeinandertreffender Körper "schlecht" ist und welche nicht

So sind auch die Worte Spinozas zu interpretieren, als er — des Drängens von Blyenbergh überdrüssig geworden — im Brief vom 13. März 1665 schreibt: "Worin also bestand das Verbrechen Neros? Lediglich darin, daß er durch diese Tat seine Undankbarkeit, seine Grausamkeit und seinen Ungehorsam darlegte" (G IV, 147). "Undankbarkeit" (ingratitudo), "Grausamkeit" (immisericordia) und "Ungehorsam" (inobedientia) sind, wie man aus den lateinischen Benennungen leicht sieht, Negationen der entsprechenden Tugenden. An sich enthalten sie nichts Positives, und man kann auf sie erst


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verweisen, wenn die vernunftgemässen positiven Tugendbegriffe formuliert sind.

Neros Verbrechen bestand also nicht darin, daß er vom Zusammenhang seiner Mutter eine Imago hatte, die mit dem seinigen unvereinbar war, so daß er entsprechend danach handelte, sondern darin, daß er seine Undankbarkeit, Grausamkeit usf. bloßlegte. Von diesen schwebten ihm natürlich keine Imagines vor, als er seine Tat vollzog — wie der Verbrecher übrigens im Moment der Ausführung kaum eine klare Vorstellung vom Charakter seiner Tat hat.

18. Das "Quelque chose", oder das "Positive" im Bösen

Doch ist Deleuze ein scharfer Denker, und das Mangelhafte in einer naturalistisch stilisierten Ethik entgeht ihm keineswegs. Interessanterweise beginnt er eben an dieser Stelle zu schwanken. Von seiner eigenen naturalistischen Interpretation Spinozas in die Enge getrieben, fangen die Argumente Blyenberghs an, ihm überzeugend zu erscheinen. Den Sinneswandel sieht man deutlich in Deleuzes späterem Buch Spinoza — Philosophie pratique (1970, erweiterte Neuauflage 1981), das im wesentlichen aus der Überarbeitung einiger Kapitel des Spinoza-Buches vom Jahre 1968 besteht Hatte Deleuze 1968 nur vorübergehend darüber nachgedacht, das Böse könne — wie Blyenbergh meinte - im Affekt der Unlust residieren, der ja im Übergang des Menschen von einer größeren zu einer geringeren Vollkommenheit besteht (vgl. Eth. III Aff. def. 3) 192, so behandelt er im neuen Buch die Problematik eingehender.

Nach Spinoza existiert das Böse überhaupt nicht, und Blyenbergh protestiert dagegen. Deleuze schließt sich diesmal Blyenbergh an und wittert Inkonsequenz bei Spinoza: "Insistiert er doch selbst in der Ethik auf der Realität des Übergangs zu einer geringeren Vollkommenheit: Unlust'. Hier liegt etwas vor (il y a là quelque chose), das sich weder auf den Mangel einer größeren Vollkommenheit, noch auf den Vergleich von zwei Vollkommenheitszuständen zurückführen läßt. In der Unlust gibt es etwas, das nicht reduzierbar und weder negativ noch äußerlich bedingt ist: ein Übergang, der gelebt und real ist Eine Dauer". Diese Dauer existiert und bildet "das letzte Refugium des Schlechten". 193


192 Deleuze 1968a, S. 230; dt. Ü. S. 221.

193 Deleuze 1981, S. 56 f. (dt. Ü. S. 53).


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Mit anderen Worten, das Böse (bzw. das Schlechte) ist nicht bloß Negation, meint Deleuze: es erhält Dasein und Dauer im Affekt der Unlust, die definitionsgemäß Übergang zu einer geringeren Vollkommenheit ist. Deleuzes Argument ist hier ganz ähnlich wie das von Pierre Macherey, von dem wir im vorigen Essay gesprochen haben. Sogar die Wortwahl beider ist ähnlich: beide finden, daß es im Negativen dennoch "etwas" (quelque chose) gebe, das Positivität zu besitzen scheint. 194 Symptomatisch ist auch, daß Deleuze ebensowenig wie Macherey näher definieren kann, worin eigentlich dieses "quelque chose" besteht.

Es ist dies ein Gedankengang, der eine weitere Annäherung von Spinoza und Nietzsche ermöglicht, meinte Nietzsche ja, daß das Böse Positivität besitzt. Nur ist er mit dem authentischen Spinoza unvereinbar. Wenn Spinoza den Übergang zur geringeren Vollkommenheit, d.h. den Affekt der Unlust, als einen "Akt", mithin als ein Wirkliches definiert, dann meint er nicht, daß dieses Wirkliche aus dem Geringer-Werden der Vollkommenheit als Negation bestünde. Im Gegenteil, wir können Unlust nur empfinden, weil uns trotz Kraftminderung noch positives Vermögen übriggeblieben ist. 195 Anders ausgedrückt, man kann das Vorhandensein des Übergangs (transitio) nicht aus der Privation ableiten, sondern aus dem Positiven. Deleuze begeht hier einen Fehler, der dazu führt, daß sich das Böse zu etwas Irreduziblem verwandelt.

Die "gleitende" Spinoza-Hermeneutik Deleuzes scheint somit in einen Widerspruch zu münden. Lobte Deleuze anfänglich Spinoza dafür, daß dieser alles Negative als Folge eines Ressentiment-Denkens abweise, so findet er am Ende etwas "unreduzierbar" Negatives bei Spinoza selbst. Vielleicht


194 Siehe dazu meinen Althusser-Essay in diesem Band. Macherey war der Ansicht, daß es in der inadäquaten Erkenntnis, obgleich sie nach Spinoza aus der subjektiven "cognitionis privatio" besteht (H.35, vgl. n.33), dennoch "etwas" (quelque chose) gebe, das nicht rein subjektiv ist und somit "vrai a sa manière" sei.

195 Deleuze zitiert selbst (Deleuze 1981, S. 56, dt. Ü. S. 53, 172) die allgemeine Definition der Affekte, die in der Tat gegen seine Interpretation spricht. Dort sagt Spinoza zur Kraftminderung im Unlustaffekt: "Mit den Worten: 'eine größere oder geringere Kraft zu existieren, als vorher' meine ich nicht, daß die Seele die gegen wärtige Verfassung des Körpers mit einer früheren vergleicht, sondern daß die Idee, die die Form des Affekts ausmacht, vom Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher" (Eth. III. Aff. gen. def., explic.). Nach dieser Definition gibt es in der Unlust nichts Irreduzibles im Sinne Deleuzes. Die Unlust (Tristitiae affectus) ist nichts als der Realitätsverlust, den die Seele registriert.


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ist dies eben das "monströse Kind", dessen Zeugung Deleuze zu seinem Ziel erklärt hatte. Allerdings beweist die Geburt des deleuzianischen Homunkulus, daß es Deleuzes "expressivem" Deutungsversuch nicht anders ergeht als dem Projekt Nietzsches: Der Nihilismus wird nicht überwunden.

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