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"Logik der Differenz" statt Dialektik: Gilles Deleuzes
Spinoza-Hermeneutik
I.
1. Ein poststrukturalistischer Differenzphilosoph
Gilles Deleuze ist, darin sind sich die meisten einig, ein
origineller Philosoph; hinsichtlich der Frage aber, ob es eine Originalität
im guten oder schlechten Sinne sei, gehen die Einschätzungen auseinander.
Gewöhnlich wird der inzwischen schon emeritierte Professor der Pariser Vincennes-Universität
zusammen mit Foucault, Lacan, Lyotard und Derrida den "Neo-" oder "Poststrukturalisten"
zugerechnet. Doch ist diese Bezeichnung, wie Manfred Frank bemerkt, ziemlich
ungenau: es handelt sich um eine recht divergente Strömung französischen
Geisteslebens "im Vorfeld des Mai '68" — vielleicht sollte man bescheidener nur
von den "neuen Parisern" sprechen. 1
Als gemeinsamer Nenner für dieses intellektuelle Gebilde gilt jedoch,
erstens, daß es die theoretischen Ansätze des klassischen Strukturalismus
(Saussure, Lévi-Strauss) weiterführt — und sie häufig zugleich
umkehrt; und zweitens, daß an Nietzsche angeknüpft wird — wenn auch
dies in einer anderen Weise als in der herkömmlichen Lebensphilosophie.
Ist der Neostrukturalismus an sich schon eine ambivalente und schwer durchschaubare
Erscheinung, so trifft dies offenbar in besonderem Masse auf Deleuze zu, der
den Ruf eines philosophischen Einzelgängers genießt. Erst in den letzten
Jahren haben Übersetzungen seiner Arbeiten in andere Sprachen zu erscheinen
begonnen, und wenn auch Michel Foucault einst (1970) von seinem Freunde auch
prophezeite, daß "eines Tages das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein
wird" 2, so ist der Ruhm Deleuzes auch heute nicht einmal annähernd
so groß wie der Foucaults oder Derridas. Dazu dürfte die eigentümliche
"deleuzianische Trockenheit", eine Darstellungsweise, die zugleich sowohl luzid
als auch undurchschaubar ist, beigetragen haben.
1 Frank 1984, S. 20 ff.
2 "Un jour, peut-être, le siècle sera
deleuzien". Michael Foucault, Theatrum Philosophicum, in: Critique
282, Paris 1970, deutsch in: Deleuze & Foucault 1977, S. 21.
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"Auch seine Einstellung zum eigenen Werk führt zu einem ähnlichen
Ergebnis", schreibt Jean-Jacques Lecercle. "Die verblüffende Agilität,
womit er von Gegenstand zu Gegenstand springt, von der abstrusen Philosophie
zum modernen Roman, die Ungeniertheit, mit der er sowohl den Leser als auch den
zu kommentierenden Text behandelt — das erweckt Faszination, aber auch Widerspruch.
Ist er seriös? Meint er wirklich, was er sagt?" 3
Heinz Kimmerle trifft den Kern am besten, wenn er Deleuze einer Strömung
zurechnen will, die er "Philosophie der Differenz" nennt. Obgleich die Bezeichnung
nicht problemlos ist, "kann man wohl Heideggers kleine Schrift Identität
und Differenz" als "Gründungsdokument dieser Denkarbeit" betrachten.
Heidegger kritisiert die vorherrschende Tendenz europäischer Philosophie
seit Platon, alles "ad unum vertere" (auf Eines hin zu wenden), was zum Verlust
des Besonderen, des Nicht-Identischen geführt habe. 4 Nur, nimmt
man das Programm der Differenzphilosophie ernst, ist ihre Kennzeichnung als Philosophie
problematisch, da das begriffliche Denken auf Identifizieren, dem Gegenteil der
Differenz, beharrt. Wie dem sei: die Rehabilitierung der Differenz, des Einmaligen,
des Singulären ist ein Leitmotiv der Produktion Deleuzes. In den letzten
Jahren hat man sich über ihn und seine "Logik der Differenz" auch außerhalb
Frankreichs in wachsendem Masse zu interessieren begonnen, wovon besonders die
in den 90er Jahren erschienenen Übersetzungen zeugen. 5
So ist Deleuze beispielsweise für Manfred Frank offensichtlich ein wichtiger
Philosoph, er hätte ihm wohl sonst in seiner Darstellung des französischen
Neostrukturalismus nicht so viel Raum gewidmet. Zur gleichen Zeit aber ist Frank
sich mitunter nicht sicher, ob er es nicht doch mit einem Scharlatan zu tun habe.
Besonders verdächtig erscheinen ihm Deleuzes letzte Arbeiten, die zusammen
mit Félix Guattari verfaßten Anti-Oedipe und Mille Plateaux.
Nicht nur, daß der Foucaultsche Ansatz übertrieben wird;
3 Lecercle 1985, S. 91.
4 Kimmerle 1988, S. 7 f. Andere
Vertreter der "Philosophie der Differenz" sind nach Kimmerle Foucault, Lyotard,
Derrida, Julia Kristeva und Luce Irigaray.
5 Um nur die wichtigsten zu nennen: Die Spinoza-Monographie
(1968) erschien auf Englisch 1990, auf Deutsch 1993 (Spinoza und das Problem
des Ausdrucks in der Philosophie). Difference et répétition erschien
ebenfalls ursprünglich 1968 und wurde 1992 ins Deutsche übersetzt (Differenz
und Wiederholung) — beide beim W. Fink Verlag, München. Auch die Bergson-
und Hume-Monographien liegen in neuen Verdeutschungen vor (1989, 1993), und von
Logique du Sens (1969) gibt es eine amerikanische (The Logic of Sense, New York:
Columbia University Press 1990) und deutsche Ausgabe (1993).
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Frank wittert auch im "anarchistischen touch"
Deleuzes Verbindungen zur Nouvelle Droite und zu "faschistisch eingefärbten
Neovitalismen". 6
Frank ist nicht der einzige, der Deleuze gegenüber eine gewisse Ratlosigkeit
an den Tag legt. Schon vor mehr als zehn Jahren vertrat auch der bundesdeutsche
Spinoza-Forscher Konrad Hecker die Ansicht, daß Deleuzes 1968 in Paris erschienenes
Buch Spinoza et le Problème de l'Expression "ohne Zweifel zu den
wichtigsten neueren Untersuchungen über Spinoza" gehöre. Fast im gleichen
Atemzug aber mußte Hecker konstatieren, daß Deleuzes Spinoza-Buch eine
Interpretation sei, die "unter derart pauschalen Stilisierungen leide", daß
"von einer werkgetreuen Auslegung des tatsächlich Formulierten kaum noch
die Rede sein kann". 7
2. Gleitbewegungen und von hinten gemachte Kinder
Deleuze würde sich wohl nur freuen, zu hören,
daß es ihm gelungen ist, gewissenhafte deutsche Professoren zu verblüffen.
Er hat selbst eingestanden, daß es seine Absicht beim Schreiben der Philosophen-Monographien
gewesen sei, mit dem jeweiligen Klassiker gleichsam einen coitus a tergo zu
bewerkstelligen, also einen Akt, der nach Volksüberlieferung Missgeburten
hervorbringt: "Ich stellte mir vor, hinter den Rücken eines Autors zu gelangen
und ihm ein Kind zu machen, das sein eigenes und trotzdem monströs wäre.
Es ist sehr wichtig, daß es sein eigenes ist, weil es nötig ist, daß
der Autor wirklich all das sagt, was ich ihn sagen lasse. Aber es war auch wichtig,
daß das Kind monströs ist, weil er alle Arten von Dezentrierung — Gleitbewegungen,
Brüchen, geheimen Absonderungen — durchlaufen mußte, die mir beliebten".
Nur Nietzsche bilde davon eine Ausnahme. Es sei "unmöglich, ihn einer ähnlichen
Behandlung zu unterziehen. Er ist es, der Euch von hinten Kinder macht". 8
Was für ein Kind macht Deleuze mit Spinoza?
Die Frucht seines Umgangs ist das eben genannte Spinoza-Buch vom Jahre 1968,
dessen Material er später für das kleine Bändchen Spinoza -
Philosophie pratique (1970, erweiterte Neuauflage 1981) verwendet hat. 9
Aber schon in seiner Nietz-
6 Frank, a.a.O., S. 434.
7 Hecker 1978, S. 59 f.
8 Deleuze 1980, S. 12 f.
9 Das französische Original erschien in Paris
bei den exklusiven Editions de Minuit. Es besteht im Grunde nur aus einigen Auszügen
aus der Spinoza-Untersuchung.
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sche-Studie vom Jahre 1962 schlug Deleuze den Grundtenor
an, indem er Spinoza in eine Tradition plazierte, die in Nietzsche gipfeln soll:
"Lukrez, der die Störung der Seele aufdeckte und jene bloßstellte,
die dieser Störung bedürfen, um ihre Macht zu festigen — Spinoza, der
den Trübsinn und dessen Ursachen aufdeckte und schließlich jene anprangerte,
die inmitten dieses Trübsinns ihre Macht errichten — Nietzsche, der das
Ressentiment, das schlechte Gewissen und die Macht des Negativen bloßstellte,
die ihnen zugrunde liegt". 10 Somit schließen Spinozas praktische
Thesen, die seine Philosophie zum Skandal gemacht haben, "eine dreifache Anklage
ein: die des 'Gewissens/ Bewußtseins', die der Werte' wie der 'trübsinnigen
Leidenschaften'. Hier liegen die drei großen Ähnlichkeiten mit Nietzsche". 11
Carlo Vinti gesellt Deleuze also zurecht anderen "nietzscheanisierenden" Spinoza-Deutern
zu, vor allem Antonio Negri. 12 Beiden ist zudem eine scharfe kritische
Ablehnung der Dialektik gemeinsam; laut Deleuze ist dies sogar die Form des Philosophierens,
die er am meisten hasst. 13 Aber während Negri noch im Kielwasser
des Marxismus — wenn auch eines voluntaristisch geprägten — segelt, ist
die Hermeneutik Deleuzes viel eigenwilliger. Um aus Spinoza einen Vor-Nietzsche
zu stilisieren, bedient er sich der Methode, daß er sich angeblich nur auf
das Authentische beim dargestellten Klassiker stützt, aber diesem zugleich
"Gleitbewegungen, Brüche, geheime Absonderungen" unterschiebt.
Ein Beispiel: Deleuze zeigt zuerst ganz richtig, wie Spinoza in seiner Ethik
die menschlichen Leidenschaften analysiert, wenn er ein trostloses Bild der
im leidenden Zustand lebenden Menschen malt. Aber dann folgt die Deutung, die
"Gleitbewegung": Tatsächlich mache Spinoza nach Deleuze nichts anderes,
als Nietzsche zwei Jahrhunderte später. Schon Spinoza "zeichnet das Porträt
des Ressentiment-Menschen", der von trübsinnigen Leidenschaften zum Haß
gegen das Leben gebracht wird 14
vom Jahre 1968, die um einen "Index
der Grundbegriffe der Ethik" ergänzt worden sind. 1988 kam
eine deutsche Übersetzung "Spinoza — Praktische Philosophie" (auch diese
beim Merve Verlag, West-Berlin) heraus, auf die ich mich in der Folge beziehen
werde. Die Übersetzung hat leider ihre Mängel, die ich gegebenenfalls
nach dem Original korrigiert und in Fussnoten vermerkt habe.
10 Deleuze 1985, S. 205 (das französische
Original: Nietzsche et la philosophie, Paris 1962).
11 Ebd. S. 27.
12 Vinti 1984, S. 155.
13 Deleuze 1980, S. 12.
14 Deleuze 1980, dt. Übersetzung, S. 37.
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Darauf würde ein borniert-gewissenhafter Spinoza-Forscher
allerdings erwidern, daß der wirkliche Spinoza — anders als Nietzsche -
nie in herabsetzender Weise von den unter der drückenden Last der Leiden
lebenden Menschen gesprochen habe. "Denn wenn es auch unwissende Menschen sind,
so sind sie doch Menschen" (Eth. IV.70 schol.). Eben weil
nach Spinoza alle Menschen die gleiche Möglichkeit zur Bildung adäquater
Ideen und damit auch zur Vervollkommnung haben, kann man in seiner Philosophie
die Menschheit nicht nietzscheanisch in unvermittelt nebeneinander stehende "Ressentiment-Menschen"
und "Herren" teilen.
Doch würde Deleuze eine derartige Kritik wahrscheinlich
nur mit einem Achselzucken quittieren: er ist nicht primär um eine historisch
treue Widergabe der Ideen Spinozas bemüht. Michael Hardt verteidigt den
deleuzianischen Lektüre-Typus mit der Bemerkung, er wähle zum Gegenstand
seiner jeweiligen philosophischen Studie nur "eine sehr spezifische Frage, die
seine Sichtweise fokussiert und bestimmt". 15 Dies müsse man in
Betracht ziehen, damit die verschiedenen Projekte nicht vermengt werden. 16
Zugleich aber positioniert auch Hardt Deleuzes Oeuvre in den Rahmen des Poststrukturalismus
und betrachtet die Frage: "How to evade a Hegelian foundation?" als grundlegend 17.
Diesbezügliche Leitmotive wird der Leser bei Deleuze aber nur mühselig
herausfinden, falls er sich lediglich auf die Lektüre einzelner Werke beschränkt.
Für unser Interesse an der Spinoza-Monographie ist es daher ratsam, die
zur gleichen Zeit erschienenen Texte Différence et répétition
(1968 hier fortan als Deleuze 1968b zitiert) und Logique du sens
(1969) in die Betrachtung miteinzubeziehen, zumal sie alle eine Einheit bilden:
das erstgenannte Buch ist der Hauptteil der Habilitation Deleuzes, während
die Spinoza-Arbeit den zweiten Teil ausmacht. Alle drei Werke haben ein gemeinsames
philosophisches Programm — eine Logik der Differenz zu entwerfen, die sich subversiv
versteht. In den späteren Arbeiten Deleuzes, ins-
15 Hardt 1993, S. 22.
16 Ebd. S. 23.
17 Ebd. S. x. Im französischen Postmodernismus
sei Deleuze nach Hardt "the most important example to consider [...], because
he mounts the most focused and precise attack on Hegelianism". Doch entgehen
Hardt auch verwandtschaftliche Züge nicht: "in his effort to establish Hegel
as a negative foundation for his thought, Deleuze may appear to be very Hegelian"
(ebd. S. xi). Über die Aporien eines der artigen antidialektischen
Begründungsversuchs der Seinsproblematik, der dazu führt, daß
die Dialektik doch in Gestalt des "Anderen" sich geltend macht, siehe die Abschnitte
13 und 14.
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besondere in Anti-Oedipe (1972) und Mille Plateaux
(1980), die er zusammen mit Félix Guattari verfaßt hat, ufert diese
"Differenzphilosophie" dann in eine Theorie vom energetischen Flux aus, die an
eine radikalisierte Neuauflage des Vitalismus Bergsons erinnert. Bei der Verwirklichung
dieses Programms ist Spinoza letzten Endes bloß die Rolle eines Statisten
zugedacht.
Ungerecht wäre es aber, bei Deleuze nur eine Absicht zum "épater
le bourgeois" zu vermuten. Was er tut, ist programmatisch. Er arbeitet aus der
Überzeugung heraus, daß die bisherige akademische Philosophiegeschichtsschreibung
eine repressive Rolle gespielt hat. Im Vorwort zu Differérence et répétition
erklärt er: "Die Suche nach neuen philosophischen Ausdrucksmitteln wurde
von Nietzsche eingeleitet und muß heute entsprechend den Neuerungen in manchen
anderen Künsten, im Theater oder im Film etwa, fortgesetzt werden [...]
Die Philosophiegeschichte muß, wie uns scheint, eine ganz ähnliche
Rolle wie die Collage in einem Gemälde übernehmen [...] Man
sollte dahin gelangen, ein wirkliches Buch der vergangenen Philosophie so zu
erzählen, als ob es ein imaginäres und fingiertes Buch wäre."
Die neuartige Philosophiegeschichte vergleicht Deleuze mit den imaginären
Büchern in den Novellen des Jorge Luis Borges, der auch wirkliche Bücher,
wie beispielsweise Don Quixote, als imaginäres Buch behandelt;
dank solcher Interpretation werden die Texte eine "Doppelexistenz" führen
und "einem doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten
und des gegenwärtigen Textes entsprechen". 18
Die "provokativen", doppelbödigen Interpretationen
klassischer Autoren sollten Deleuze zufolge einem emanzipatorischen Zweck dienen,
um eben eine "Kultur der Freude" zu fördern und die Macht zu denunzieren. 19
Seine dabei angewandte methodische Spezialität besteht darin, aus verschiedenen
Denkern das herauszuschälen, was den Rationalismus in Frage stellt. 20
Dementsprechend findet er auch bei Spinoza neben und hinter dem vernünftelnden
Gerüst von Definitionen, Propositionen und Demonstrationen eine zweite,
"vulkanische und diskontinuierliche" Kette der Schoben. 21 In
18 Deleuze 1968b, dt. Ü., S. 14.
19 Deleuze 1980, S. 12.
20 So wird Deleuze treffend charakterisiert z.B.
von Krause-Jensen 1983, S. 41.
21 Deleuze 1980, S. 83 (französisches
Original in: Revue de synthèse, janvier 1978; die zitierte Stelle fehlt
in der Neufassung in: Spinoza — Philosophie pratique). — Der US‑amerikanische
Philosoph Harry Austryn Wolfson stellte schon 1934 eine
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der Ethik gebe es also so etwas wie einen Freudschen
Dualismus zwischen rationalem Über-Ich und chaotisch-tobendem Es, wobei
das letztere der Träger der Emanzipation wäre. Deleuze scheint hier
ebensosehr am Romantischen in den Ideen des Mai '68 fixiert zu sein, wie daran,
die bekannte Nietzschesche Dualität von Apollinischem und Dionysischem zu
reproduzieren.
3. Exkurs: Vom Rationalismus Spinozas
Der deleuzianische Spinoza aktualisiert abermals die Frage
nach den Grenzen der Rationalität. Es stimmt, daß Spinoza, den Martial
Gueroult einen "absoluten Rationalisten" nannte 22, die Rahmen des
Rationalismus sprengt und so einen "Skandal in der Metaphysik" auslöst.
Die dabei entstandenen Aporien können wir in Anlehnung an Wolfgang Rod
folgendermassen charakterisieren: Wenn Spinoza sich anschickt, "aus reiner Vernunft
eine Metaphysik zu entwickeln, deren Aussagen etwas über die Realität
besagen sollen", so liegt darin ein Widerspruch. Ein System absolut erfahrungsunabhängiger
Aussagen kann niemals Informationen über die Wirklichkeit bieten; will man
also über die Realität etwas aussagen, müssen empirische Voraussetzungen
gegeben sein.
Das rationalistische Programm erweist sich also,
sobald es zu Ende gedacht wird, als unmöglich und die Schwierigkeiten, auf
die Spinozas Ver-
Deleuze sehr ähnliche These von
den "zwei Spinozas" auf. Der erste, explizite ("den wir Benedictus nennen werden")
rede in den Definitionen, Axiomen und Propositionen; der andere wiederum ("den
wir Baruch nennen") schimmere dann und wann in den Scholien hervor und bediene
sich mittelalterlichen Gedankenguts (vgl. The Philosophy of Spinoza, vol. I.
1962, Vorrede, S. VII).
22 Schon Martial Gueroult hob hervor, wie "le rationalisme
absolu est ce qui distingue Spinoza des trois autres grands du rationalisme
classique". Bei Descartes bleibt der Gott letzlich unverständlich; auch
für Malebranche ist Gott "caché, inconnu, invisible"; und nach Leibniz
ist es dem Menschen nicht gegönnt, zur erschöpfenden Erkenntnis vom
absolut-unendlichen Gott zu gelangen. Mit seiner Lehre von den adäquaten
Ideen setzt Spinoza die Akzente radikal anders (vgl. Gueroult 1968:I,
S. 9 f.). Es ist Gueroult vollständig zuzustimmen, wenn er den
Spinoza-Deutern den Rat gibt: "L'affirmation spinoziste, primordiale, de la totale
intelligibilité des choses, spécialement de l'absolue compréhensibilité
de Dieu, offre le plus sûr des fils d'Ariane" (ebd. S. 13).
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such stösst, "sind nicht subjektiver Art, sondern system-immanent". 23
Spinozas Scheitern war, laut Röd, unvermeidlich, obgleich "an der Grösse
seines Versuchs [...] nicht zu zweifeln" sei. 24
Ich habe hier oben Rods Kritik an Spinozas Rationalismus wiedergegeben, weil
mir darin eine ziemlich weit verbreitete Ansicht ihre beste Formulierung gefunden
zu haben scheint. Es ist dies meines Erachtens eine Ansicht, die Spinoza nicht
ganz angemessen beurteilt. Das Programm des reifen Spinoza ist nicht mit dem
Versuch gleichzusetzen, "aus reiner Vernunft zur Erkenntnis von Wirklichkeit
zu gelangen" 25, schon deswegen nicht, weil es für die Vernunft
in der Tat unmöglich ist, "rein" hervorzutreten: Sie ist immer notwendig
von Freude und Liebe begleitet (vgl. III. 53, V. 15).
Um Spinoza als einen Wahrheitsabsolutisten darzustellen, zitiert Röd
vorzugsweise aus einer früheren Arbeit Spinozas, dem Tractatus de intellectus
emendatione, und berücksichtigt nicht die Differenzen zwischen diesem
und der Ethik. Spinoza vertrat im Tractatus tatsächlich
noch die Ansicht, die richtige Methode bestünde darin, "cognitio reflexiva"
oder "idea ideae" zu sein. Hier gab Spinoza zwei Ausgangspunkte für die
Methode an: erstens, daß es in uns eine eingeborene "idea vera" gibt, und
zweitens, daß die Seele, um zur Erkenntnis zu gelangen, das vollkommenste
Wesen, d.h. Gott reflektiert (vgl. G II, 15-16). Dies ist de facto reinster Rationalismus.
Spinoza fügt zwar nach einigen Zeilen hinzu: "idea omnino cum sua essentia
formali debeat convenire". Aber diese Forderung nach dem Inhalt der Idee — daß
sie sich "formaliter" ähnlich verhalten muß, wie "objective" — steht
schon implizit in Widerspruch zum Programm des reinen Rationalismus (wie Röd
ihn interpretiert), weil das einzig denkbare Verhältnis zwischen "Formellem"
und "Objektivem" nur das der Korrespondenz sein kann.
Doch bleibt der Widerspruch im Tractatus noch ungelöst das empiristische
Element, oder die als Korrespondenz begriffene Wahrheit spielt hier deutlich
eine unterlegene Rolle gegenüber dem rationalistischen Erkenntnisprinzip.
Spinoza fährt nämlich unmittelbar nach dem Gesagten fort, daß
die menschliche Seele "alle ihre Ideen aus derjenigen ableiten muß, die
den Ursprung und die Quelle der ganzen Natur darstellt", also aus der Idee Gottes,
die "fons caeterarum idearum" ist (G II, S. 17). Erst in der Ethik er-
23 Röd 1985, S. 108 f.
24 Ebd. S. 111.
25 Ebd. S. 108.
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fährt das empiristische Element der Erkenntnis eine
Rehabilitation. Das Axiom 6 des ersten Teils besagt, daß die wahre Idee
ihrem Gegenstand entsprechen muß (convenire debet). Hatte Spinoza noch im
Tractatus die Wahrheit und Adäquatheit identifiziert (G II,
S. 28: "cogitationes veras, sive adaequatas"), unterscheidet er in der Ethik
zwischen inneren und äußeren Kennzeichen der Wahrheit (II, def. 4).
Diese Doppeltheit von Adäquation und Korrespondenz ist für die Ethik
konstitutiv. 26
Das bedeutet: der reife Spinoza versucht gar nicht, wie Röd meint, nur
"aus reiner Vernunft" zur Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen. Wäre
dem so, bliebe unverständlich, warum er in der Ethik nachdrücklich
einschärft, daß die menschliche Seele erst dadurch konstituiert wird,
daß sie die Idee eines aktual existierenden Einzeldinges bildet (II.11).
Auch Röd bemerkt, daß Spinoza empiristische Prämissen in das Argumentationsgewebe
der Ethik einflicht, 27 und deutet dies dann als "Preisgabe
des rationalistischen Erkenntnisideals". 28
Eine andere, und meines Erachtens auch mehr plausible Auslegung gibt Wolfgang
Bartuschat. Er konstatiert, daß das metaphysische Interesse bei Spinoza
gar nicht vordergründig gewesen ist. "Vielmehr ist es das Interesse am Menschen,
das die Metaphysik der absoluten Substanz selber bestimmt [...] Die Ethik basiert
nicht auf einer ihr vorausgehenden Metaphysik [...] Sondern Probleme der Ethik
[...] sind es, die eine Metaphysik erforderlich machen". 29
Im ersten Teil der Ethik, der von Gott handelt, ist "überhaupt
von keinem Inhalt die Rede": hier entfaltet Spinoza lediglich die Strukturen,
die "den Satz, daß alles, was ist, aus Gott folgt, beweisfähig machen". 30
Die Empirie thematisiert er zum ersten Mal in den Axiomen des zweiten Teiles,
die u.a. besagen, daß der Mensch denkt (ax. 2) und der menschliche Körper
auf vielerlei Weisen affiziert werden kann (ax. 4). Erst die Einführung
dieser nicht deduzierbaren Tatbestände gibt, wie Bartuschat bemerkt, der
attributiven Gliederung Gottes eine Inhaltlichkeit. 31
26 Vgl. zudem, was vom "Erkenntnis-Utopismus"
des Tractatus und dessen Überwindung in der Ethik im Althusser-Essay
(Fussnote 120, auch Fussnote 74) gesagt wird.
27 Röd, a.a.O., S. 107 f.
28 Ebd. S. 108.
29 Bartuschat 1991, S. 15 f.
30 Ebd. S. 16.
31 Ebd. S. 16.
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100
Mit anderen Worten, Spinozas Philosophie zeigt sich in der Ethik in
ihrer konkreten Gestalt als eine Synthese von einer rationalistischen und empiristischen
Komponente. Ein Vergleich zu Kant drängt sich hier natürlich auf, obgleich
der realistisch-materialistische Ansatz Spinozas zu einer andersartigen Synthese
als der Aphorismus Kants führt: waren es bei Kant letzten Endes unerkennbare
Dinge an sich, die hinter dem sinnlichen "Stoff der Erkenntnis liegen, so stehen
für diese bei Spinoza noch unbefangen die formalen Wesenheiten, die dem
entsprechen, was in den Ideen "objective" gegeben ist.
Die Behauptung Gueroults, daß Spinoza ein absoluter Rationalist sei,
muß also modifiziert werden. Man kann Gueroult jedoch fortwährend in
dem Punkt zustimmen, daß der sicherste "Ariadne-Faden" zum Verständnis
Spinozas darin liegt, daß dieser — im Gegensatz zu den anderen Rationalisten
des 17. Jahrhunderts, und auch zu Kant — die Dinge für durchgängig
intelligibel hielt. 32 Aber Spinoza hat dennoch kein komplettes, bis
in alle Einzelheiten durchdachtes metaphysisches System liefern wollen. Gueroult
scheint in seiner sonst so beachtenswerten Studie hier von der nicht ganz stichhaltigen
Annahme auszugehen, Spinoza habe eine "Darstellung Gottes" wie es die Hegelsche
Logik war, im Sinne gehabt, und nur sein frühzeitiger Tod hätte
ihn daran gehindert, sie zur Ausführung zu bringen. Gueroult versucht dies
wirklich im Namen Spinozas zu tun und das System zu rekonstruieren; in dieser
Rekonstruktion besteht im wesentlichen die Hauptmasse der zwei eindrucksvollen
Bände seines Spinoza-Buchs.
Man soll auch bedenken, daß Spinoza vor allem eine Philosophie "ad usum
vitae" (Eth. II.49 schol., ad fin.) beabsichtigte. Darum setzt
er die Deduktion aus Gott nach dem ersten Teil der Ethik nicht mehr fort,
sondern wechselt die Perspektive. "An die Stelle einer Deduktion", schreibt Bartuschat,
"tritt in den folgenden Teilen der Ethica ein Verfahren, das zeigt, unter
welchen Bedingungen der spezifischen Verfassung des Menschen der Mensch überhaupt
ein Seiendes sein kann, das aus sich heraus tätig ist und nicht nur von
etwas ihm Äußeren abhängig bleibt". 33
In dieser Hinsicht ist es berechtigt, zu sagen, daß der Spinozismus nicht
nur ein Rationalismus, sondern auch eine Lebensphilosophie ist, die zeigen
will, wie der Weise "ea tantum agit, quae in vita prima esse novit" (IV.66 schol.).
Somit ist auch die Deutung Deleuzes, wo eben die "lebensphiloso-
32 Siehe Fussnote 22.
33 Bartuschat, a.a.O., S. 19.
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101
phischen" Aspekte des Spinozismus als "philosophie de la joie" 34
und des "Heils" 35 in den Vordergrund gerückt
werden, in ihrer Grundintention keineswegs abwegig. Problematisch wird sie erst,
wenn dieser humane Standpunkt im Spinozismus im Sinne der Lebensphilosophie des
19. und 20. Jahrhunderts (einer nietzscheanischen Ethik oder Bergsonschen Ontologie 36)
uminterpretiert wird.
Gegen eine solche Deutung ist grundsätzlich zu bemerken, daß der
Perspektivenwechsel nach dem ersten Buch der Ethik keine Absage an die
rationalistischen Prinzipien bedeutet; im Gegenteil, die "Theorie des an einem
adäquaten Erkennen orientierten Handelns des Menschen bedarf einer Theorie
der unbedingten Substanz, die in Teil 1 der Ethica entwickelt wird". Nur
müssen die weiteren Teile den endlichen Modus Mensch thematisieren, weil
"an dessen Sein erst zu erweisen ist, inwiefern die metaphysische Theorie der
Substanz eine Theorie von leistungsfähiger Erklärungskraft ist". 37
Spinoza ist überzeugt, daß seine Theorie erklärungsfähig
ist, sonst hätte er nicht Albert Burgh antworten können: "Ego non praesumo,
me optimam invenisse Philosophiam; sed veram me intelligere scio" (G IV, S. 320).
In diesen Worten zeigt sich kein Bewußtsein von einem "Scheitern", das Röd
bei Spinoza hat sehen wollen.
Die Frage ist nun, ob das spinozistische Skandalieren in der Metaphysik tatsächlich
einem subversiven Anarchismus nach dem Munde redet, wie seine deleuzianische
Interpretation als "philosophie de l'affirmation pure" 38 uns versichert.
II.
Ohne sorgfältige Vorbereitungen gelingt es Deleuze
nicht, Spinoza vor den Karren seiner Differenz-Logik zu spannen. Das Spinoza-Buch
vom Jahre
34 Deleuze 1968a, S. 251; dt. Ü. S. 241.
35 Ebd. S. 298; dt. Ü. S. 283.
36 Sehr klar skizziert Hardt dieses philosophiegeschichtliche
Spannungsfeld: "With Bergson, Deleuze develops an ontology. With Nietzsche, he
sets that ontology in motion to constitute an ethics. With Spinoza, we will take
a further step in this evolution, toward politics" (Hardt ebd. S. 57).
37 Bartuschat, a.a.O., S. 20.
38 Deleuze 1968a, S. 251; dt. Ü., S. 241.
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102
1968 bedient sich schon auf den ersten hundert Seiten folgender
Szenarien: 1) der Konstruktion einer besonderen "spinozistischen" Realdistinktion;
2) der Annäherung Spinozas an die Univozität-Lehre des Duns Scotus;
wie 3) dem Insistieren auf der expressiven Natur der Substanz.
Betrachten wir alle diese Operationen in derselben Ordnung, wie sie uns in
Deleuzes Darstellung begegnet.
4. Spinozistische und Cartesische Distinktionslehre
Deleuze eröffnet seine Spinoza-Betrachtungen mit der
Frage, was unter einem Unterschied (distinctio) zu verstehen sei. Anhand der
Analyse der neun ersten Propositionen des ersten Buches der Ethik meint
Deleuze, daß Spinoza hier vor allem zur cartesianischen Lehre von den Distinktionen
eine kritische Distanz einnimmt. In der Principia philosophiae lehnt Descartes
die in der früheren Scholastik gebräuchlichen zahlreichen Distinktionen
ab und reduziert sie auf drei: reale, modale und Vernunftdistinktion. Die Anzahl
(numerus) der Dinge entsteht durch diese Distinktionen. Eine reale Distinktion
gibt es nur zwischen zwei oder mehreren Substanzen: sie bedürfen keiner
außer ihnen befindlichen Dinge, um zu existieren. Eine modale Distinktion
gibt es entweder zwischen einem Modus und der Substanz, oder dann zwischen zwei
Modi derselben Substanz. Die Vernunftdistinktion (distinctio rationis) endlich
ist eine solche Unterscheidung, die man zwischen Gedankenobjekten macht (Princ.
Phil. I, її 60 — 62).
Deleuze weist auf die bekannte Tatsache hin, daß ihm der Status, den
Descartes der Realdistinktion einräumt, Schwierigkeiten bereitet. In den
Principia sagt er, daß Denken und Ausdehnung auf zweierlei Weise
begriffen werden können: entweder als zwei realiter unterschiedene Substanzen
(I, ї 63), oder dann nur als Modi einer Substanz, die sich nur modaliter
voneinander unterscheiden (I, ї 64). Descartes optiert in seiner Philosophie
für die erste Alternative, obgleich sie zum schwer lösbaren Leib-Seele-Dualismus
führt. Doch wird seine Distinktionslehre noch zusätzlich dadurch verkompliziert,
daß er auch andere Substanzen annimmt, die ein gemeinsames Attribut haben
(I, ї 60, vgl. auch II, ї 55). 39
Angesichts dieser Probleme ist es durchaus angebracht,
daß Spinoza die Ethik mit einer kritischen Revision der Distinktions-
und Substanzlehre sei-
39 Z.B. spricht Descartes in der dritten Meditation
- in die scholastische Terminologie zurückfallend davon, daß man einen
Stein ebenso gut für eine Substanz halten kann wie einen denkenden Menschen.
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103
nes Vorgängers eröffnet. Insofern kann man Deleuze
zustimmen, wenn er schreibt, "l'anti-cartesianisme de Spinoza trouve une de ses
sources dans la théorie des distinctions". 40 Die Frage nach dem
Status der Realdistinktion ist zentral. Indem Spinoza in Prop. I.11 endlich nach
einer langen Beweisführung Gott als die einzige Substanz setzt, die aus
unendlich vielen Attributen besteht, befreit er sich mit einem Schlag von der
lästigen Realdistinktion, die Descartes und den Cartesianern einen unerwünschten
Dualismus erzeugte. Descartes blieb in seiner Ausmerzung von scholastischen Distinktionen
noch auf halbem Wege stehen; Spinoza reduziert ihre Anzahl auf zwei. Weil es
nur eine Substanz geben kann, sind alle nach der Lehre Spinozas praktisch möglichen
Distinktionen entweder modale, oder dann solche der Vernunft
Die Realdistinktion verschwindet aber nicht spurlos, sondern führt in
der Lehre von den Attributen noch ein Schattendasein. Spinoza definiert das Attribut
als "dasjenige, was der Intellekt an der Substanz als deren Wesen ausmachend
wahrnimmt". Und im Scholion zu I.10 sagt er, daß "zwei Attribute als tatsächlich
verschieden gedacht werden" (realiter distincta concipiantur). Dies ist nicht
so zu verstehen, daß Spinoza die cartesische Lehre von der Realdistinktion
wieder inkonsequent bei der Hintertür hereinläßt. Entscheidend
ist nämlich, daß die Realdistinktion zwischen Attributen nur "gedacht
wird"; sie reduziert sich somit zu einer Art Vernunftdistinktion, und man
kann sich, wenn man will, ihrer als eines "auxilium intellectus" bedienen.
Eben an dieser Stelle setzt Deleuze zu einer Gleitbewegung
an. Er zitiert aus Scholion I.10 denselben Satz wie wir, bestreitet aber, daß
der Ausdruck "realiter distincta concipiantur" einen "abgeschwächten Gebrauch
der Realdistinktion" intendiert. Nach ihm will Spinoza keineswegs die Realdistinktion
nur hypothetisch oder polemisch anwenden. Im Gegenteil, sie ist bei ihm ebenso
wichtig wie bei Descartes. Deleuzes Begründung lautet: die Realdistinktion
ist, als Gedachtes, immer "une donnée de la représentation". 41
So habe auch Descartes die Realdistinktion verstanden. In den Principia schrieb
er in Hinblick auf zwei oder mehrere Substanzen: "percipimus a se mutuo
realiter esse distinctas, ex hoc solo, quod unam absque altera clare et distincte
intelligere possumus" (Princ. Phil. I, ї 60;
40 Deleuze 1968a, S. 31; dt. Ü. S. 37.
41 Ebd. S. 28; in der deutschen Übersetzung
wird diese "représentation" ungenau als "Vorstellung" widergegeben (S. 35).
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Hervorhebungen von V.O.). Die Realdistinktion sei demnach
schon bei Descartes ein ähnliches "Gedankending" wie bei Spinoza. 42
Obgleich Deleuze eine feinsinnige Analyse vorlegt, hat er ein Detail übersehen.
Nach Spinoza wird die Substanz nicht nur durch sich begriffen. Sie ist zudem
in sich (I. def. 1: "in se est, & per se concipitur").
Das heißt, die Suisuffizienz, wodurch die Realdistinktion konstituiert wird
(denn nur suisuffiziente Entitäten können realiter voneinander unterschieden
sein), ist nicht nur im Denken, sondern auch im Sein begründet. Und wiewohl
wir mit dem Gedanken spielen können, daß es mehrere Substanzen gibt,
obwohl es tatsächlich nur eine Substanz gibt, so folgt daraus doch nicht,
daß eine Realdistinktion im ontologischen Sinne möglich ist.
Aus dem Kontext der cartesianischen Lehre wird zudem
klar, daß Descartes, wenn er vom "Wahrnehmen" der realen Distinktion spricht,
keineswegs behaupten will, die Realdistinktion sei nur eine "objective", im Bewußtsein
des erkennenden Subjekts gemachte Unterscheidung. Wenn er das nämlich wirklich
behauptet hätte, würde daraus automatisch folgen, daß es nur eine
Substanz geben kann, d.h. Descartes wäre zur Position Spinozas übergegangen.
Demgegenüber ist für Descartes wohl der Unterschied zwischen den Begriffen
der Substanz einerseits und des Denkens und der Ausdehnung andererseits eine
bloße Vernunftdistinktion (Princ. Phil. I, ї 63). 43
Doch gibt es nach Deleuze bei Descartes und Spinoza einen wesentlichen Unterschied
zwischen den Begriffen der Realdistinktion. Er besteht darin, daß die Realdistinktion
bei Spinoza niemals numerisch ist; dies ist laut Deleuze sogar "eines der wichtigsten
Anliegen der Ethik". 44 Wie ist es also möglich,
realiter unterschiedene Attribute in einer Substanz zu setzen, ohne sie numerisch
zu unterscheiden? Dies ist das Problem. Deleuze löst es folgendermassen:
"Die Identifizierung des Attributs mit einer unendlich vollkommenen Substanz
ist keineswegs [...] eine vorläufige Hypothese. Sie muß unter dem Gesichtspunkt
der Qualität positiv interpretiert werden. Unter dem Gesichtspunkt
der Qualität gibt es eine Substanz pro Attribut, unter dem Gesichtspunkt
der Quantität jedoch nur eine Substanz für alle Attribute".
Dies ist, wie Deleuze im nächsten Satz selbst gesteht, eine
42 Ebd. S. 28: "A cet égard Spinoza ne
diffère nullement de Descartes"; dt. Ü. S. 35.
43 "...in abstrahenda notione substantiae
a notionibus cogitationis vel extensionis, quae scilicet ab ipsa
ratione tantum diversae sunt" (Hervorhebungen von mir V.O.).
44 Deleuze 1968a, S. 31; dt. Ü. S. 38.
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105
"dunkle Formulierung", 45 doch besteht die Grundthese
darin, daß die Realdistinktion bei Spinoza einen qualitativen Status 46
habe, keinen numerisch-quantitativen.
"Wesentlich ist der neue Status der realen Unterscheidung: als rein qualitative,
quidditive oder formale schließt die reale Unterscheidung alle Teilung aus",
fährt Deleuze fort. Nun ist er auch bereit, Spinozas Realdistinktion neu
zu benennen: eigentlich sei sie dasselbe wie die (von Duns Scotus eingeführte)
formale Distinktion. 47 "Strikt getrennt von jeglicher numerischen
Unterscheidung wird die reale Unterscheidung ins Absolute getragen. Sie vermag
die Differenz im Sein auszudrücken". 48
Sehr "deleuzianisch" wird hier einer scheinbar akriben und vorlagetreuen Textanalyse
eine solche Interpretation zugesellt, die sich in der authentischen Lehre Spinozas
wie ein aufgepfropfter Fremdkörper ausnimmt. Natürlich gibt es bei
Spinoza keine numerisch verschiedenen Substanzen mehr, und daß es nur eine
Substanz gibt, ist natürlich "eines der wichtigsten Anliegen der Ethik".
Dem Leser wird aber nicht sogleich klar, warum Deleuze dessen ungeachtet
die Benennung "Realdistinktion" beibehalten will. 49 Im Spinozismus
hat sie ja ihre eigentliche Funktion verloren. In der Ethik bedient sich
Spinoza dieses Terminus nicht ein einziges Mal, und auch in seiner Cogitata
metaphysica, die eine Beilage zur Darstellung der Ideen Descartes'
ist und wo die Kritik am Cartesianismus nicht explizit hervorgehoben wird, ist
nur ganz beiläufig von der distinctio realis die Rede.
Ich habe oben die von Deleuze dargebotene Darstellung der Distinktionslehren
Spinozas und Descartes so genau analysiert, weil er eben damit seine "Philosophie
der Differenz" begrifflich untermauert. Wie weiter unten dargelegt werden wird,
sucht Deleuze mit einem solchen Differenzbegriff zu arbeiten, der keine Negation
involviert. Michael Hardt faßt die Intention seines Meisters präzis
zusammen: "Dieser eigenmächtige und tendenziöse Gebrauch von der 'Realdistinktion'
soll unsere Aufmerksamkeit auf das originelle Differenz-Konzept Deleuzes lenken
[...] Die reale Unterscheidung ist bei Descartes relational (es gibt einen Unterschied
zwischen x und y);
45 Ebd. S. 30; dt. Ü. S. 37.
46 Ebd. S. 31; dt. Ü. S. 38.
47 Ebd. S. 31; dt. Ü. S. 37.
48 Ebd. S. 32; dt. Ü. S. 38.
49 So sieht Hecker (S. 157) in dieser
Idee einer nichtnumerischen reellen Verschiedenheit von Seinsweisen einen "sachlich
in der Tat schwer einsichtig zu machenden Gedanken".
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106
oder, genauer, sie stellt einen Differenz-Begriff vor, der
gänzlich auf Negation begründet ist (x unterscheidet sich von
y). Spinozas Herausforderung liegt darin, den relationalen bzw.
negativen Aspekt der Realdistinktion abzustreifen. Statt die reale Unterscheidung
als 'einen Unterschied zwischen' oder 'eine Differenz von' vorzustellen, will
Spinoza die Realdistinktion in sich identifizieren (es gibt einen Unterschied
in x; oder vielmehr, x ist different)". 50 Es
versteht sich von selbst, daß der Cartesische Differenz-Begriff zugleich
der Hegelsche ist.
5. Scholastische Distinktionen vs. neuzeitliches Wissenschaftsverständnis
Wo Deleuze die spinozistische und (angeblich) reale Distinktion
mit der formalen gleichsetzt, nähert er Spinoza der Scholastik an. Spinoza
wäre somit von den antischolastischen Positionen von Descartes wieder abgerückt.
In den Primae objectiones schlug ein Theologe Descartes vor, das Verhältnis
von Körper und Seele mit dem Begriff der formalen Distinktion zu charakterisieren.
Diese Distinktion setze nämlich "ein vermittelndes Glied zwischen der realen
und der Vernunftdistinktion" und würde den sonst zu schroffen Unterschied
zwischen Cogitatio und Corpus mildern.
Descartes lehnte ab. Höflich aber entschieden stellte der Philosoph fest:
"Was die formale Distinktion betrifft, die der gelehrte Theologe aus Scotus genommen
hat, sage ich kurz, daß sie sich nicht von der modalen unterscheidet und
nur unvollständigen Wesen zugehört". Es ließe sich zwar sagen,
daß es z.B. zwischen der Bewegung und der Figur eines Körpers eine
formale Distinktion gebe, da wir sehr gut die Bewegung und die Figur unabhängig
voneinander begreifen können. Aber dies käme ja einer modalen Distinktion
gleich. 51
Eine solche Haltung folgt zwanglos aus der Grundeinstellung des Cartesianismus,
den Subjekt-Objekt-Gegensatz möglichst weit, auf zwei autarke Substanzen
zu reduzieren. Von diesem Standpunkt aus gesehen wird die distinctio formalis
des Duns Scotus — ähnlich unzähligen anderen scholastischen Distinktionen
- eine überflüssige façon de parler.
Nach Deleuze gelte dasselbe nicht für Spinoza,
der eigentlich ein Krypto-Scotist sei: "In seiner Konzeption einer realen Unterscheidung,
die keine numerische ist, findet man ohne Schwierigkeiten die formale Unter-
50 Hardt a.a.O., S. 61.
51 Des Cartes 1658, S. 60, 73 (Primae objectiones).
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107
scheidung des Scotus wieder. Darüber hinaus hört
mit Spinoza die formale Unterscheidung auf, ein Minimum der realen Unterscheidung
zu sein, sie wird zur ganzen realen Unterscheidung und gibt dieser einen exklusiven
Status [...] Spinoza setzt die formale Unterscheidung wieder in ihre Rechte ein
und gibt ihr darüber hinaus eine Tragweite, die sie bei Scotus nicht hatte.
Die formale Unterscheidung erst gibt einen absolut kohärenten Begriff
der Einheit der Substanz und der Pluralität der Attribute". 52
Um den Einfluß von Duns Scotus auf Spinoza
zu dokumentieren, liefert Deleuze eines der wenigen philosophiehistorischen Exposés
seines Buchs, allerdings mit dem mageren Resultat, daß Spinoza wahrscheinlich
den Doctor subtilis nur aus Quellen zweiter Hand kannte, wenn überhaupt.
Auch gesteht Deleuze, daß Spinoza niemals den Terminus "formale Distinktion"
anwendet. Das sollte uns aber nicht kümmern, denn die formale und die reale
Distinktion seien bei Spinoza in der Tat identisch. 53
Besonders eine Stelle in der Ethik, das Scholion 2 zu Prop.
I.8, ist für Deleuzes Beweisführung wichtig. Dort hebt Spinoza gegen
Descartes hervor, daß es, erstens, nur eine einzige Substanz von derselben
Natur geben kann; und, das zweitens, wenn man von der Natur (d.h. von der Wesenheit)
spricht, dies keine bestimmte Anzahl von Individuen einschließt, es gebe
in der Substanz also keine numerische Distinktion. Die Individuen in numero
gehören in die modale Welt. Demgegenüber gebe es zwischen den Attributen
nach Deleuze eine reale Distinktion, die nicht numerisch ist. 54
Auf den ersten Blick scheint es, daß Deleuzes Konstruktionen bis zu einem
gewissen Punkte plausibel sind: weil Spinoza den Cartesischen Dualismus bekämpfte,
konnte man sich denken, daß sich der schroffe Charakter einer substanzbildenden
Realdistinktion durch Einführung "schwächerer" Distinktionsformen entschärfen
ließe — und entstammten sie auch der Vorratskammer der Scholastik, 55
die Cartesius sonst laut Spinoza mit Recht
52 Deleuze 1968a, S. 6 f.; dt. Ü. S. 59 f.
53 Ebd. S. 57; dt. Ü. S. 60.
54 Ebd. S. 27 f.; dt. Ü. S. 35.
55 Die scotistische Schule unterschied nicht weniger
als vier verschiedene Grade der Distinktionen göttlicher Attribute, die,
von den stärksten bis zur schwächsten aufgezählt, die folgenden
sind: 1) distinctio essentialis - zwischen zwei aktuell existierenden
Wesenheiten, z.B. Gott und die Kreaturen; 2) distinctio realis -
zwischen zwei unterscheidbaren Dingen, z.B. eine Mauer und ihre Farbe; 3) distinctio
formalis - zwischen zwei Objekten, deren quidditativen Begriffe verschieden
sind; 4) distinctio modalis — zwischen einer Quiddität und ihren
Grades (z.B. unendliche und endliche Weisheit). Vgl. Gilson 1952, S. 244 Fussn.
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108
getadelt hat (vgl. Eth. V. praef.). Eben
aus diesem Grunde gab einer der ersten Rezensenten der Spinoza-Studie Deleuzes,
Claude Troisfontaines, trotz seiner sonst kritischen Vorbehalte zu, daß
"Deleuze ohne Zweifel Recht hat, wenn er Spinozas reale, aber nicht ontologische
Distinktion der formalen Distinktion von Duns Scotus annähert". 56
Doch meldet sich dabei sogleich manch neues Bedenken
an. Das erste ist von wissenschaftsgeschichtlicher Natur. Die angebliche Rehabilitierung
der scotistischen Distinktionen passt nicht gut mit der bekannten Tatsache zusammen,
daß Spinoza sonst das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis teilte.
Der alte, aristotelisch-scholastische Wissenschaftstyp war aufs engste mit
der formalen Logik verbunden und sein Ideal war eine axiomatische Theorie. Die
neuzeitliche Wissenschaft repräsentierte demgegenüber einen anderen
Typ, den der analytischen Theorie, dessen Musterbeispiele die analytische Geometrie
von Descartes und die analytische Mechanik des 18. Jahrhunderts waren. 57
Die analytischen Theorien operieren nicht mit Axiomen, wie z.B. die euklidische
Geometrie, sondern mit mathematischen Gleichungen. Die analytischen Gleichungen,
die irgendwelche Prozesse oder Zustände beschreiben sollen, sind wiederum
erst möglich, wenn die zu erforschenden Gegenstände so homogenisiert
werden, daß sie miteinander vergleichbar sind. So kommt Descartes eben durch
eine Reduktion zu den "simplicissima et per se nota", die danach wieder als Ausgangspunkte
für seine analytische Wissenschaft dienen. Deren Aufbau erfolgt dann von
diesen einfachen Elementen zu immer komplexeren.
Wie Paul Lorenzen dies zuspitzt, ermöglicht
es eine gute analytische Theorie grundsätzlich, alle Erscheinungen durch
bloßes Rechnen auf dem Papier vorauszusagen, wenn man nur die mathematische
Analyse beherrscht, d.h. nicht nur addieren und multiplizieren, sondern auch
differenzieren und integrieren kann. "Mit den formal-logischen Operationen schien
dies alles gar nichts zu tun zu haben. Die scholastische Logik erschien daher
der neuzeitlichen Wissenschaft als ein Instrument, das bloß geeignet sei,
unfruchtbar mit Worten zu streiten". 58
Descartes erhält die beiden Attribute Extensio
und Cogitatio grundsätzlich durch Analyse. Im ersten Falle werden die mannigfaltigen
Gegenstände
56 Troisfontaines 1974, S. 476.
57 Ich folge hier der konzisen und klaren Darstellung
von Lorenzen 1974, S. 17 ff.
58 Ebd. S. 18.
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109
der physischen Welt zerlegt, bis man zur Ausdehnung als
dem einfachsten gemeinsamen Nenner aller kommt. Erst der Begriff der Ausdehnung
homogenisiert die Gegenstände so, daß man ihre Verhältnisse mit
analytischen Gleichungen beschreiben kann. Ähnlich verfährt Descartes
mit dem Bewußtsein. Die Dubito-Operation ist im Prinzip eine Analyse der
Bewußtseinsinhalte, wo alles, was nicht zum reinen Denken gehört, ausgeschieden
wird. Ausdehnung und Denken sind für Descartes Voraussetzungen des Quantums
überhaupt. Sie sind homogene Medien zur Erfassung und Beschreibung aller
möglichen Dinge überhaupt und werden durch das analytische Suchen nach
den "simplicissima" konstituiert.
Von diesem methodischen Horizont aus gesehen nützt
die scholastische Logik mit ihren Distinktionen nur wenig. Das Distinguieren
als Denkoperation verhält sich zum analytischen Zerlegen sogar gegensätzlich,
denn es multipliziert die Entitäten, anstatt sie alle auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen. Erst von dieser wissenschaftlichen Programmatik her wird Descartes'
Unbehagen, die vielfältigen scholastischen Distinktionen zu übernehmen,
völlig verständlich. Für die Scholastiker galt wie für Aristoteles,
daß "das Seiende auf vielerlei Weise ausgesagt wird" (vgl. Met.
VII.I.1, 1026a), Descartes wiederum kehrt dies um und will die zugrundeliegende
(analytische) Einheit allen Seins entdecken. 59 Eine Distinktion kommt
für ihn erst in Frage, wenn die Analyse nicht weitergehen kann, sondern
zu den letzten einfachen, nicht mehr zerlegbaren Entitäten gelangt zu sein
scheint. Erst diese Grenze des reduktiven Verfahrens konstituiert die Distinktion:
falls die Analyse zu einer suisuffizienten Entität kommt, ist diese Substanz
und grenzt sich durch die Realdistinktion aus; sofern es sich um andere "simplicissima
et maxime generalia" Resultate der analytischen Abstraktion handelt, unterscheiden
sich diese voneinander nun "modaliter" oder "ratione". Anderer Distinktionen
bedarf die analytische Methode nicht
Eine andere Sache war es dann, daß Descartes
von seiner analytischen Methode nicht immer überzeugenden Gebrauch machte.
Begeistert von den
59 In dieser Hinsicht wäre es interessant,
Descartes mit Parmenides zu vergleichen. Entgegen Heideggers Versicherungen,
wonach Parmenides' Lehre vom Sein ("pin estin homoion") massgebend fürs
abendländische Denken gewesen wäre, neigten sowohl die Antike als auch
das Mittelalter eher der Ansicht von Aristoteles, der den Irrtum des Eleaten
darin sah, daß er vom Sein nur "auf eine Weise" aussagen wollte (vgl. de
Vries 1983, S. 70). Erst seit Descartes wird das Sein (oder genauer:
die Objektivität) wieder zum "homoion", d.h. zur ausgedehnten Räumlichkeit reduziert.
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110
neuen Aussichten, die diese Methode zu versprechen schien,
kommt Descartes zu übereilten Verallgemeinerungen und macht sich grober
Reduktionismen schuldig, wie z.B. wenn er behauptet, Tiere seien nur Automaten
(wobei das Spezifische im biologischen Organismus verloren geht), oder wenn er
uns im Unklaren darüber läßt, ob die Ausgangspunkte seiner Physik
geometrisch oder dynamisch sind. 60 Von Mersenne bedrängt, unterstrich
Descartes zwar in den Responsiones ad secundas, daß die Analyse,
wodurch der Gegenstand "tanquam a priori inventa est", mit einer entgegengesetzten
synthetischen Verfahrensweise ergänzt werden kann, wobei man sich "tanquam
a posteriori" an die Sache heranmacht. Bei der Synthese bedient man sich "longa
definitionum, petitionum, axiomatum, theorematum, & problematum serie" so,
daß alles "ex consequentibus" schon im Vorangegangenen enthalten ist.
Die Analyse ist also die Methode der Entdeckung,
während die Synthese die der Darstellung des schon Gewonnenen ist. Obgleich
Descartes dem Vorschlag Mersennes, seine Metaphysik modo geometrico, d.h. synthetisch
darzustellen, nicht abgeneigt war, hielt er sich lieber an die analytische Methode.
Für die Nachfolger bot sich hier also ein Defizit, das es zu beseitigen
galt, und die Freunde Spinozas sahen in ihm den Mann, der dies leisten würde.
So schrieb Lodewijk Meyer in der Vorrede zu Spinozas Principia Philosophiae
Cartesianae, daß Descartes' Methode von der des Euklid "sehr
abweiche" (multum ab hac diversa) und in der Tat analytisch ist. "Ich habe oft
gewünscht", setzt Meyer fort, "daß jemand, der sowohl in der analytischen
als auch synthetischen Methode erfahren ist [...], die Hand ans Werk legen möchte
und das, was dieser (sc. Descartes — V.O.) in analytischer Weise dargestellt,
in die synthetische umarbeiten" würde. Und ein solcher Mann sei nun gefunden,
nämlich "Author noster" Spinoza (G I, S. 129 ff.).
Für Meyer konnte es in der Vorrede von 1663
noch nicht klar sein, daß der Wechsel des methodischen Schwerpunkts nicht
zu einem konsistenteren Cartesianismus führen würde, sondern zu einer
davon abweichenden neuen Philosophie. Doch bleibt Spinoza programmatisch an seinen
Vorgänger gebunden. Obgleich die Erkenntnis Gottes bei ihm synthetisch ist,
findet er die Attribute als Resultate der schon von Descartes geleisteten analytischen
60 Falls nämlich die Ausdehnung die einzige
grundlegende Eigenschaft der Körper ist, muß die Bewegung von außen
her eingeführt werden: Gott gibt den ersten Anstoß. Zu den Aporien,
die aus dem überstarken Reduktionismus Descartes' folgen, vgl. die Studie
von Grosholz 1991.
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111
Arbeit vor. Dasselbe gilt von den Distinktionen. Spinoza
greift nicht auf die Scholastik zurück, sondern wendet sich noch weiter
von ihr ab, indem er die cartesianische Realdistinktion unter die distinctiones
rationis subsumiert.
Der Strategie Spinozas ist leicht zu folgen in seiner Behandlung des Leib-Seele-Dualismus.
Anfangs stellt er ganz cartesianisch fest, daß die Seele und der Körper
einander nicht affizieren können. "Der Körper kann die Seele nicht
zum Denken, und die Seele den Körper nicht zur Bewegung oder Ruhe oder sonst
etwas bestimmen" (Eth. III.2). Die kausalen Wirkungen setzen
sich nur im Rahmen eines jeden Attributs fort, so daß nur die Modi des Denkens
das Denken determinieren und Bewegung wie Ruhe der Körper nur von einem
anderen Körper ausgehen können (III.2 dem.). Die von Descartes analytisch
gewonnenen Attribute schaffen auch für Spinoza Voraussetzungen für
die wissenschaftliche Erklärung. Will man die Physik als Wissenschaft betreiben,
müssen die Körper als quantifizierbare Entitäten einer Ausdehnung
betrachtet werden können, ohne Beimischung irgendwelcher ihr fremder, geistiger
Prinzipien. Auch Spinoza denkt Geist und Materie als verschieden und als aufeinander
nicht reduzierbar.
Der Fehler Descartes' liegt lediglich darin, daß er diesen Unterschied
als den von zwei Substanzen begriff; "er hatte gedacht", sagt Spinoza in der
Vorrede zum fünften Buch der Ethik, "daß Seele und Körper
so voneinander geschieden sind (Mentem a Corpore adeo distinctam conceperat),
daß er weder für deren Einheit noch für die Seele selbst irgendeine
einzelne Ursache angeben konnte, sondern genötigt war, auf die Ursache des
ganzen Universums, also auf Gott, zurückzugreifen". Seine eigene Position
legt Spinoza in den Prop. II.12 und II.13 dar: der Körper ist Gegenstand
der menschlichen Seele, und insofern also sind Leib und Seele dieselbe Sache,
die eine "formaliter", die andere "objective" betrachtet. Auch im Falle Spinozas
figuriert Gott als letzte Garantie der Körper-Seele-Entsprechung, doch nicht
insofern er unendlich ist, wie bei Descartes, sondern insofern er als mit einer
anderen endlichen Modifikation affiziert betrachtet wird (vgl. II.12 dem., II.9, I.28 dem.).
Spinozas Strategie bei der Aufhebung der Cartesischen
Realdistinktion bestand also nicht darin, sie in eine andere Distinktion umzutaufen.
Es galt vielmehr, den Grund für die tatsächliche Einheit der distinkt
gedachten Teile anzugeben. Die Attribute haben eine "Eigenschaft", die ihnen
allen gemeinsam ist, trotz der sonst qualitativen Unterschiede, nämlich
ihre Aseität (a se - "von sich selbst her"), das heißt, der
Intellekt betrachtet die Attribute so, daß er sie durch diese selbst begreift
(sie drücken nämlich ein-
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112
fache Wesenheiten aus, wo die zerlegende Analyse nicht mehr
weiter schreiten kann; und ihre Letztbegründung ist nur selbstbezüglich
zu denken). Diese über allen Attributen waltende Aseität zeigt nicht
nur den Punkt an, wo die Analyse endet und die Bewegung der Synthese einsetzt,
sondern weist auch auf ihren substantiellen Einheitsgrund. Diese Strategie steht
in Einklang mit Spinozas Neigung zum Materialismus: statt einer verbalen Distinktion
- denn in der Scholastik wurden die Unterscheidungen vor allem durch das Urteil
fixiert, man sprach einem Subjekt das Prädikat ab — auf die Lösung
des Problems in der realen Welt hinzustreben.
6. Die gnoseologische Rolle der Attribute
Des weiteren scheint auch Deleuzes Behauptung, daß
Spinoza zwischen den Attributen eine Realdistinktion setze, 61 nicht
nur zur These zu führen, daß die Substanz ein Konglomerat von Attributen
sei — d.h. eine "multiplicité une" von substantiellen Qualitäten 62
- womit sich Gott gleichsam in den ihn konstituierenden Attributen auflöst
-, sondern auch Spinozas eigene Meinung nicht sachgemäß widerzuspiegeln.
Schon in den Cogitata metaphysica von 1663
schrieb Spinoza in seinen Kommentaren zur Darstellung der Prinzipien cartesianischer
Philosophie, daß Gott kein Zusammengesetztes sein kann (Deum non esse quid
compositum), weil dies voraussetzen würde, daß die realiter distinkten
Teile der
61 Dieses Argument scheint für Deleuze wichtig
zu sein, da er es noch im späteren Spinoza-Büchlein nachdrücklich
wiederholt: "Die Attribute sind real unterschieden: keines braucht ein anderes,
noch irgend etwas anderes, um begriffen zu werden [...] Die reale Unterscheidung
zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung zwischen letzten substantiellen
'Washeiten' (quiddités)", Spinoza — Praktische Philosophie, ebd. S. 69.
62 So Troisfontaines, a.a.O., S. 469.
Troisfontaines vergleicht Deleuzes Studie mit Martial Gueroults Studie Spinoza
I: L'Ame, die in demselben Jahr (1968) erschien. Beiden ist nach Troisfontaines
gemeinsam, daß sie die Attribute als "authentische Substanzen" betrachten,
die in die göttliche Substanz integriert sind, ohne ihre substantielle Qualität
zu verlieren. Nach Troisfontaines riskieren sie es dabei, die Idee einer göttlichen
Substanz preiszugeben; zudem wird es schwierig, zu begründen, wie der Mensch,
dem von unendlichen Attributen nur zwei — Denken und Ausdehnung — bekannt sind,
eine adäquate Erkenntnis Gottes erlangen kann, falls Gott in seine realiter
unterschiedenen Attribute aufgeht (ebd. S. 476).
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113
Zusammensetzung von Natur aus vor Gott selbst sein müßten. 63
Vielmehr sei davon auszugehen, daß "alle Unterschiede, die wir zwischen
den Attributen Gottes machen, nur Unterschiede im Verstande sind — in der Wirklichkeit
seien sie voneinander nicht unterschieden (omnes distinctiones, quas inter Dei
attributa facimus, non alias esse, quam rationis, nec illa revera inter se distingui)".
In der Ethik ist dieser Gedanke dann in seiner reifsten Gestalt folgendermassen
formuliert: "Wenn zwei Attribute auch als reell verschieden gedacht werden, das
heißt, eines ohne die Hilfe des anderen, können wir doch deshalb nicht
daraus schließen, daß sie zwei Wesen (entia) oder zwei verschiedene
Substanzen ausmachen" (Prop. I.10 schol.). Da Spinoza ein wenig früher bewiesen
hatte, daß nur Substanzen realiter verschieden sein können (prop. I.5
dem. & prop. I.6 dem.), kommt einem dieser Satz beim ersten Blick paradox
vor, scheint Spinoza doch zu sagen, daß wir von realiter Verschiedenem nicht
schließen können, daß es auch tatsächlich realiter verschieden sei.
Das Paradox löst sich aber auf, wenn wir einsehen,
daß Spinoza hier nur meint, daß die Attribute als reell verschieden
gedacht werden (realiter distincta concipiantur), woraus aber nicht folgt,
daß sie solche auch sein würden, im ontologischen Sinne. Sind
die Attribute doch das, "was der Verstand an der Substanz als deren Wesenheit
ausmachend erkennt" (Eth. I def. 4); sie haben demnach
auch eine Funktion, die man, den Sprachgebrauch späterer Zeiten vorwegnehmend,
eine erkenntnistheoretische nennen kann.
Das setzt aber, wie schon oben gesagt, voraus, daß an dem Unterschied
zwischen Sein und Denken in diesem Teilbereich der Philosophie notwendig festgehalten
werden muß. Die Cartesische Distinktion zwischen Denken und Sein (Ausdehnung)
ist gnoseologisch berechtigt, nur darf man sie nicht ins Ontologische erweitern,
denn damit wird sie fälschlicherweise bis zur Realdistinktion verabsolutiert.
Im Grunde ist es die analytische Methode, die uns die Attribute zur Hand gibt;
und diese Errungenschaft des neuzeitli-
63 "Cum enim per se darum sit, quod partes
componentes priores sunt natura ad minimum re compositae, necessario substantiae
illae, ex quarum coalitione & unione Deus componitur, ipso Deo priores erunt
natura [...] Deinde, cum ilia inter se necessario realiter distinguantur [...]
sic [...] tot possent dari du, quot sunt substantiae, ex quibus Deum componi
supponeretur" (Cogitata metaphysica, II cap. V; ed. Gebhardt I, S. 258).
Hier faßt Spinoza die "Substanzen" terminologisch noch im Cartesischen Sinne,
obgleich der Übergang zu seiner eigenen Philosophie zu dieser Zeit in der
Hauptsache schon vollzogen ist.
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114
chen Denkens, deren Anwendung so glänzende Resultate
wie die analytische Geometrie geliefert hatte, denkt Spinoza doch keinen Augenblick
preiszugeben.
Die Deutung Deleuzes wiederum basiert just auf dem
Nichtbeachten dieser sozusagen gnoseologischen Rolle der Attribute. Er sagt ausdrücklich,
daß die Attribute "keine Wahrnehmungsarten des Verstandes" sind, weil ja
"der spinozistische Verstand nur das wahrnimmt (perçoit), was ist". Oder
genauer: "Wenn das Attribut sich notwendig auf den Verstand bezieht, dann nicht,
weil es dem Verstande innewohnt, sondern weil es expressiv ist und weil das,
was es ausdrückt, notwendig einen Verstand (entendement) impliziert, der
es 'wahrnimmt'". 64
Es stimmt natürlich, daß Spinoza sich die Attribute nicht als subjektive
Sichtweisen dachte. Sie sind "objektive façons de voir", d.h. Widerspiegelungen
des substantiellen Wesens im Intellekt, wie Spinoza ganz deutlich in Def. I.4
schrieb: "Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit,
tanquam ejusdem essentiam constituens". (Es ist übrigens besonders zu beachten,
daß sich Spinoza hier des Terminus "percipere", d.h. "wahrnehmen", bedient.
An einer anderen Stelle — Def. n. 3 explic. — präzisiert er nämlich,
worauf "perceptio" hinweist daß die Seele "vom Gegenstande leide", d.h.
nicht aktiv ist, sondern Eindrücke von außen empfängt). Ein solches
Moment der Widerspiegelung in der Erkenntnis zu setzen, spricht Deleuze nicht
an; er will sie mit einer Theorie der Expressivität ersetzen, worauf wir
zurückkommen werden. Hier sei lediglich bemerkt, daß eine so konzipierte
Expressivität neben der Widerspiegelungstheorie auch den — aristotelisch-realistischen
- Begriff der Wahrheit als Korrespondenz ausschließt.
7. Weitere Distinktionen
Kehren wir noch einmal zur Distinktionsproblematik zurück.
Warum insistiert Deleuze auf der Rolle der realen Distinktion so nachdrücklich,
daß er dafür sogar die Entstellung der authentischen Gestalt des Spinozismus
in Kauf nimmt? Weil die Logik der realen Distinktion nach ihm "eine Logik
64 Deleuze 1981, S. 72 f.; dt. Ü.S. 68 f.
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115
der koessentieller Positivitäten wie koexistierender
Affirmationen" 65 ist. Die Realdistinktion ist, wie Deleuze sie sieht,
eine "distinction sans opposition". Er sucht bei Spinoza den frühen Entwurf
einer Logik der Differenz, wodurch ein Nebeneinander reiner Bejahungen konstituiert
wird.
Um aber zu zeigen, daß diese Logik einer oppositionslosen
Distinktion auch in der geschaffenen Natur herrscht, also in der Welt der Modi,
wo aber die Aseität fehlt (denn ein Modus ist das, was in einem anderen
ist oder durch ein anderes begriffen wird; I. def. 5), muß Deleuze
zu weiteren Konstruktionen greifen. Da die Wesenheiten (essentiae) bei Spinoza
von der Existenz unterschieden sind, muß Deleuze hier gleich zwei neue Distinktionen
ausfindig machen — sowohl im Rahmen der modalen Wesenheiten als auch der modalen
Existenz. Beide konzipiert er derart, daß sie einen Unterschied ohne Gegensatz
garantieren.
In der modalen Welt gibt es ein Wechselspiel von "distinction intrinsèque"
und "extrinsèque". Ihre systematische Rolle bleibt allerdings etwas kryptisch,
weil Deleuze nur eine sehr zusammengedrängte Darstellung gibt. 66
Soweit aber ist klar, daß die erstgenannte Distinktion auf die modalen Wesenheiten
weist, die nicht anders existieren, als daß sie in einem Attribut enthalten
sind. Da sie nicht actu — d.h. in der zeitlichen Dauer — existieren, können
sie nur "innerlich" voneinander unterschieden werden, und mithin herrscht zwischen
ihnen also eine "distinction intrinsèque". Deleuze nennt die Wesenheiten
auch "réalités intensives". 67
Die voneinander "äußerlich" unterschiedenen, aktual existierenden
Einzeldinge seien abhängig von diesen "intensiven Realitäten". Die
Einzeldinge existieren auf diese Weise, und ihre Unterscheidung nennt Deleuze
deshalb "äußerlich" (extrinsèque), weil sie insofern "außerhalb
des Attri-
65 Deleuze 1981, dt. Ü., S. 118.
Im französischen Original lautet die Stelle: "La logique de la distinction
réelle est une logique des positivités coessentielles et des affirmations
coexistantes" (ebd. S. 123).
66 Deleuze 1968a, S. 178 ff., 194 ff.;
dt. Ü. S. 174ff, 187 f. In Deleuze 1981 verwendet Deleuze
den Begriff "distinction extrinsèque" (ebd. S. 124 ; in der deutschen
Übersetzung S. 119 mit "äußerliche Unterscheidung" widergegeben).
Hatte er aber im Buch von 1968 den Terminus "extrinsèque" noch mit "intrinsèque"
gepaart, so operiert er in Spinoza — Philosophie pratique ausschließlich
mit dem Terminus "extrinsèque".
67 Deleuze 1968a, S. 194; dt. Ü. S. 187.
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116
buts" 68 sind, daß sie nicht mehr bloß
im Attribut enthaltene Möglichkeiten darstellen (vgl. Eth. II.8
coroll.).
Das Verhältnis dieser beiden Distinktionsformen faßt Deleuze folgendennassen
zusammen:
"Wenn die Modi Gegenstand einer äußerlichen
Setzung werden, hören sie auf, unter der komplizierten Form zu existieren,
die sie haben, solange ihre Wesen allein im Attribut enthalten sind. Ihre neue
Existenz ist eine Explikation [...] Das Attribut drückt sich nicht
mehr allein in den modalen Wesen aus, die es kompliziert oder enthält [...];
es drückt sich außerdem in den existierenden Modi aus". 69
Die "Explikation" wiederum ist weiter nichts als ein Synonym für die "Expression"
selbst, die der ganzen Philosophie Spinozas generell ihren Stempel aufdrückt. 70
Was Deleuze nun genauer mit diesen "äußeren" und "inneren" Distinktionen
meint, 71 illustriert er in Anlehnung an Duns Scotus mit dem Bild einer
weissen Mauer. So lange die Mauer weiß ist, kann man nicht sehen, daß
darauf irgendwelche Gestalten existieren. Damit solche entstehen können,
68 Ebd. S. 195. Den Anlaß zur Konstruktion
dieser Distinktion nimmt Deleuze aus einer Bemerkung in der frühen Arbeit
Spinozas Cogitata metaphysia. Dort hatte Spinoza "das Sein der
Existenz" (esse existentiae) als "die Wesenheit der Dinge selbst außerhalb
Gottes" (ipsa rerum essentia extra Deum) definiert. Dieses Sein werde den Dingen
zugeteilt, "nachdem sie von Gott geschaffen worden sind" (G I, S. 238).
Später in der Ethik kommt Spinoza darauf nicht mehr zurück -
was Deleuze nicht stört. "Nun sehen wir in der Ethik diese These
nicht zurückgenommen", meint er (ebd. S. 195; dt. Ü. S. 187).
Doch scheint dies Spinoza eben so getan haben. Denn in Cogitata metaphysica
hielt er noch daran fest, daß Gott unkörperlich ist (vgl. G I,
S. 176; Pars I, Prop. 16). Dies war ein Überbleibsel des Cartesianismus,
das später in der Ethik überwunden wird. So lange Spinoza aber
dachte, Gott sei unkörperlich, mußte er natürlich die Existenz
körperlicher Dinge außerhalb Gottes setzen.
69 Ebd. S. 196; dt. Ü. S. 188 f.
70 Vgl. ebd. S. 11 ff.; dt. Ü. S. 19 ff.
71 Die Darstellung bleibt etwas unklar. Siehe ebd.
S. 180, dt. Ü. S. 175: "Bei Spinoza ist die Individuation weder
qualitativ noch äußerlich, sie ist qualitativ-innerlich, intensiv".
Dagegen S. 194, dt. Ü. S. 187: "Die modalen Wesen [...] existieren
nur als im Attribut enthalten [...] Wenn aber die Modi in die Existenz übergehen,
erhalten sie extensive Teile" und sie unterscheiden sich auch äußerlich
untereinander. Individuation und In-die-Existenz-Treten wären demnach
also zwei verschiedene Sachen. Da nur Existenz numerisch gefaßt werden kann,
nicht die Wesenheit, so scheint daraus zu folgen, daß auch die Individuation
nicht numerisch gedacht werden kann.
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117
bedarf es eines "innerlichen Prinzips", das heißt,
man muß voraussetzen, daß solche Gestalten überhaupt möglich
sind. Mit anderen Worten, das geforderte "innerliche Prinzip" besteht eben in
dieser Voraussetzung. 72 Damit die äußerlich voneinander
distinkten Gestalten auf der Wand erscheinen können, bedarf es also einer
innerlichen Distinktion. Deleuze meint, daß dies alles Duns Scotus' Lehre
von den Intensitäten ähnelt. Die Weissheit hat verschiedene Intensitäten;
diese sind ihre innerlichen Bestimmungen, während die Weissheit selbst bei
allen ihren Modalitäten immer gleich univok bleibt. "So scheint es auch
bei Spinoza zu sein: die modalen Wesen sind innerliche Modi oder intensive Quantitäten". 73
Es ist dies eine geistreiche Konstruktion, die nur daran hinkt, daß sie
für das Verstehen von Spinozas authentischer Lehre von den Modi ganz unnötig
ist. Indem Deleuze seine neuen Distinktionen vorschlägt, ist sein Augenmerk
darauf gerichtet, eine Logik der Differenz ohne Opposition oder Gegensatz zu
begründen. Die Intensitäten scheinen so etwas zu ermöglichen.
Im Spinoza-Buch allerdings spricht Deleuze nicht viel davon. Aber in seiner gleichzeitig
verfaßten Schrift Differenz und Wiederholung kommt er öfters
darauf zurück. Das Eigentliche der Intensität hege daran, sagt er an
einer Stelle, daß "sie durch eine Differenz gebildet wird, die selbst auf
andere Differenzen verweist (E — E', wobei E auf e — e' und e auf e — e'...
verweist)". 74 Die Intensität, heißt es an einer anderen
Stelle, ist Differenz, die sich und eine Folge von anderen Differenzen bejaht.
Sie produziert also keine Gegensätze, keine Negativität — wie es auch
"keine Nullquotienten von Frequenzen, kein wirkliches Nullpotential, keinen absoluten
Nulldruck gibt". 75
Und was hat es mit der zweiten Unterscheidung auf sich, die "distinction modale
extrinsèque", die die Existenz der Einzeldinge untermauert? Als Existenz
in der Dauer (duratio) setzt sie ein Außersichsein örtlich und zeitlich
voneinander differenter Teile voraus. Der Leser vermutet nun natürlich,
daß mindestens bei dieser Distinktionsform Opposition und Gegensatz gelten
würden. Aber nein. Merkwürdigerweise vermeidet es Deleuze im 13.
72 Ebd. S. 179, dt. Ü. S. 174: "Wir
können die existierenden Dinge nur unterscheiden, insofern ihre Wesen als
unterschiedlich angenommen werden; zudem scheint jede äußerliche Unterscheidung
eine vorhergehende innerliche Unterscheidung vorauszusetzen".
73 Ebd. S. 179; dt. Ü. S. 175.
74 Deleuze 1968b, S. 155 f.
75 Ebd. S. 297.
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118
und 14.Kapitel seines Spinoza-Buches, die der Theorie der
Modi gewidmet sind, davon zu sprechen, wie ein endlicher Modus in seiner Existenz
immer durch einen anderen determiniert sein muß, obgleich dies einer der
Eckpfeiler der Moduslehre Spinozas ist (vgl. Eth. I.28, I.29).
Das würde nämlich Deleuzes Konstruktion zerstören, kommen doch
der Gegensatz und die Opposition — d.h. das "esse in alio" — eben mittels der
universellen Determination in die modale Welt. 76
Statt also zuzugeben, daß Existenz Determination und dadurch Anderssein
voraussetzt, gibt Deleuze eine andere Erklärung für sie. Nach dieser
Erklärung bestehe die Existenz darin, in der Wirklichkeit (actuellement)
"eine sehr große Zahl von Teilen" zu haben. 77 Einige
Seiten später präzisiert Deleuze, daß die "sehr große Zahl"
tatsächlich der unendlichen gleichkommt. "En d'autres termes, chez Spinoza,
il n'y a pas de mode existant qui ne soit actuellement composé à
l'infini". 78 Zwar seien auch diese Teile extensiv, doch
sind sie nicht Atome 79, sondern "aktuell unendlich-kleine Teile einer
Unendlichkeit, die selbst aktual ist". Und was noch verwunderlicher ist: diese
kleinen Teile haben keine eigene Existenz, obgleich die Existenz aus ihnen zusammengesetzt
ist. 80
Ohne Deleuze nun das Recht auf eine eigene Deutung abzusprechen, möchte
ich, auch gegen den Vorwurf der Pedanterie hin, hier doch an die Tugend der gewissenhafter
Forschung erinnern. Erstens: Spinoza sagt nirgends, daß die Existenz
identisch damit sei, aus einer großen (unendlichen) Zahl von Teilen zu bestehen.
Die Existenz folgt "aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes" (II.45 schol.).
Zweitens: Im Scholium zu Prop. I.11 sagt Spinoza expressis verbis, daß
die Einzeldinge "entweder aus vielen oder dann wenigen Teilen" bestehen können;
wie dem auch sei, ist die Anzahl der Bestandteile nicht ausschlaggebend für
ihre Existenz, sondern nur für die Vollständigkeit der äußeren
Ursache. Drittens: Wenn De-
76 In Prop. I.28 sagt Spinoza — was er in der Demonstration
dann noch deutlicher erklärt ‑, daß zur Existenz eines Einzeldinges
notwendigerweise die Determination durch ein anderes endliches Einzelding erforderlich
ist. Da die Einzeldinge von äußeren Ursachen zerstört werden können
(vgl. III.6 dem., III.8 dem.), entstehen bei einer unendlichen Kette von Determinationsvorgängen
auch unendlich viele Andersseine, die einander gegensätzlich sind oder dann
nicht.
77 Deleuze 1968a, S. 183; dt. Ü. S. 177. Hervorhebung von Deleuze.
78 Ebd. S. 189; dt. Ü. S. 182.
79 Ebd. S. 187; dt. Ü. S. 180.
80 Ebd. S. 189f: "Elles n'ont pas d'existence propre, mais composent l'existence"; dl. Ü. S. 183.
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119
leuze behauptet, daß die kleinen Teile, woraus die
Modi komponiert werden, keine "existence propre" haben, kommt das der Behauptung
gleich, Existenz werde aus Nicht-Existenz zusammengesetzt. Mithin erweist Deleuze
sich hier also als ein Anhänger der These "ex nihilo aliquid" — ganz im
Gegensatz zu Spinoza, der Gott, d.h. die Positivität schlechthin, für
die Ursache dessen hielt, daß Dinge zu existieren beginnen und sich in der
Existenz erhalten (vgl. Eth. I.24 coroll.).
8. Eine Ontologie "aus der Univozität"
Das von Deleuze praktizierte Zurückgreifen auf die
scholastische Terminologie scheint nicht nur belanglos in bezug darauf zu sein,
"was Spinoza wirklich sagte", sondern schafft zudem neue Probleme. Indem Deleuze
dem Spinozistischen Gott Distinktionen aufoktroyiert, macht er ihn zu einem "ens
compositum", wenn auch nicht im numerischen, sondern qualitativen Sinne 81.
Indem Deleuze an einer anderen Stelle noch zuspitzt: "Strikt getrennt von jeglicher
numerischen Unterscheidung, wird die reale Unterscheidung ins Absolute getragen", 82
so schafft es diese Behauptung zwar, eine "Differenz ohne Gegensatz" zu begründen
(denn die Differenz ist insofern ohne Gegensatz, als sie absolut ist). Zugleich
aber lastet sie dem Spinozismus das interpretatorisch nicht zu rechtfertigende
Handicap, daß die Attribute sich zu verselbständigen drohen: das Begründen
der Einheit der Substanz wird zu einem ähnlich kopfzerbrechenden Problem
wie es für die Theologen die Einheit Gottes trotz seiner drei Personen war. 83
Doch gibt es in Differenz und Wiederholung eine
Stelle, wo Deleuze eindeutig gegen das Zerfließen der Substanz bei ihm selbst
zu sprechen scheint: "Gleich zu Beginn der Ethik" erfahre man,
"daß sich die Attribute nicht auf Gattungen und Kategorien reduzieren
lassen, weil sie zwar formal
81 "Die Attribute sind real unterschieden (réellement
distincts); keines braucht ein anderes, noch irgend etwas anderes, um begriffen
zu werden. Sie drücken also substantiell absolut einfache Qualitäten
aus; genauso wie man sagen muß, daß eine Substanz jedem Attribut qualitativ
oder formal entspricht (nicht zahlenmäßig)... Die reale Unterscheidung
zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung zwischen letzten substantiellen
'Washeiten' (quiddités)"; Deleuze 1981, S. 73 (dt. Ü. S. 69).
82 Deleuze 1968a, S. 32; dt. Ü. S. 38.
83 So prägte ja schon Duns Scotus seine "formale
Distinktion" anfänglich vor allem, um zu begründen, warum das göttliche
Wesen nicht "vervielfältigt" wird durch die Dreizahl der Personen. Siehe
Gilson ebd. S. 244.
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120
geschieden, aber alle gleich und ontologisch eins
sind und keinerlei Teilung in die Substanz einführen" 84. Diesen
Satz, der die ontologische Einheit der Attribute bei Wahrung ihrer formalen Distinktion
feststellt, könnte man unterschreiben — wenn nicht Deleuzes Auffassung einer
"Ontologie" (von der er übrigens nur en passant spricht, ohne ihr größere
Bedeutung beizumessen) so eigenartig wäre. Nach ihm gründe diese "einzige
verwirklichte" Ontologie nämlich auf dem scotistischen Begriff der Univozität
des Seins. In Logique du sens definiert Deleuze weiter, diesmal ganz allgemein
gesprochen und ohne besonderen Bezug auf Spinoza: "La philosophie se confond
avec l'ontologie, mais l'ontologie se confond avec l'univocité de l'être". 85
Wie ich gleich unten genauer anführen werde, führt das zu einer
"Ontologie" im lediglich phänomenologischen Sinne, d.h. das Sein der Objekte
reduziert sich letztlich darauf, ein Korrelat des Bewußtseins zu sein. Dabei
verliert aber die Aufteilung des Gebiets der Philosophie in Erkenntnistheorie
und Ontologie ihren eigentlichen Zweck, und es verwundert nicht, daß die
diesbezügliche Problematik für Deleuze uninteressant bleibt.
Ein Einheitsgrund muß also gefunden werden. Deleuzes Gleiten besteht
hier aus einem Schritt vor, einem anderen zurück.
Der erste Schritt: Simon de Vries bat Spinoza in einem mit 24. Februar 1663
datierten Brief um eine deutlichere Erklärung zu Proposition I.10 der Ethik,
die wir einige Seiten zuvor schon zitiert haben. In seiner Antwort an den
"doctissimo Juveni" erinnert Spinoza zuerst an seine Definition der Substanz
("die in sich ist und durch sich begriffen wird") und fährt dann fort: "Unter
Attribut verstehe ich dasselbe, außer daß das Attribut in bezug auf
den Intellekt ausgesagt wird, welcher der Substanz eine solche bestimmte Natur
zuteilt" (attributum dicatur respectu intellectus, substantiae certam talem naturam
tribuentis; Epist. IX).
Die Stelle ist bemerkenswert, da Spinoza hier wohl am deutlichsten die "erkenntnistheoretische"
Dimension der Attribute hervorhebt Um der größeren Anschaulichkeit
willen gibt er für de Vries noch ein Beispiel, um zu zeigen, wie man dieselbe
Sache mit zwei verschiedenen Namen bezeichnen kann. "Erstens wird unter Israel
der dritte Patriarch verstanden; denselben meine ich auch mit Jakob, welchen
Namen er erhielt, indem er die Ferse seines Bruders ergriffen hatte [...]"
34 Deleuze l968b, S. 376.
85 Deleuze 1969, S. 210.
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121
Doch Deleuze sieht es anders: "Natürlich legt diese Stelle eine intellektualistische
oder sogar idealistische Interpretation der Attribute nahe. Aber ein Philosoph
ist immer verleitet, bei bestimmter Gelegenheit sein Denken zu vereinfachen oder
es nur teilweise zu formulieren..." 86 Wollte Deleuze nun sagen, man
soll die Spinozistischen Attribute nicht intellektualistisch interpretieren,
sondern in ihnen subjektive (sowohl wissenschaftsgeschichtlich als auch kulturell
bedingte) Widerspiegelungsformen mit objektivem Inhalt sehen, hätte er ganz
Recht
Er unternimmt aber statt dessen wieder eine der
bekannten Gleitbewegungen. Jedes Attribut sei "ein Name oder ein unterschiedlicher
Ausdruck; was es ausdrückt, ist wie sein Sinn; aber so wie das Ausgedrückte
nicht außerhalb des Attributs existiert, ist es auch auf die Substanz als
auf den durch alle Attribute bezeichneten Gegenstand bezogen". Die Attribute
sind Namen, die ihrem Sinn nach unterschiedlich sind, aber alle beziehen sich
auf die Substanz als auf das designierte Objekt 87 — ganz wie 'Israel'
und 'Jakob' im Beispiel Spinozas auf dieselbe Person bezogen werden.
Dieser erste Schritt war notwendig, um den Spinozismus zu einer Differenz-Philosophie
hinzustilisieren, er hat aber Deleuze zugleich noch tiefer in Schwierigkeiten
gebracht, denn die Attribute als realiter distinkte, verschiedene Sinn-Ausdrücke
scheinen der Substanz eine arge Vielheit aufzudrängen. Deleuze löst
das Problem durch einen zweiten Schritt, mit dem er die unerwünschten Wirkungen
des ersten zunichte zu machen hofft. Er führt den Scotistischen Univozitäts-Begriff ein:
"Duns Scotus verwirft die negative Eminenz der Neuplatoniker
und zugleich die Pseudobejahung der Thomisten. Beiden stellt er die Univozität
des Seins gegenüber: das Sein wird im selben Sinn von allem ausgesagt,
was ist, unendlich oder endlich, obgleich nicht immer unter derselben 'Modalität'.
Aber das Sein wechselt eben nicht die Natur, wenn es seine Modalität wechselt,
d.h. wenn sein Begriff vom unendlichen Sein und den endlichen Seienden prädiziert
wird (schon bei Scotus also zieht die Univozität keinerlei Gleichsetzung
der Wesen nach sich). Und die Univozität des Seins zieht selbst die Univozität
der göttlichen Attribute nach sich: den Begriff eines Attributs, das bis
zum Unendlichen erhoben werden kann, teilt
86 Deleuze 1968a, S. 52; dt. Ü.,S. 56.
87 Deleuze, a.a.O., S. 53; dt. Ü. S. 57.
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122
selbst Gott mit den Geschöpfen, vorausgesetzt er wird
in seinem formalen Grund oder in seiner Quiddität genommen". 88
Deleuze wird nicht müde, die Bedeutung des Univozitäts-Begriffs
zu unterstreichen; er sei "der Schlußstein des ganzen Spinozismus: gerade
weil die Attribute in derselben Form in Gott existieren, dessen Wesenheit sie
konstituieren, und in den Modi, die sie in ihre Wesenheit einschließen,
gibt es nichts Gemeinsames zwischen der Wesenheit Gottes und der Wesenheit der
Modi, und dennoch gibt es absolut identische Formen und Begriffe, die Gott und
den Formen absolut gemeinsam sind. Die Univozität der Attribute ist das
einzige Mittel, die Wesenheit und die Existenz der Substanz und die der Modi
radikal zu unterscheiden, wobei die absolute Einheit des Seins erhalten wird". 89
Mehr noch: "Der Kampf, den Spinoza gegen Descartes aufnimmt, ist nicht ohne
Beziehung zu demjenigen, den Duns Scotus gegen den Heiligen Thomas führte",
meint Deleuze. Denn sowohl Descartes wie auch der Doctor angelicus hielten bedauerlicherweise
am Analogiebegriff fest. 90 Das Unglück mit der Analogie ist,
daß sie die gemeinsamen Formen bei Gott und den Geschöpfen verneint;
so z.B. übertragen wir durch Analogieschluß Gott solche menschlichen
Eigenschaften wie Wille, Güte, Weisheit zu; diese besitzt Gott aber auf
äquivoke oder eminente Weise, d.h. in einem anderen Sinne als der Mensch.
Doch wird in ihm Menschliches gesehen. Darum enthalte die Analogie "einen subtilen
Anthropomorphismus, der genauso gefährlich ist wie der naive". 91
Die Methode des Analogie-Schlußes bestreitet also das Vorhandensein gemeinsamer
Formen für Gott und die Geschöpfe, vermengt aber trotzdem
88 Ebd. S. 54; dt. Ü. S. 57 f.
Deleuze stützt sich hier auf die Darstellung Etienne Gilsons, vgl. Gilson
1952, S. 222 ff.
89 Deleuze 1981, dt. Ü., S. 78.
Ich habe hier die deutsche Übersetzung korrigiert, die 'univocité'
mit 'Eindeutigkeit' wiedergibt.
90 Deleuze 1968b S. 64.
91 Deleuze 1968a, S. 38; dt. Ü.
S. 43. — Es muß allerdings bemerkt werden, daß Descartes z.B.
den freien Willen beim Menschen gar nicht nur als analog mit dem göttlichen
Willen dachte; im Gegenteil, der freie Wille macht uns gewissermassen gottähnlich
("nos quodammodo reddit Deo similes", d.h. die Willensfreiheit wird in ein und
derselben Bedeutung, mithin univok, sowohl von Gott als von den Menschen ausgesagt.
Aber eben die Cartesische Lehre von der Willensfreiheit wurde eine der Hauptzielscheiben
von Spinozas Kritik. Schon diese Tatsache relativiert den von Deleuze konstruierten
vermeintlichen Kampf des "Univokisten" Spinoza gegen den "Äquivokisten"
Descartes erheblich.
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123
ständig die Wesenheiten der geschaffenen Dinge mit
der Wesenheit Gottes. Spinoza seinerseits vermeide derartige Konfusionen, indem
er die Formidentität zwischen Gott und den geschaffenen Dingen setzt, aber
zugleich keine Vermengung ihrer Wesenheiten zuläßt. 92 Doch
gelingt eine solche Operation nur durch die Mobilmachung des Univozitätsbegriffs.
Und in der Tat gehe Spinoza noch weiter als Duns Scotus. Während der Doctor
subtilis das univoke Sein noch als neutral dachte, "bewirkt Spinoza einen beträchtlichen
Fortschritt Anstatt das univoke Sein als neutrales oder indifferentes zu denken,
macht er aus ihm ein Objekt reiner Bejahung". 93 Dieses ruft einem
natürlich das dionysische Ja Nietzsches in den Sinn, und Deleuze meint auch,
daß es dem Spinozismus nur noch fehle, "die Univozität als Wiederholung
in der ewigen Wiederkunft" zu verwirklichen. 94
9. Das Zeugnis Heideggers
Soweit also das deleuzianische Konstrukt. Wie ernst sollte
es genommen werden? Hören wir erst einen Zeugen, der nach Deleuzes eigenem
Urteil der Univozität des Seins "neuen Glanz" 95 verleiht. In
seiner 1916 erschienenen Studie über Duns Scotus weist Heidegger darauf
hin, wie Scotus das Sein in zwei Bereiche, in die der Natur und die der Vernunft
teilt; der letztere ist der Bereich der Logik. 96 Dem logischen Bereich
eigentümlich ist die Intentionalität, die ihn homogen macht. Dank dieser
Eigenschaft sind alle logischen Objekte univok, 97 während die
realen analog bleiben. Warum
92 Ebd. S. 38; dt. Ü. S.43.
93 Deleuze, 1968b, S. 64; vgl.
Deleuze 1968a, S. 58, dt.Ü. S. 61.
94 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 376.
95 Ebd. S. 94.
96 Heidegger 1978, S. 281 ff. Die
entscheidenden Duns Scotus-Stellen, worauf diese Charakterisierung sich stützt,
lauten folgendennassen: "Ens est duplex, scil[icet] naturae et rationis. Ens
autem naturae inquantum tale est, cuius esse non dependet ab anima. Sed ens rationis
dicitur de quibusdam intentionibus, quas adinvenit ratio in ipsis rebus..." (Quaest.
in lib. elench., qu.I, 1 b). Und weiter: "Quia ergo Logica est de huiusmodi
intentionibus" (l.c., 2 a).
97 Ebd. S. 281. Die entsprechenden Scotus-Stellen:
"...univocum apud logicum dicitur omne illud, quod per unam rationem devenit
apud intellectum" (Quaest. in libr. praed. qu. VII, 455a sq.); und: "Aliquid
intentionale univocum applicari potest rebus omnium generum; quia diversitas
in rebus [...] non impedit ipsas ab intellectu posse coneipi per eundum modum
coneipiendi; intentiones autem omnes eis attribu-
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124
dem so ist, erklärt Heidegger mit einem Hinweis auf
die Phänomenologie Husserls:
"Das Noematische, der Gehalt der psychischen Akte, ist eine eigenartige Gegenständlichkeit
'Während die Gegenstände schlechthin (in unmodifiziertem Sinne verstanden)
grundverschiedenen obersten Gattungen angehören, sind alle Gegenstandssinne
und alle vollständig genommenen Noeme, wie verschieden sie sonst sein mögen,
prinzipiell von einer einzigen obersten Gattung'. Nichts anderes besagt die von
Duns Scotus behauptete Univozität des logischen Sinnbereiches, gegenüber
der Geordnetheit durch Analogie in der Welt der realen sinnlichen und
übersinnlichen Objekte". 98
Daß auch die von Deleuze Spinoza zugeschriebene Univozität in ganz
ähnlichem phänomenologischen Sinne begriffen werden muß, zeigen
seine weiteren Ausführungen. In seiner Logique du Sens gibt es ein
Kapitel, betitelt "De l'univocité", wo er den Begriff folgendermassen einzukreisen
sucht: "La philosophie se confond avec l'ontologie, mais l'ontologie se confond
avec l'univocité de l'être. L'univocité de l'être ne veut
pas dire qu'il y ait un seul et même être: au contraire, les étants
sont multiples et différentes [...] L'univocité de l'être signifie
que l'être est Voix, qu'il se dit. Ce dont il se dit n'est pas du tout le
même. Mais lui est le même pour tout ce dont il se dit". 99
Mit anderen Worten, die "ontologische" Einheit der Welt gründet auf dem
Sagen, d.h. auf der Sinngebung. Tatsächlich bedient eine solche "univoke
Ontologie" sich der phänomenologischen Prozedur, wodurch die Gegenstände
letzten Endes zu Korrelaten des Bewußtseins nivelliert werden.
Mehr noch. Ganz wie Duns Scotus, der seine Lehre
dahingehend präzisierte, daß die Univokation eigentlich erst in der
sprachlichen Aussage zur Geltung kommt 100, fährt auch Deleuze
fort: "L'univocité signifie que c'est la même chose qui arrive et qui
se dit: l'attribuable de tous les corps ou états
untur, inquantum ab intellectu concipauntur"
(l.c., qu. II, 442 b sq.). Alle Dinge sind also insofern univok, als sie vom
Intellekt begriffen werden, da sie dann alle gleichermassen zu intentionalen
Objekten werden.
98 Ebd. S. 282. Heidegger zitiert hier Edmund
Husserl aus dessen Ideen zu einer reinen Phänomenologie.
99 Deleuze 1969, S. 210.
100 Heidegger, a.a.O., S. 329f: "Scotus
(..) sagt: die Univocation ist nicht eigentlich etwas, das primär die
Bedeutung angeht, sondern die Bedeutung, der Begriff, insofern er in prädikativer
Verwendung steht [...] Die Univocatio ist letzten Endes nichts anderes als
die identische Setzung der dem einen identischen Wort (Sprachgestalt)
zufallenden identischen Bedeutung".
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125
et l'exprimable de toutes les propositions. L'univocité
signifie l'identité de l'attribut noématique et l'exprimé linguistique:
événement et sens". Die Univozität reisst das Sein von den Dingen
los, um es ihnen wieder gleichmäßig zuzuteilen 101 — d.h.
sie macht aus dem Sein einen linguistischen Ausdruck, einen Sinn, der von jedem
Ding prädiziert werden kann. Der Deleuzianische Ontologie-Entwurf geht somit
von einer Kreuzung von Phänomenologie und Sprachphilosophie aus.
10. Spinoza kein Pnänomenologe avant la lettre
Man findet bei Spinoza nirgends einen solchen Begriff von
Univozität, den Deleuze ihm unterstellt, und noch weniger ist es möglich,
aus Spinoza einen Phänomenologen avant la lettre zu machen. Zwar ist es
wahr, daß die Phänomenologie darin mit den Gedankengängen Spinozas
verwandt zu sein scheint, daß auch sie den Cartesischen Dualismus kritisiert.
In seiner Phénoménologie de la perception (1945), die vor allem
auf Husserls Ideen baut, wendet Maurice Merleau-Ponty sich scharf gegen den Leib-Seele-Dualismus
von Descartes, den er für das Resultat einer falschen Methode hält.
Nimmt man demgegenüber, wie Merleau-Ponty empfiehlt, die phänomenologische
Analyse der Perzeption hin, schmelzen Objektives und Subjektives zusammen. In
der Wahrnehmung ist der Körper immer mit; er ist dann kein bloßes Objekt
mehr, und das Bewußtsein wiederum nicht mehr bloßes Denken. Die Erfahrung
des eigenen Körpers "zeigt uns eine zweideutige Daseinsweise" (une mode
d'existence ambigu), wo die Verbindung von Leib und Seele immer "implizit und
verworren" sei. 102
Tatsächlich aber überwindet die Phänomenologie die dualistische
Spaltung der cartesianischen Tradition in die Linien Vulgärmaterialismus
und Spiritualismus nicht, sondern begnügt sich mit der "einen Hälfte"
des Cartesianismus, mit dem durch die Cogito-These implizierten Spiritualismus.
Dies ist leicht daraus ersichtlich, daß Merleau-Ponty — trotz aller Polemik
gegen Descartes — bei der phänomenologischen Betrachtung subjektiver Bewußtseins-
und Erfahrungsinhalte bleibt Sein Fazit: "Man soll also nicht fragen, ob wir
die Welt richtig wahrnehmen, man muß im Gegenteil sagen: die Welt ist, was
wir wahrnehmen" (le monde est cela que nous perce-
101 Deleuze 1969, S. 211.
102 Merleau-Ponty 1945, S. 231.
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126
vons)". 103 Man kann die "phänomenologische
Welt" nach ihm nicht von der Subjektivität und Intersubjektivität trennen. 104
Es ist hier nicht der Ort, die Bedeutung und philosophiegeschichtliche Rolle
phänomenologischer Methode eingehend zu würdigen. Das würde uns
vom eigentlichen Thema zu weit abführen. So viel kann man aber sagen: Merleau-Pontys
Problem besteht darin, daß er in unmittelbare Nähe zum subjektiven
Idealismus, ja zum Solipsismus rückt, weil er — gut phänomenologisch
- alles Nicht-Subjektive "ausgeklammert" hat. Da die phänomenologische (eidetische)
Reduktion im Grunde nur die Cartesische Dubito-Operation im neuen Gewande ist,
soll man sich nicht wundem, daß die heutigen Phänomenologen zu einer
ähnlichen Auffassung vom "Theater der Seele" gelangen, wie schon Descartes,
und dies trotz aller Kritik an ihm. 105
Schon Husserl, die philosophische Autorität Merleau-Pontys, verwies in
der Einleitung seiner Cartesianischen Meditationen auf die Bedeutung der
"prima philosophia" von Descartes für die Weiterentwicklung des phänomenologischen
Ansatzes, und zwar in die Richtung des transzendentalen Subjektivismus. 106
Vom Standpunkt der Begründung der Phänomenologie war der Spinozismus
demgegenüber für Husserl eine Randerscheinung. Ihm war dieser lediglich
"eine rein rationale Metaphysik, die alle besonderen Ontologien in sich schließen
solle" und deswegen den bahnbrechenden transzendentalphilosophischen Ansatz in
den Meditationes von Descartes nicht gehörig würdigen könne. 107
Husserl hat ganz recht. Spinoza unterscheidet sich von der Phänomenologie
vor allem darin, daß er die das Bewußtsein bedingenden Prioritäten
anders setzt. Er sagt ausdrücklich, nicht nur hänge "die Vortrefflichkeit
der Ideen" von der "Vortrefflichkeit des Gegenstandes" ab (idearum praestantia,
& actualis cogitandi potentia ex objecti praestantia aestimatur; Eth. III,
Aff. gen. def., explic.), sondern das aktuale Dasein des Körpers sei auch
die Voraussetzung der Seele (II.11, III.10). Die letztgenannte Position ließe
sich wohl auch vom Standpunkt von Merleau-Pontys verteidigen, aber auch
103 Ebd. S. XI.
104 Ebd. S. XV.
105 Darüber siehe z.B. Allen 1976, S. 132-154.
106 Husserl 1992b, S. 3 ff.
107 Über Husserls abschätziges Bild von
Spinoza als einem naiven Metaphysiker, der "das Problem der Möglichkeit
objektiver Erkenntnis in der Immanenz des erkennenden Subjekts" nicht begriffen
habe, vgl. besonders den Abschnitt "Kritische Ideengeschichte" in: Husserl
1992b, vor allem S. 193.
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127
da bleibt der Unterschied zu Spinoza, daß bei ihm die
Einheit von Leib und Seele auf der Abhängigkeit des Subjekts von der ganzen
Natur gründet, während bei Merleau-Ponty diese Einheit der Analyse
der Wahrnehmung des einzelnen Subjekts abgewonnen wird.
Alles oben von Merleau-Ponty Gesagte läßt sich auch auf Deleuze
anwenden. Sein Versuch, aus Spinoza einen "Univozitäts-Philosophen" zu machen,
kommt der Phänomenologisierung des Spinozismus gleich. Und da die Univozität
nichts anderes ist als das Vereinen aller möglichen Gegenstände unter
die einzige Bestimmung, intentionales Objekt für das Subjekt zu sein, können
wir die Spuren dieser Prozedur bis zu seiner (wie auch der der Phänomenologie)
wahren Quelle verfolgen, nämlich zu Kants Lehre von der "Verknüpfung
des Mannigfaltigen" im Subjekt. Und von der Phänomenologisierung ist es
nur ein kurzer Schritt, die Gegenständlichkeit überhaupt semiotisch
zu interpretieren. Eben so verfährt Deleuze.
11. Expression und das "Lekton" der Stoiker
Das Spinoza-Buch vom Jahre 1968 weist schon im Titel auf
eine der Hauptthesen deleuzianischer Deutung: der Spinozismus sei vor allem als
eine "Philosophie der Expression" zu verstehen. Spinozas Bindung zum Rationalismus
wird damit zwar gelockert, aber nicht, wie dies bei solchen Auslegungen früher
üblich war, z.B. dem Neoplatonismus angenähert, sondern vielmehr den
zum Irrationalismus tendierenden Lebensphilosophien späterer Zeiten ("Expression"
als ein Code für das "Leben" 108).
Deleuze geht von der Tatsache aus, daß Spinoza
sich hier und da des Wortes exprimere (ausdrücken) bedient — beispielweise
in seiner Definition der Substanz: "Unter Gott verstehe ich [...] die Substanz,
welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches
Sein ausdrückt" (Eth. I def. 6). Dies ist für
Deleuze Anlaß genug, das gesamte Denken Spinozas unter den Gesichtspunkt
der Expression zu subsumieren, und zwar in einer Weise, daß er — um Konrad
Hecker noch einmal zu zitieren — "sich oft weit von Spinozas tatsächlichen
Ausführungen löst und eine systematisierende Neuauffassung ihrer Gedankengänge
ansteuert,
108 "La Vie, c'est-à-dire l'expressivité";
Deleuze 1968a, S. 70; dt. Ü. S. 72.
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128
die auf deren Verwertung für eine konsequentere und
explizitere 'Metaphysik der Expressivität' hinausläuft". 109
Obgleich Spinoza selbst nirgends genauer erklärt, was er mit dem Begriff
der Expression meint, läßt sich nach Deleuze dennoch feststellen, daß
er sich als eine Triade darstellt, und zwar auf mehreren Ebenen. Die erste Triade
ist die von Substanz — Attribut — Wesenheit: "die Substanz drückt sich aus,
die Attribute sind Ausdrücke, das Wesen ist ausgedrückt" 110.
Danach kommen andere, z.B. die Triaden des Absoluten und des Vermögens (potentia). 111
Die triadische Struktur spinozistischer Substanzlehre ist eine Interpretation,
die sich am konkreten Material des Werks von Spinoza selbst schwerlich nachweisen
läßt. Doch scheint Deleuze dafür besondere Gründe gehabt
zu haben, diese Triplizität zu setzen, wie wir bald sehen werden.
In der ersten Triade stellen die Attribute nun genau
das dar, worauf die deleuzianische "Philosophie der Expression" hinauswill. Die
Attribute sind nämlich die Expression selbst, sie drücken die Wesenheit
(essentia) der Substanz aus. Das Attribut ist, laut Deleuze, "keine einfache
Weise zu sehen oder zu begreifen [...] Denn weil Attribute selbst Ausdrücke
sind, verweisen sie mit Notwendigkeit auf den Verstand, als der einzigen
Instanz, die das Ausgedrückte wahrnimmt". 112
Damit erweise sich die spinozistische Logik als Teil einer langen Tradition,
die bis zu den Stoikern und einigen Scholastikern zurückreicht. In dieser
Tradition unterscheide man in einem Ausdruck — z.B. in einer Proposition — das,
was er ausdrückt und das, was er designiert. "Das Ausgedrückte ist
wie der Sinn, der nicht außerhalb des Ausdruckes existiert; dieser verweist
deshalb auf einen Verstand, der es [...] idealiter erfaßt". 113
Spinozas Auffassung vom Attribut sei nach Deleuze
"etwas wie eine Transposition dieser Theorie des Sinns". Jedes Attribut sei "ein
Name oder ein unterschiedlicher Ausdruck; was es ausdrückt, ist wie sein
Sinn". Die Substanz wiederum wird zum "durch alle Attribute bezeichneten Gegenstand
[...]; auf diese Weise bilden alle ausgedrückten Sinne das
109 Hecker, a.a.O., S. 73. Allerdings
meinen andere Autoren, daß Deleuze mit seiner Spinoza oktroyierten "Theorie
der Expressivität" eine wirkliche Entdeckung gemacht habe — so z.B. Alquié
1981, S. 134 f.
110 Deleuze 1968a, S. 21; dt. Ü.S. 29.
111 Ebd. S. 71, 84; dt. Ü. S. 73,86.
112 Ebd. S. 52; dt. Ü. S. 56.
113 Ebd. S. 53; dt. Ü. S. 56 f.
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129
'Ausdrückbare' (l'exprimable), oder das Wesen der Substanz". 114
Mit anderen Worten, die Logik der Attribute ist ein Sonderfall der "Logik des
Sinns".
Nun wird auch deutlich, warum Deleuze die Triade Substanz — Attribut — Wesenheit
konstruiert hatte, von der man in den Texten Spinozas selbst keine Spuren fand.
Es handelt sich ganz einfach um die altbekannte semiotische Triade, die der Substanz
so zugesprochen wird, daß ihre Momente den Zeichenkonstituenten analog sind.
Die Substanz ist das designierte Objekt. Es wird die Wesenheit ausgedrückt,
die also den Sinnesinhalt im Attribut-Ausdruck bildet. Will man dies alles in
die Sprache der stoischen Semantik übersetzen, so wäre die Substanz
das tynchanón, das Attribut das sêmaínon bzw.
phônê und die Wesenheit das lektón.
Das interessanteste Glied dieser Triade ist das
letztgenannte. Zwar diskutieren die Forscher über die Nuancen des Lektons
bei den Stoikern, doch wird es gewöhnlich mit "Signifikat", d.h. geistiger
Bedeutungsgehalt, widergegeben. 115 Es ist hier nicht der Ort, die
Problematik ausführlich zu behandeln; nur ein Zitat aus Brief 117 von Seneca
mag anschaulich erhellen, wie man im Altertum die Sache betrachtete. "Ich sehe",
schreibt Seneca, "daß Cato vorbeigeht; das zeigen die Sinne und die Seele
glaubt daran. Der Körper ist es, was ich sehe und worauf ich sowohl die
Augen als auch die Seele richte. Danach sage ich: 'Cato geht vorbei'. Das, was
ich nun spreche, ist keineswegs ein Körper, sondern etwas vom Körper
Gesagtes". 116 Auch andere antike Autoren, z.B. Sextus Empiricus attestieren
die Nicht-Körperlichkeit des Lektons (asômaton lektón, Adv.
math. I, її 155, 156, 157; vgl. Adv. math. I, ї 20: tà
dè sômata ouk èsti lektá). 117
114 Ebd. S. 53: "Chaque attribut est un nom
ou une expression distincte; ce qu'il exprime est comme son sens"; dt. Ü. S. 57.
115 Eine gute Darstellung der Problematik gibt Losew
1982, S. 168 ff., doch die Übersetzung des Terminus Lekton
als "Wortgegenständlichkeit" (slovesnaja predmetnost') ist etwas vieldeutig
- es handelt sich ja um einen reinen Sinn-Inhalt, der im Wort ausgedrückt
wird und noch abstrakter ist als die übrigen psychischen Akte, wie Vorstellungen
u. dgl. (vgl. ebd. S. 172).
116 Seneca 1619:I, S. 653: "...tamquam,
video Catonem ambulantem: hoc sensus ostendit, animus credit. Corpus est quod
video, cui & oculos, & animum intendi. Dico deinde, Cato ambulat: non
corpus quidem est quod nunc loquor, sed enunciativum quiddam de corpore: quod
alii effatum vocant, alii enunciarum, alii edictum".
117 In Deleuze 1969 werden die Lektonen weiter
mit den Simulacra identifiziert. Wir verfolgen hier diese Entwicklung nicht weiter,
da sie die Spinoza-Rezeption Deleuzes nicht unmittelbar berühren.
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130
Deleuze setzt also die Wesenheit (essentia) der Substanz, das "Ausdrückbare"
(1'exprimable) mit dem stoischen Lekton-Begriff gleich. Das hat weitreichende
Folgen. Es impliziert, daß nicht nur die Wesenheit (oder Natur, denn die
beiden Termini decken sich bei Spinoza weitgehend) der Substanz unkörperlich
ist, sondern auch — weil Wesenheit und Existenz in der Substanz zusammenfallen
- daß das substantielle Sein überhaupt nicht körperlich sein kann.
Für Deleuze besteht die Substanz eigentlich aus dem Sinn (Bedeutung, sens).
Wenn dem aber so ist, wird von der Substanz nicht nur univok ausgesagt — sie
ist Univozität selbst, oder besser: ein univoker Sinn.
In Differenz und Wiederholung formuliert
Deleuze denselben Gedanken, aber diesmal als eine allgemeine ontologische Konstatierung
ohne ausdrücklichen Bezug auf Spinoza, wobei statt von "Substanz" vom "Sein"
gesprochen und "das Sein, dieses gemeinsame Bezeichnete, sofern es sich ausdrückt,
seinerseits in ein und derselben Bedeutung von all den numerisch geschiedenen
bezeichnenden oder ausdrückenden Elementen ausgesagt wird". 118
De facto ist Deleuze bei dieser Gleichsetzung von Essentia und Lekton ins Lager
der Widersacher Spinozas übergegangen, die verneinen, daß Gott körperlich
sein kann; eine Auffassung, gegen die Spinoza im Prop. I.15 schol. polemisiert.
Nun könnte man zwar erwidern, daß Gott selbst als Tynchanón,
als designiertes Objekt doch körperlich sein kann, die Unkörperlichkeit
betreffe nur seine Wesenheit. Man könne nämlich mit Wesenheit als Lekton
eben das meinen, was der Verstand in Gott als seinen Sinn-Inhalt erblickt. Spinoza
hat selbst auf die subjektive, "gnoseologische" Seite des essentia-Begriffs hingewiesen
(vgl. die Identifizierung der "certitudo" mit "essentia objectiva" in Tractatus
de intellectus emendatione). Aber dies schließt keineswegs das
Vorhandensein einer formalen Wesenheit aus, wie auch aus dem Scholion zu I.17
hervorgeht, wo Spinoza über "veritas, et formalis rerum essentia" spricht,
die "ideo talis est, quia talis in Dei intellectu existit objective". Gerade
in der formalen Wesenheit liegt das objektiv-gegenständliche Moment des
spinozistischen essentia-Begriffs, der eine Ontologie voraussetzt.
118 Deleuze 1968b, S. 59.
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131
12. Logik der Differenz statt Dialektik
Bis dahin gelangt, können wir nun die verschiedenen
Gedankenfaden und Motive deleuzianischer Spinoza-Interpretation zusammenknüpfen.
Diese Motive — "Expression", Univozität und Rehabilitierung der formalen
Distinktion — bilden kein zufälliges Sammelsurium. Sie dienen dazu, den
schon oben vielfach genannten Leitgedanken zu begründen. Deleuze bemüht
sich, eine neuartige Logik zu entwerfen, die nichts mit der Dialektik zu tun
haben soll.
"Non opposita sed diversa" soll die Devise der neuen Logik sein. 119
Die Interpretation, die Deleuze der Realdistinktion gibt, spielt hier eine wichtige
Rolle, denn sie "schien eine neue Konzeption der Verneinung anzukündigen,
ohne Opposition oder Privation, aber auch eine neue Konzeption der Bejahung". 120
Die "Gleitbewegung" besteht nun darin, daß man, um diese Perspektive zu
verwirklichen, die Realdistinktion als nicht-numerisch uminterpretieren muß
und um sie so tatsächlich mit der Scotistischen formalen Distinktion gleichzusetzen. 121
So kann man die Substanz als eine, und zugleich die Attribute als formal unterschieden
denken. 122 Das Sein (bei Spinoza: Substanz) ist univok, d.h. die Unterschiede
implizieren kein Anderssein. Und weil kein Anderssein, so auch keine Negation.
"Mit Spinoza wird die Univozität ein Gegenstand reiner Bejahung". 123
Diese Linie soll dann in der von Nietzsche lancierten dionysischen Bejahung ihre
Fortbildung finden.
Was in der Deleuzianischen Logik der Differenz affirmiert wird, ist die Singularität, 124
die konstitutiv für das Sein ist. Indem die Logik der Diffe-
119 Deleuze 1968a, S. 51; dt. Ü.S. 55.
120 Ebd. S. 51; dt. Ü. S. 55.
121 Ebd. S. 55; dt. Ü. S. 59.
122 Ebd. S. 57, 165; dt. Ü. S. 60, 162.
123 Ebd. S. 58; vgl. S. 309; dt. Ü.
S. 61, 294. In der Tat geht die Expressivität in die Univozität
der Substanz auf: "Bei Spinoza steht die ganze Theorie des Ausdrucks im Dienst
der Univozität" (ebd. S. 309, dt. Ü. S. 294).
124 Michael Hardt bemerkt, wie Deleuze bei der Prägung
des Singularitäts-Begriffs von Bergson, "seinem Vergil", begleitet wird.
Er lese Spinoza durch die Brillen Bergsonscher Ontologie. So verstanden, hat
die Singularität des Seins nichts mit Individualität zu tun; eine Singularität
ist nicht von etwas unterschieden, im Gegenteil: "The distinction of being
rises from within [...] The first task of real distinction, then, is to define
being as singular, to recognize its difference without reference to, or dependence
on, any other thing" (Hardt a.a.O. S. 10, 62 f.).
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132
renz die absolute Einmaligkeit des Singulären hervorhebt,
ist sie der Dialektik Hegels entgegengesetzt, die im Allgemeinen beharrt.
In Differenz und Wiederholung schärft
Deleuze gleich auf den ersten Seiten ein, daß die "Wiederholung" (répétition)
nicht mit der Allgemeinheit (généralité) verwechselt werden darf.
Denn die Allgemeinheit bringt "einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, demgemäß
ein Term gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt
werden kann", während es sich mit der Wiederholung ganz anders verhält:
"Als Verhaltensweise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine nicht
vertauschbare, unersetzbare Singularität". 125
Gegen die Allgemeinheit setzt Deleuze das Prinzip einer Vielheit, die aus
lauter Differenten, aus Singularitäten bestehen soll: "Wiederholen heißt
sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem,
das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist". 126
Hier sind — wie Manfred Frank richtig bemerkt — die wiederholten Ereignisse "Singularitäten,
die den Begriff, unter dem sie angetreten waren, im Akt der Anwendung zugleich
überschreiten und unabsehbar verändern". 127
Die Wiederholung ist eigentlich, fährt Deleuze
fort, die "Grundkategorie der zukünftigen Philosophie". Denn die Wiederholung
"verweist in ihrem Wesen auf eine einzigartige Macht (puissance), deren Natur
von der Allgemeinheit abweicht". 128 Schon Kierkegaard und Nietzsche
stellten die Wiederholung "allen Formen der Allgemeinheit gegenüber". 129
Bei Kierkegaard ging es darum, "aus der Wiederholung als solcher eine Neuheit
zu machen, d.h. eine Freiheit und eine Aufgabe der Freiheit", bei Nietzsche wieder
darum, "den Willen von allen Fesseln zu befreien, indem die Wiederholung gerade
zum Gegenstand des Wollens gemacht wird". 130 Nietzsches "ewige Wiederkunft"
kann nicht die Wiederkehr des Identischen meinen, da sie eine Welt voraussetzt,
"in der alle vorgängigen Identitäten abgeschafft und abgelöst
sind". Folglich besteht die einzige Identität im Wiederkehren selbst, und
"eine solche, durch die Differenz hervorgebrachte Identität wird als Wiederholung
bestimmt". 131
125 Deleuze 1968b, S. 15.
126 Ebd. S. 15.
127 Frank a.a.O., S. 476.
128 Deleuze 1968b, S. 18.
129 Ebd. S. 20.
130 Ebd. S. 21.
131 Ebd. S. 67.
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133
Die Welt der Wiederholung ist also eine Welt der universalen Differenzierung;
und eben hier, im Anerkennen der Einzelheit, sah Deleuze schon 1962 das Verdienst
Nietzsches: "An die Stelle der Kantischen Allgemeinheit wie des den Utilitaristen
teuren Prinzips der Ähnlichkeit setzt Nietzsche das Gefühl der Differenz
oder der Distanz (differentielles Element)". 132 Und die für Hegel
zentralen Begriffe der Negation und des Widerspruchs ersetzt Nietzsche mit dem
der Differenz:
"Wie ein roter, aggressiver Faden durchzieht der Anti-Hegelianismus das Werk
Nietzsches. Schon in der Theorie der Kräfte können wir ihm folgen.
Niemals wird bei Nietzsche das wesentliche Verhältnis einer Kraft zu einer
anderen als ein im Wesen negatives Element begriffen. In ihrem Verhältnis
zu einer anderen negiert die Kraft [...] nicht etwa die andere Kraft oder das,
was sie nicht ist; sie bejaht vielmehr ihre eigene Differenz und genießt
sie. Im Wesen ist das Negative nicht vorhanden als dasjenige, woraus die Kraft
ihre Aktivität schöpft Im Gegenteil verdankt es seine Entstehung selbst
allererst dieser Aktivität, der Existenz einer aktiven Kraft und der Bejahung
ihrer Differenz. Das Negative ist Produkt der Existenz selbst: ist die notwendig
an eine aktive Existenz gebundene Aggressivität [...] Das spekulative Element
der Negation, des Gegensatzes oder des Widerspruchs ersetzt Nietzsche durch das
praktische Element der Differenz". 133
Anstatt "Arbeit des Negativen" (Hegel) soll es "Genuß
der Differenz" (Nietzsche) sein: "Das 'Ja' Nietzsches opponiert dem 'Nein' der
Dialektik; die Bejahung der dialektischen Verneinung; die Differenz dem dialektischen
Widerspruch; die Freude, der Genuß der dialektischen Arbeit; die Leichtigkeit,
der Tanz der dialektischen Schwere; die schöne Unverantwortlichkeit den
dialektischen Verantwortlichkeiten". 134
Diese nicht-dialektische Philosophie der Differenz,
die "ein Gewimmel von Differenzen", "einen Pluralismus von freien, wilden oder
ungezähmten Differenzen" voraussetze, 135 besteht nun nach Deleuze
genauer darin, daß sie den Begriff der Negativität verwirft, wie er
bei Hegel vorkam. Tatsächlich sei das Negative nur ein Epiphänomen.
"Das Negative ist das Bild der Differenz, allerdings ihr flachgedrücktes
und verkehrtes Bild, wie die Kerze im Ochsenauge — im Auge des Dialektikers". 136
132 Deleuze 1985, a.a.O., S. 6.
133 Ebd. S. 13.
134 Ebd. S. 14.
135 Deleuze 1968b, S. 76.
136 Ebd. S. 77.
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134
Der Dialektiker irrt sich, wenn er glaubt, daß Gegensätze Differenzen
erzeugen; primär ist die Differenz selbst, die unwiederholbare Singularität.
"Wir behaupten [...], die Differenz [...] lasse sich nicht auf den Widerspruch
reduzieren [...]. Denn unter welcher Bedingung wird die Differenz derart in einen
ebenen Raum [...] projiziert? Eben dann, wenn man sie gewaltsam in eine vorgängige
Identität gezwängt hat, wenn man sie [...] sich dort reflektieren läßt,
wo das Identische sie haben will, nämlich im Negativen". 137
13. Differenz, Unterschied, Verschiedenheit
Wie sollte man diese Kritik an der Dialektik bewerten? Zuerst
läßt sich sagen, daß die deleuzianische Differenz viel Ähnliches
mit der Verstandesidee hat, die Hegel im Zusatz zu ї 117 der Enzyklopädie
"bloße Verschiedenheit" 138 nannte. Sie folgt aus einer abstrakten
Auffassung der Identität. Ich betrachte im folgenden erst Hegels "Lehre
von der Differenz", dann Spinozas entsprechende Lehre und komme zuletzt zu Deleuze
zurück.
Zuerst zu Hegel. Der Satz der Identität A = A ist nach ihm
kein wahres Denkgesetz, sondern nur ein "Gesetz des abstrakten Verstandes". 139
Bei genauer Betrachtung erweist es sich, daß der abstrakte Satz der Identität
mehr enthält, als man unmittelbar damit meint, nämlich die stillschweigende
Voraussetzung, daß es auch ein Nicht-A gibt, das dem explizit genannten
A entgegengesetzt ist. So ist im Satze der Identität schon der Unterschied
enthalten. 140
Der Unterschied seinerseits tritt bei Hegel in mehreren
sukzessiven Gestalten auf. In der Wissenschaft der Logik sind es drei
Momente: (a) der absolute Unterschied, (b) die Verschiedenheit und (c) der Gegensatz.
In der Enzyklopädie hat die Darstellung dieselben Stufen, obgleich
mehr vereinfacht. Der unmittelbare Unterschied, in der "das Unterschiedene jedes
für sich ist, was es ist, und gleichgültig gegen seine
Beziehung auf das Andere, welche [...] eine ihm äußerliche ist", heißt
Verschiedenheit. 141 Dies ist eben die von Hegel getadelte "bloße
Verschiedenheit", wo sich die Verschiedenen zueinander gleichgültig verhalten.
Erst im weiteren Gang der
137 Ebd. S. 78.
138 Hegel 1969:8, S. 240.
139 Ebd. S. 237 (ї 115).
140 Hegel 1969:6, S. 42 ff.
141 Hegel 1969:8, S. 239 (ї117).
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135
Darstellung kommt man zur Verschiedenheit als "Unterschied
der Reflexion", die ein "bestimmter Unterschied" ist. 142 Danach
kommt die Kategorie des Gegensatzes, der am ausdrücklichsten dem Satze der
Identität widerspricht.
An der "bloßen", "gleichgültigen" Verschiedenheit kritisiert Hegel,
daß es darin nur Verschiedenheit vom Anderen geben soll. Tatsächlich
aber enthält die Verschiedenheit schon seine Negation in sich (wie wir beim
Satz der Identität sahen). Die Verschiedenheit ist somit seine eigene Bestimmung
und ist auch von sich verschieden. 143 Das abstrakte Verstandesdenken
sieht dies aber nicht, sondern hält nur an der Bestimmung der Verschiedenheit
fest, vom Anderen verschieden zu sein.
Und wie steht es mit Spinoza? Ist er ein Antidialektiker und Anti-Hegelianer
auch in seiner Theorie vom Unterschied und von der Verschiedenheit, wie ihn Deleuze
interpretiert?
Um mich möglichst kurz zu fassen, will ich die Frage nur mit einem Beispiel
illustrieren. Die Modi werden nach Spinoza durch das Verhältnis des Andersseins
konstituiert (Eth. I. def. 5: "Per modum intelligo ...
id, quod in alio est, per quod etiam concipitur"). Dieses "esse in alio" setzt
Spinoza doppelt. Erstens wird damit das Sein aller Modi in Gott gemeint
(1.15,1.23 dem.: "Modus enim in alio est ... hoc est... in solo Deo est, &
per solum Deo concipi potest"). Die Modi sind von der Substanz unterschieden;
die Substanz ist ihr Anderes. Aber zweitens werden alle singularen Modi
zur Existenz und Tätigkeit durch andere singulare Modi determiniert, diese
von dritten und so fort ins Unendliche (I.28; vgl. auch IV.29 dem.). Die Modi
sind auch voneinander unterschieden; sie sind Andere zueinander. Daraus, daß
die Modi "im Anderen" sind, folgt weiter, daß ihre Wesenheit die Existenz
nicht einschließt. Denn nur das, dessen Wesenheit die Existenz einschließt,
d.h. die Substanz, ist Ursache seiner selbst und also "in se" (I.24 & dem.).
Zunächst scheint es also, als ob die Modi Spinozas
der von Hegel getadelten verstandesmäßigen Logik der "bloßen Verschiedenheit"
gehorchen würden. Die Existenz der Einzeldinge ist determiniert, weshalb
sie eine klar umrissene Identität haben, die jedes von ihnen von den anderen
unterscheidet Vor allem scheint Proposition III.4 diesen Eindruck zu bestätigen:
im Wesen des (Einzel)dinges gibt es nichts, was es aufheben könnte, "denn die
142 Ebd. S. 242 (ї 118).
143 Hegel 1969:6, S. 52 f.
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136
Begriffsbestimmung eines jeden Dinges bejaht das Wesen dieses
Dinges, verneint es nicht".
Aber schon in Proposition III.6 ändert sich das Bild. Spinoza führt
hier den berühmten Conatus-Begriff ein: "Ein jedes Ding strebt, soviel an
ihm liegt, in seinem Sein zu beharren". Und dann wird der Conatus in III.7 als
"essentia actualis" des Dinges bestimmt. Ein Ding, das Conatus besitzt, existiert,
und darin aktualisiert sich seine Wesenheit. Aber zur Definition des Einzeldinges
gehört eben, daß seine Wesenheit und Existenz nicht identisch sind.
Die "actualis essentia" vereinigt also zwei nicht-identische Zustände. Somit
kann das Einzelding nicht mehr nur vom Anderen verschieden sein. Es muß
auch von sich verschieden sein.
Mit anderen Worten, der Conatus zeigt, daß
statt der verstandesmäßig fixen Identität und der dadurch bedingten
äußeren Verschiedenheit die Dinge schon in sich verschieden sind. Es
wohnt ihnen eine substantielle Macht inne. Die Trennungslinie, die man früher
zwischen Substanz und Modi zu finden glaubte, verläuft tatsächlich
im Inneren der Modi selbst. Die Modi sind dynamische Entitäten, sie stehen
nicht gleichgültig nebeneinander.
In der Sprache Hegels ausgedrückt: der Unterschied der Dinge, insofern
sie einen Conatus haben, bezieht sich auf sich, d.h. der Unterschied ist mit
sich selbst identisch, und so gibt es in den Dingen, insofern sie in ihrem Sein
zu beharren streben, eine Einheit der Identität und des Unterschiedes. Diese
Einheit nannte Hegel weiter den "Grund", doch will ich hier die Analogien zwischen
Spinozas Conatusbegriff und der Hegelschen Dialektik nicht weiter verfolgen.
Es dürfte als gesichert gelten, daß das Substanz-Modi-Verhältnis
bei Spinoza keiner verstandesmäßigen Logik folgt.
Kehren wir nun zu Deleuze zurück. Heinz Kimmerle
hat neuerdings die Frage gestellt, inwiefern es zwischen Dialektik und "Denken
der Differenz" Berührungspunkte gibt und von welcher Art diese sein könnten. 144
Obgleich Kimmerle meistens Derrida, Heidegger und Foucault im Auge hat, treffen
seine allgemeinen Beobachtungen auch auf Deleuze zu. Er bemerkt zuerst, daß
der Unterschied als das wesentliche Moment der Nicht-Identität zu betrachten
ist, die Verschiedenheit wiederum als das mehr zufällige Moment. Der Begriff
der Differenz aber deckt beide Fälle ab und "weist auf die bewegliche semantische
Einheit von Unterschied und Verschiedenheit".
Während man nun die Dialektik als Identität von Identität und
Differenz bestimmen kann, die zur Lehre von der Einheit der Gegensätze führt,
ist der Standpunkt der "Differenzphilosophie" der umgekehrte: es handelt sich da-
144 Kimmerle 1987, S. 110 ff.
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137
bei um die Differenz von Differenz und Identität. 145
Das Resultat der dialektischen Entwicklung ist — mindestens bei Hegel -, daß
alle Differenzen allmählich unter eine höhere Identität subsumiert
werden, so daß endlich Substanz und Subjekt, die anfangs feindlich gegenüberstehen,
in der absoluten Idee versöhnt werden.
Nicht so in der Differenzphilosophie. Sie ist nicht an der rationalen Bewältigung
der Unterschiede interessiert. Im Gegenteil. Deleuze spricht an einer Stelle
vom "Spiel von Differenz und Wiederholung", bei dessen Beschreibung der argentinische
Schriftsteller Jorge Luis Borges weiter gegangen sei als niemand sonst: "Wenn
die Lotterie eine Verstärkung des Zufalls, eine periodische Ergiessung des
Chaos in den Kosmos ist, müßte dann nicht der Zufall gerechterweise
in alle Etappen der Ziehung Einlaß finden, nicht nur in eine einzige? Ist
es nicht lächerlich, daß der Zufall irgendwessen Tod verfügt,
daß aber die Umstände dieses Todes — Ausschluß oder Anwesenheit
der Öffentlichkeit, Vollstreckung binnen einer Stunde oder eines Jahrhunderts
- nicht dem Zufall unterworfen sind? [...] In Wirklichkeit ist die Zahl der
Ziehungen unendlich. Kein Entscheid ist endgültig, alle verzweigen
sich in andere..." 146
Kimmerle bedauert, wohl mit Recht, daß die Differenz-Philosophen in die
Sphäre der sprachlichen Formen übergehen, statt eine logische Analyse
ihrer Grundkonzepte zu leisten. Das Spiel der Bedeutungen erweist sich als die
zentrale Idee des Differenz-Denkens. Deleuze unterscheidet das menschliche Spiel,
das der kategorischen Regel folgt, vom göttlichen Spiel, von dem Nietzsche,
Mallarmé und "vielleicht Heraklit" sprachen. Im göttlichen Spiel gebe
es keine vorgängige Regel, "so daß mit jedem Mal der gesamte Zufall
in einem notwendig siegreichen Spielzug bejaht wird". Und da dieser "Zufall insgesamt"
alle möglichen Konsequenzen "einschließt und verästelt", kann
man nicht mehr sagen, daß die verschiedenen Spielzüge numerisch verschieden
seien. Die Spielzüge "unterscheiden sich jedesmal nicht numerisch, sondern
formal". 147
Wir sind also wieder bei der Deleuzianischen Spinoza-Interpretation
gelandet: wie dort die Attribute nicht numerisch, sondern lediglich formal unterschieden
waren, so gibt es in der Differenz-Philosophie im allgemeinen ein Spiel der Differenzen,
das nicht numerisch, sondern nur formal unterschieden ist Deleuze interpretiert
den Spinozismus als einen Sonderfall
145 Ebd. S. 111.
146 Defeuze 1968b, S. 153 f.
147 Ebd. S. 351 f.
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138
dieser Differenz-Philosophie um: aus ihm wird eine grundsätzlich
semantische Theorie, wobei der Substanz die Rolle des semantischen Feldes zugeteilt wird.
Das Problem ist allerdings, daß die im semantischen Felde sich realisierenden
Differenzen noch dieses Feld selbst als die allgemeine Folie voraussetzen müssen,
die den Hintergrund für die Entfaltung der Differenzen bildet Es ist offensichtlich,
daß hier nur ein altes Thema der neuzeitlichen Subjektphilosophie reaktiviert
wird: um es in Kants Terminologie auszudrücken, ist die besagte Folie lediglich
ein neuer Ausdruck für das Bewußtsein, das das Mannigfaltige verknüpft.
Von da aus wird auch verständlich, warum Deleuze auf die Univozität
sowohl im Spinozismus als auch in seiner eigenen Differenz-Philosophie insistiert.
Das univoke Sein ist, wie wir schon oben sahen, ein Korrelat des Bewußtseins.
Die Univozität soll das Bewußtsein der klassischen neuzeitlichen Subjektphilosophie
ersetzen. Der Unterschied zu den früheren Bewußtseinstheorien besteht
darin, daß noch z.B. für Kant die Subjektivität ein aktives Agens
war, dessen "Spontaneität" die Verknüpfung gewährleistete; demgegenüber
liegt in der Differenz-Philosophie lediglich ein passives semantisches Feld vor,
ein phänomenologisch zur Univozität reduziertes Bewußtseins-Substrat,
auf dessen Oberfläche sich die Differenzen abspielen.
14. Der Status der Negativität
Deleuze sagt von der Negation, sie sei nur eine Kehrseite
der Differenz. 148 Hier verteidigt er anscheinend den spinozistischen
Standpunkt gegen Hegel. Indem Hegel die Negativität als ein Moment des Geistes
begriff, wurde sie zugleich substantialisiert. Das Negative erhielt eine Selbständigkeit,
die Hegel vor allem in seiner Realphilosophie dazu trieb, solche Konstrukte wie
"List der Vernunft" zu entwerfen. In letzter Konsequenz würde eine derartige,
dem Negativen neben dem Positiven zugeteilte gleichberechtigte Rolle zu einer
manichäischen Weltansicht führen.
Spinoza ist hier anderer Meinung als Hegel. Er aktiviert
die in der Antike und im Mittelalter häufig vertretene Position, nach der
das Negative nicht
148 Ebd. S. 297: "Wann taucht das Negative
auf? Die Negation ist das umgekehrte Bild der Differenz, d.h. das von unten gesehene
Bild der Intensität".
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139
als solches existiert, 149 oder daß es nur
ein "ens rationis", ein Vernunftding, ist — worauf Spinozas beiläufige Bemerkung
im Tractatus de intellectus emendatione hinwies: "Bei der Armut der Sprache
kann der Gedanke vielleicht verneinend ausgedrückt werden müssen, obgleich
er bejahend ist" (G n, 32). Auf dieser Ebene schließen sich Spinozas und
Hegels Negationsbegriffe einander aus — trotz Hegels Begeisterung für das
Dictum "Omnis determinatio negatio" (dessen Bedeutung für den Spinozismus
oft übertrieben worden ist).
Aber der Status des Negativen als "ens rationis" bedeutet keineswegs, daß
man mit ihm nicht arbeiten könnte. Die Vernunftdinge entstehen ja nicht
arbiträr aus dem freien Willen, sondern mit Hilfe der Vernunft, und insofern
kann man sie ohne Gefahr als technische Hilfsmittel des Erkennens anwenden. 150
Im Tractatus weist Spinoza an zwei Stellen auf den Begriff
149 Vgl. das Gespräch zwischen Alkuin und Pippin:
ALKUIN: Was ist es, das zugleich existiert und nicht existiert?
PIPPIN: Das Nichts.
ALKUIN: Wieso?
PIPPIN: Es existiert dem Namen nach, aber nicht in der Wirklichkeit.
(Zitat nach Dshohadse & Stjashkin 1981, S. 34).
150 Die Begriffe "ens rationis" und "auxilia
imaginationis" hat Gueroult (1968:I, S. 413 ff.) in seiner sorgfältigen
und zuverlässigen Manier herausgearbeitet. "A la différence des fictions",
schreibt er, "qui sont formées 'par la volonté non guidée par
la raison', les êtres de raison ne peuvent être produits par la volonté
seule et demandent l'aide de la raison. En effet, pour classer les choses perçues
sous les rubriques de genre et d'espèce, pour les comparer entre elles,
pour figurer les négations par quelque image, il faut que la volonté
ait recours à certaines règles rationnelles d'uniformité et de
cohérence". Zu den "entia rationis" zählt Gueroult solche Begriffe
wie "Gattung" und "Art", "Zeit", "Zahl", "Mass", "Gutes/ Böses", "Vollständiges/
Unvollständiges" usf.
Und weiter: Alle diese "entia", diese "Vernunftdinge" "ne sont
en réalité que des artifices subjectifs n'ayant autre fonction que
celle d'auxiliaires de l'imagination (auxilia imaginationis), instruments
que fabrique l'esprit de l'homme pour pouvoir s'orienter commodément dans
l'univers des perceptions imaginatives. C'est pourquoi, bien que ces notions
soient sans vérité et ne nous fassent rien connaître, elles sont
utiles pour la vie courante [...] Elles sont sans danger si nous savons qu'elles
ne sont que des artifices techniques".
Ein paar Seiten später (S. 418) hebt Gueroult hervor,
daß die Vernunftdinge "radicalement étrangers aux idées vraies
ou adéquates" bleiben. Sie gehören exklusiv der Imagination, nicht
der Vernunft an. Man kann Gueroult insofern zustimmen, daß die "entia rationis"
tatsächlich Mischdinge sind, doch bereitet eine so schroffe Gegenüberstellung
von ratio und entia rationis Schwierigkeiten. Die Vernunftdinge
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140
der "Hilfsmittel" (auxilium) für unser Verstehen (G II,
15, 37) hin. Solche Hilfsmittel sind vor allem die Regel der Methode, die man
befolgt, damit "der Geist sich nicht durch Unnützes erschöpfe". Obgleich
sie uns zu adäquaterer Erkenntnis der Dinge verhelfen, sind sie selbst nicht
etwas außerhalb des Bewußtseins Existierendes. Nun, wie ein methodisches
Hilfsmittel benützt man auch negative Ausdrücke: "Man hat Dingen, die
nur dem Verstande und nicht der Einbildung angehören, oft verneinende Namen
gegeben (nomina imposuerunt saepe negativa), wie 'unkörperlich', 'unendlich'
usf.; und andererseits hat man vieles, was in der Tat affirmativ ist, nur negativ
ausgedrückt, wie 'nicht geschaffen', 'unabhängig', 'unendlich', 'unsterblich'
usw., weil man sich diese Sachverhalte nämlich durch ihre Gegensätze
leichter vorstellen kann" (G II, 33).
Bedeutet das nun, daß das Negative doch ein "Bild der Differenz" ist,
wie Deleuze behauptet? Es ist ein Umweg des Beschreibens, also eine — ideelle,
nicht reelle — "Kehrseite" sonst positiver Entität, wenn man so will. Aber
doch nicht die Kehrseite einer Deleuzianischen Differenz. Denn diese ist ja nichts
anderes als ein selbständig gewordener Sinn. Sie sollte Singularitäten
konstituieren, die einander den Rücken zugewendet haben; jede soll nur sich
selbst bejahen. Aber das geschieht lediglich dadurch, daß ihr gedanklich
die Eigenschaft, "non opposita sed diversa" zu sein, prädiziert wird. Will
man sich der scholastischen Terminologie bedienen, kann man sagen, die deleuzianischen
Singularitäten sind nicht "formaliter", sondern nur "objective" da. Würde
man das im Sinne von Leibniz begreifen, als ein
weisen nämlich darauf hin, was
mehreren sinnlichen Individuen gemeinsam ist (wie eben der Begriff "Gattung").
Nun bestehen aber auch die "Fundamente der Vernunft" nach Spinoza aus Begriffen,
die "illa explicant, quae omnibus communia sunt" (Eth. V.29 dem.).
Mir scheint, daß hier vielmehr der Gebrauch bestimmt,
ob imaginatio oder ratio bei einem ens rationis überwiegt. Meint man z.B.,
eine Gattung sei ein selbständiges Ding, das regt und schafft, so ist das
eine inadäquate Vorstellung (wie in Hegels Beispiel von den Vorstellungen
des Kranken, der nach der Frucht begehrt); ist man aber sich dessen bewußt,
daß die angewendeten Gattungsbestimmungen vor allem theoretische Konstrukte
sind, so ist ein solches Erkennen notwendigerweise vernunftmäßig und
adäquat. Mit anderen Worten, die Funktionen der entia rationis, die nach
Gueroult ja als "certaines règles rationnels" (S. 415) zu definieren
sind, ähneln denen, welche Kant später Funktionen des Verstands nannte
- nämlich "das Vermögen der Regeln" (KdrV B 171, 197), die "das
Mannigfaltige der Erscheinungen durch Begriffe" verknüpfen (Kdrv
B 692). Zur Zeit Spinozas unterschied man zwischen Verstand und Vernunft noch
nicht deutlich, was die Ambiguitäten hinsichtlich der entia rationis mindestens
teilweise erklärt.
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141
Universum von Monaden, deren Nexus auch in letzter Instanz
ideell begründet ist, wäre dieses Konzept trotz seiner Aporien noch
philosophisch spannend. Aber die Singularitäten Deleuzes haben keine "Reflexion-in-sich",
wie die Leibnizsche Monade nach Hegel 151; nur das flache,
univoke Sein hält sich im kaleidoskophaften Spiel der Differenzen
durch.
Begreift man den ontologischen Status des Negativen als ein "auxilium" der
Erkenntnistätigkeit, so hat ein Spinozist nichts dagegen einzuwenden. Dann
kann die Negativität zu keiner selbständigen Macht werden, die regt
und schafft, wie bei Hegel. Allerdings dürfte man sagen, daß das Bedürfnis
nach solchen Hilfsmitteln wegen der Endlichkeit des menschlichen Verstandes enstanden
ist. Gott würde wohl nicht solche Hilfsmittel brauchen, d.h. Sachen modo
negativo definieren müssen.
Gottähnlich wäre somit der, der immer nur "Ja!" sagen könnte,
dem es nicht, wie uns gewöhnlichen, gebrechlichen Menschen, nötig wäre,
sich mit negativen Umschreibungen zu behelfen. Im Nietzsche-Buch von 1962 redet
Deleuze zuerst der dionysischen Bejahung, die "von keiner Verneinung beschmutzt
werden kann", 152 das Wort Zwar stellt sich sofort heraus, daß
man auch das "Jasagen des Esels" vermeiden muß, ein Jasagen, das als ein
Aufsichnehmen begriffen worden ist, "Bejahung dessen, was ist, als Wahrhaftigkeit
des Wahren oder Positivität des Wirklichen". 153 Mit dem Ja und
Nein steht es komplizierter, als man anfangs glaubte, und immer feinere Bestimmungen
erweisen sich als nötig.
Deleuze fährt fort: "Werden Bejahung und Verneinung
einmal als Qualitäten des Willens zur Macht betrachtet, dann wird ersichtlich,
daß ihr Verhältnis kein eindeutig-reziprokes ist. Die Verneinung steht
im Gegensatz zur Bejahung, wohingegen die Bejahung von der Verneinung abweicht,
differiert. Wir dürfen nicht die Bejahung als eine solche
denken, die ihrerseits zur Verneinung 'in Gegensatz steht'. Das hiesse, das Negative
in sie einzuführen". 154
Anders als Hegel, der die Differenz durch den Gegensatz,
durch das Setzen des Entgegengesetzten bestimmte (so daß eine Entität,
sagen wir A, seine Identität erst dank dem Vorhandensein von Nicht-A erhielt),
will Deleuze das Verhältnis der Singularitäten so sehen, daß eine
jede sich selbst affirmiert und von den anderen nur differiert, ohne in Gegensatz zu ihnen
151 Hegel 1969:6, S. 198 ff.
152 Deleuze 1985, S. 193.
153 Ebd. S. 196, 199.
154 Ebd. S. 203.
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142
zu stehen. Also ein schlicht neutrales Nebeneinander, ohne
dialektische Kunstgriffe. In der Nietzsche-Monographie von 1962 wird diese Differenz-Konzeption
anhand des Verhältnisses von Herren und Sklaven expliziert. Der Sklave interpretiere
ressentimentvoll (und dialektisch!) seine Differenz zum Herrn als einen Gegensatz,
während es vom Standpunkt des Herren gesehen keine Gegensätze gibt,
nur — im Vergleich zum Sklaven — einen Unterschied in seiner Lage.
Das wäre die Bilanz der ganzen Theorie. Doch läßt das ersehnte
philosophische Happy end auf sich warten. In seiner Studie Le Même et
l'Autre (1979) wies Vincent Descombes in Anknüpfung an Deleuzes Lektüre
des Herrn-Sklaven-Verhältnisses auf das Aporetische in der Entwicklung hin.
Nehmen wir mit Deleuze an, daß die Nicht-Identität von Gegensatz
und Differenz vom Standpunkt des Jasagens (der Affirmation) des Herren her gesehen
kein Gegensatz, sondern eben Differenz ist. Vom Standpunkt des Neinsagens (der
Negation) des Sklaven wiederum ist dieselbe Nicht-Identität ein Gegensatz.
Nun kann man die Nicht-Identität dieser zwei Standpunkte entweder als eine
Differenz oder einen Gegensatz deuten. Aber wenn dem so ist, und sich die Wahl
des Standpunktes als beliebig erweist, ist es dem Jasager nicht mehr möglich,
zwischen seiner eigenen Perspektive und der des Neinsagens irgendeinen Gegensatz
zu erblicken, sondern nur eine Differenz. Mit anderen Worten, für den dionysischen
Jasager gäbe es in letzter Instanz keine Differenz zwischen Differenz und
Gegensatz, und für den Neinsager seinerseits wäre es unmöglich,
zwischen seinem eigenen Standpunkt (den Standpunkt des Gegensatzes) und dem des
Jasagers (den Standpunkt der Differenz) eine Differenz zu erblicken. Die beiden
würden also die Nicht-Identität von Differenz und Gegensatz als eine
Identität empfinden. 155
Fazit dieses Schlagaustauschs vom Jahre 1962 war
also, daß die Dialektik von Identität und Unterschied, der Hegel das
zweite Kapitel seiner Wesenslogik gewidmet hat, Deleuze trotz seinen Bemühungen
aus dem Felde geschlagen hatte. Deleuze unternimmt deshalb ein wenig später
einen zweiten kritischen Anlauf in seiner Auseinandersetzung mit Hegel. Er erklärt
1968 in Differenz und Wiederholung, daß uns die "traditionellen
Theorien eine zweifelhafte Alternative aufzwingen": Entweder gibt es kein Nicht-Sein
und alles ist positiv (dies ist ungefähr, was Parmenides be-
155 Ich zitiere hier nach der englischen Übersetzung:
Descombes 1980, S. 163 ff.
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143
hauptete). Oder "es gibt Nicht-Sein, das das Negative ins
Sein bringt und die Negation begründet". 156
Deleuze eröffnet seine Attacke mit einem Appellieren an die Instanz der
"Frage". Ganz wie Platon im Sophistes solle man die Dinge wie Fragen oder
Rätsel betrachten. Und er macht einen Vorschlag: "Vielleicht können
wir jedoch mit guten Gründen beides zugleich behaupten: daß
es Nicht-Sein gibt und daß das Negative scheinhaft ist". Das Nicht-Sein
drückt etwas anderes als das Negative aus; es ist "vielmehr das Sein des
Problematischen, das Sein des Problems und der Frage", oder noch besser ein "?-Sein". 157
Nun hängen die Frage und der Sinn aufs innigste zusammen. Der Sinn ist
immer eine Antwort auf eine Frage, wie Michail Bachtin einmal bemerkte. 158
Im Deleuzianischen "?-Sein", das die Antinomie: "Entweder lauter Positivität
oder dann das Existieren des Nichts" angeblich "aufheben" soll (ganz im Hegelschen
Sinn!), stecken demnach noch nicht explizit entfaltete Sinngehalte. Anders ausgedrückt:
der in der Frage enthaltene potentielle Sinn, der Sinn des Noch-Nicht, wäre
also das tertium quod datur, das die aporetische Alternative zwischen einem parmenideischen,
durchgängig positiven Sein und dem Sein des Negativen auflöse. Aber
ein tertium quod datur aufzuzeigen ist eben dieselbe Prozedur, wie die berüchtigte
Negation der Negation Hegels — ein Aufheben zweier Extreme des Gegensatzes in
einem höheren Dritten. Und dies geschieht sogar gut hegelisch-idealistisch,
denn das Sein des "?-Seins" ist nichts anderes als Sein des Sinns: die Semantik
wird ontologisiert. Wohin immer man sich also wenden mag, es scheint, daß
Deleuze den Spuk der Hegelschen Denkfiguren nicht los wird. So endet auch der
zweite Schlagaustausch mit Hegel mit einer Punkteniederlage für Deleuze.
Von einem "Ende des Anti-Hegelianismus Deleuzes"
spricht auch sein Bewunderer Michael Hardt. Ein Bruch mit Hegel scheint beinahe
unmöglich, da "jeder Versuch, ein 'Anderer' hinsichtlich des Hegelianismus
zu sein, tatsächlich zum 'Anderen' innerhalb des Hegelianismus umgewandelt
werden kann". Deleuze folgt hier nach Hardt zwei Strategien. Die erste ist, statt
des dialektischen Gegensatzes, der nur partielle Negationen enthält und
immer etwas Konstruktives vom Gegenstand der Verneinung übrigläßt, auf
156 Deleuze 1968b, S. 92.
157 Ebd. S. 92 f.
158 Bachtin 1979, S. 350: "Sinne
nenne ich Antworten auf Fragen. Das, was auf keine Frage antwortet, ist für
uns ohne Sinn". Der Sinn hat nach Bachtin überhaupt immer einen "Antwortcharakter"
("otvetnyj charakter smysla", ebd. S. 350).
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144
einen nicht-dialektischen Gegensatz zu insistieren, der
"mit dem vollständigen Bruch operiert". 159 Dies ist eben der
Standpunkt Deleuzes, dem wir oben schon begegnet waren: eine ins Absolute gesteigerte
Realdistinktion führt zur "complete rupture" und begründet die Differenz
an sich, ohne Bezug zum Anderen. Wir sahen aber auch, daß diese Position
letzten Endes wenig ergiebig ist und nicht das leistet, was sie verspricht, nämlich
eine Überwindung der Dialektik.
Wohl gerade deshalb ergreift Deleuze ganz einfach
die zweite von Hardt genannte Strategie: "die Dialektik zu vergessen". Hardt
meint damit die Tatsache, daß Deleuze in seinen späteren Arbeiten immer
weniger von Hegel spricht. 160 Wenn die Dialektik schon nicht überwunden
wird, kann man sie wenigstens ignorieren.
15. Zwischenbilanz: Deleuzes Spinoza-Bild
Doch dürfte ein anderer Umstand einen zusätzlichen
Erklärungsgrund für diese Ignoramus-Attitüde liefern. Die Frage,
das "?-Sein", führt uns auf eine Domäne, die überhaupt nur wenig
gemein hat mit der traditionellen, Hegelschen, aber auch Spinozistischen Philosophie.
Wir stiessen hier erneut auf die Tatsache, daß die Differenz-Philosophie
Deleuzes — ähnlich wie der Neostrukturalismus generell, die angelsächsische
analytische Philosophie oder die Hermeneutik — "wesentlich Sprachphilosophie
ist", wie Manfred Frank feststellt. 161 Es ist nicht möglich und
auch nicht nötig, hier Deleuzes Ausführungen in diese Richtung weiter
zu verfolgen, es würde uns überdies vom eigentlichen Thema, von der
Bewertung seiner Spinoza-Lektüre, zu weit abbringen. Es hat sich schon herausgestellt,
daß ein Grundzug von "Gleitbewegungen" deleuzianischer Interpretation darin
besteht, die noch traditionell-metaphysischen Kategorien Spinozas vom Standpunkt
der neueren Semantik und Sinntheorie her umzudeuten.
Sofern von einem so chamäleonartigen Gebilde, wie der Deleuzianismus
es ist, überhaupt etwas Abschließendes gesagt werden kann, wäre
die Bilanz vor allem, daß Deleuzes Kritik an der Dialektik nicht überzeugend
erscheint, obgleich sie viele schwache Stellen des Hegelschen Konzepts trifft.
Die Problematik des Verhältnisses der Identität und des Unterschieds (der
159 Hardt a.a.O., S. 52.
160 Ebd. S. 53.
161 Frank a.a.O., S. 488.
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145
Differenz) bewältigt er nicht besser und — was wesentlich
ist — nicht anders als die von ihm beschimpften Dialektiker, und dasselbe trifft
auf die Denkfigur der Negation der Negation zu, wo ein Drittes die Extreme aufhebt.
Vor dieser Folie betrachtet ist sein Versuch, Spinoza zu einem Vorläufer
der Anti-Dialektik zu stilisieren, nicht stichhaltig. Spinoza weicht von der
Dialektik Hegels ab, aber nicht in Richtung bergsonianisch-nietzscheanischer
Differenzphilosophie, sondern darin, daß für ihn das Negative lediglich
eine Art auxilium intellectus war, keineswegs aber ein Subjekt der Weltkonstitution,
wie bei Hegel.
Nach Deleuze ist der Spinozismus eine "Philosophie
der Expression". Die Plausibilität dieser Behauptung hängt davon ab,
was man mit "Expression" meint. Tatsächlich ist die Expressivität der
Substanz laut Deleuze seiner Univozität untergeordnet, 162 und
bei der letzteren handelt es sich wiederum um ein Prädikat, das jedem beliebigen
Ding beigelegt werden kann. Solche Prädikate aber müssen den Dingen
gegenüber äußerlich bleiben, und so zeigt es sich als das Wesentliche
an der Deleuzianischen Differenz-Philosophie, daß die Welt aus Singularitäten
besteht, die sich bejahen, jede für sich. Ganz folgerichtig schreibt Deleuze
denn auch, sich von Spinoza absagend: "Dies ist es, was die Philosophie der Differenz
zurückweist omnis determinatio negatio..." 163 Ursprünglich
sei nur die Bejahung, die "affirmation joyeuse".
Doch entsteht für Deleuze hier gleichzeitig
mit dem Verwerfen der Einheit oder des Allgemeinen ein altes Problem, mit dem
alle "Singularitäts-Philosophien" ringen mußten. Schon Leibniz, der
die Priorität des monadischen Prinzips der Differenzialität Deleuzes
nicht ganz unähnlich konzipierte, gerät in Schwierigkeiten, wenn er
die Verbindung der Monaden untereinander begründen mußte. Dafür
postulierte Leibniz seine bekannte Harmonia praestabilita, die das "spinozistische"
Substanzprinzip gleichsam bei der Hintertür wieder in seine Philosophie
hineinliess.
Auch Deleuze muß eine ähnliche Operation vornehmen, ist doch schon
der Begriff einer Welt von lauter Singularitäten in sich widersprüchlich.
Damit diese, um eine Welt zu bilden, überhaupt miteinander kommunizieren
können, bedarf es eines Mediums. Das Medium, in dem die durch und durch
positiven Einzeldinge sich bewegen, ist, wie wir schon gesehen haben, für
Deleuze das als univok konzipierte Sein. "Die Wiederholung aber", schreibt er,
"ist die einzige verwirklichte Ontologie, das heißt: die Univo-
162 Siehe Fussnote 123.
163 Deleuze 1968b, S. 79.
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146
zität des Seins". 164 Die damit gewonnene
einheitliche Folie für die Gesamtheit der Singularitäten muß Deleuze
allerdings mit einem teuren Preis erkaufen: der Begriff der Univozität impliziert,
daß die Dinge lediglich als phänomenologisch konstituierte Sinngebilde
betrachtet werden. 165 Das führt dazu, daß die Spinoza zugeschriebene
"Philosophie der Expressivität" grundsätzlich semantisch und sinntheoretisch ist.
Indem Deleuze die Philosophie Spinozas durch diesen
Raster sieht, erhält sie durch eine Reihe sukzessiver "Gleitbewegungen"
eine Gestalt, die in mancher Hinsicht nicht nur dem herkömmlichen Bild,
sondern auch den eigenen Äußerungen Spinozas ganz gegensätzlich
ist. Hatte Spinoza selbst immer die primäre Stellung Gottes in seiner Philosophie
eingeschärft, wird aus dem Spinozismus in den Händen Deleuzes nun vielmehr
eine Lehre von den expressiven Singularitäten, die, statt von der unendlich
seinsmächtigen Substanz produziert zu sein, letzten Endes nur mit einer
faden Seins-Univozität zusammengekleistert sind. Aus Spinoza, dem Kritiker
der cartesianischen Realdistinktion, ist ein Denker in Realdistinktionen par
excellence geworden.
Deleuzes vielleicht größtes interpretatorisches
Verzerrungs-Manoeuvre ist, daß er es für notwendig hält, zu beweisen,
daß Spinoza ein Exponent solcher Differenzphilosophie ist, die den Begriff
der Opposition, des Gegensatzes und somit auch des Andersseins überflüssig
mache. Daß dem nicht so ist, erhellt schon aus Definition 5 des ersten Buches
der Ethik, wo der Modus expressis verbis als ein Anderssein definiert
wird. Deleuze zitiert diese Definition zwar einmal, aber nur einmal in Spinoza
- Philosophie pratique und zieht davon keine Schlüsse hinsichtlich der
Logik der Differenzen. 166
Deleuze konnte auch gar nichts anderes tun, hätte
er sich nämlich dem spinozistischen Begriff des "esse in alio" widersetzt,
hätte er eingestehen müssen, daß dieser sich in seiner logischen
Bewegung nicht von dem unter-
164 Ebd. S. 376.
165 Eben aus diesem Grunde muß man die Behauptung
von Christopher Norris, daß uns Deleuze "a materialist or thoroughly demystified
reading of Spinoza's text" liefere, entschieden zurückweisen (siehe Norris
1991, S. 65).
166 Deleuze 1981, S. 118 (dt. Übersetzung,
S. 114 f.). Er begnügt sich lediglich mit dem Zitieren dieser Definition,
kommentiert aber mit keinem Wort, was ein Sein im Anderen bedeuten konnte. In
der Spinoza-Monographie von 1968 ist von dieser Definition überhaupt nicht
die Rede; nur an einer Stelle (ebd. S. 65) nennt er sie ganz beiläufig,
indem er sagt, daß die Definitionen 1-5 des ersten Buches nur "einfache
Nominaldefinitionen" seien.
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147
scheidet, was Hegel "Andersheit" oder "Bestimmtheit" nannte.
An der Idee festzuhalten, die in diesen Begriffen steckt, ist übrigens nicht
spezifisch hegelianisch, vielmehr handelt es sich um klassisches philosophisches
Allgemeingut, das schon in der Unterscheidung des "Einen" und des "Anderen" in
Platons Parmenides enthalten ist
Was übrigens das logische Projekt Deleuzes betrifft, nämlich ein
Denken in sich bejahender Differenzen ohne Gegensätze zu entwerfen, so scheint
es, daß die "affirmation joyeuse" solcher Differenzen nur als Spiel möglich
ist. Demnach liefert es uns eine "Logik der Délire", wie sie uns in den
späteren Arbeiten Deleuzes begegnet und nicht ganz uninteressant ist. Aber
das ist eine andere Geschichte, auf die wir hier nicht mehr eingehen brauchen.
III.
16. Spinoza ein ethischer Naturalist?
Folgenschwer wird die Deleuzianische Spinoza-Interpretation
vor allem auf dem Gebiet der Moralphilosophie. Dank der "Expressivität"
könne Spinoza, nach Deleuze, eine Moral, die "die Existenz immer mit transzendenten
Werten verknüpft", durch eine naturalistische Ethik ersetzen. 167
Damit entwerte Spinoza alle Werte und erweise sich als ein "Immoralist", Nietzscheähnlich. 168
Der Weg zur menschlichen Vervollkommnung gehe durch die expressive Selbstaffirmation
und "Intensivierung" des Subjekts, ohne auf die "transzendenten" Werte der Moral
Bezug zu nehmen.
Die Ethik Spinozas ist also "notwendig eine
Ethik der Lust" 169 — im Einklang mit dem allgemeinen Charakter des
Spinozismus überhaupt, eine Philosophie der Affirmation zu sein. Diese ethische
Lust bei Spinoza ist nämlich nach Deleuze "das Korrelat der spekulativen
Affirmation". 170 "Die Eliminierung des Negativen läuft
praktisch über die radikale Kritik aller auf Unlust basierenden Leidenschaften". 171
Auf den ersten Blick scheint dies eine ganz korrekte Interpretation zu sein.
Bedenken erheben sich allerdings, wenn Deleuze uns lehrt, daß Spi-
167 Deleuze 1981, S. 35; dt. Ü., a.a.O., S. 34.
168 Ebd. S. 33; dt. Ü. S. 32.
169 Ebd. S. 42; dt. Ü. S. 40.
170 Ebd. S. 43; dt. Ü. S. 41, hierverbessert.
171 Ebd. S. 126; dt. Ü. S. 121.
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148
noza eine "vision éthique" eigentümlich ist, wo
es immer nur um "Macht und Vermögen, nichts anderes" geht. "Es gibt also
Schwache und Starke, Knechte und freie Menschen". 172
Deleuze knüpft hier an die Herren-Sklaven-Analyse seines Nietzsche-Buches
an, wo behauptet wurde, daß die Ausgrenzung des Herren vom Sklaven auf einer
Differenz ohne Gegensatz gründe. Im Spinoza-Buch vom Jahre 1968 entwickelt
er die These weiter: es handle sich zudem um eine "ethische Differenz" statt
einer moralischen Entgegensetzung 173 (die dialektisch-hegelianisch
ist und somit verdächtigerweise ein Anderes, nämlich Nicht-Moralisches,
Böses impliziert). In mehreren Kontexten läßt Deleuze durchblicken,
daß sich im spinozistischen Weisen schon der Übermensch Nietzsches
ankündige: Nicht vom Guten und Bösen solle man reden, sondern davon,
was jenseits dieser Begriffe sich findet. 174
Um aus Spinoza auch im Ethischen einen Vor-Nietzsche
zu machen, sind wieder Gleitbewegungen vonnöten. Die erste wird bereits
gemacht, indem man bei Spinoza einen vermeintlichen Gegensatz von Moral und Ethik
setzt. Deleuze erwägt nicht die Möglichkeit einer nicht-transzendenten
Moral, sondern insistiert darauf, daß die moralischen Werte des Guten und
des Bösen lediglich "Vernunft- oder Vorstellungsgebilde seien, die ganz
und gar von sozialen Symptomen, vom repressiven System der Belohnungen und Strafen
abhängen". 175 Die moralischen Werte seien "rein bürgerlich,
sozial" 176, während die ethischen Grundpostulate des Spinozismus
auf der Natur basieren und somit "vérités éternelles" seien.
Dies ist eine folgenschwere Supposition. Damit gibt Deleuze sich nämlich
dem Naturalismus preis. Die "lustvolle Affirmation" des Subjekts scheint sich
gänzlich außerhalb der Gesellschaft zu vollziehen. Zwischen den Vorschriften
der (gesellschaftlich bedingten) Moral und der ewig-natürlichen Ethik klafft
eine Kluft. 177 Deleuze erörtert zwar in den Kapiteln
172 Deleuze 1968a, S. 247, 249; dt. Ü. S. 237, 239.
173 Ebd. S. 249; dt. Ü. S. 239.
174 Ebd. S. 233; dt. Ü. S. 224.
175 Deleuze 1981, S. 77 (dt. Ü. S. 104 f.).
176 Deleuze 1968a, S. 247 ff: "En vérité,
les lois morales ou les devoirs sont purement civils, sociaux: seule la société
ordonne et défend, menace et fait espérer"; dt. Ü. S. 237.
177 Ebd. S. 248; dt. Ü. S. 238: es
geschehe "immer aus ganz anderen Gründen als denen der Moral, wenn die Vernunft
(d.h. die naturalistische Ethik — V.O.) etwas empfiehlt oder anprangert". Als
Beispiel führt Deleuze Eth. IV.45 und 46 an, wo gesagt
wird, daß Haß niemals gut ist; wer deshalb unter der Leitung der Vernunft lebt,
|
149
16 und 17 seiner Spinoza-Monographie das gesellschaftliche
Leben, aber seine Behandlung des Themas ist doch durch seinen Naturalismus stark
belastet.
Liest man die Vorrede zum vierten Buch der Ethik, begegnet man
dort zuerst Stellen, die Deleuzes Interpretation durchaus zu bestätigen
scheinen. Spinoza sagt, daß Gutes und Schlechtes nichts Positives in den
Dingen an sich bezeichnen, sondern nur "cogitandi modi" seien, die im Bewußtsein
der Menschen infolge des Vergleichs der Dinge entstehen. Der subjektive Standpunkt
der Bewertung macht, daß eine und dieselbe Sache auf vielerlei Weise zugleich
empfunden werden kann. "So ist z.B. eine Musik gut für den Schwermütigen,
schlecht für den Trauernden, aber für den Tauben weder gut noch schlecht".
Aber dann fügt Spinoza etwas hinzu, das Deleuzes Schema sprengt: "Obgleich
sich nun aber die Sache so verhält, müssen wir doch diese Formulierungen
beibehalten. Denn weil ich eine Idee des Menschen bilden will, die wir als Muster
der menschlichen Natur vor Augen haben, wird es uns von Nutzen sein, diese Wörter
im erwähnten Sinne beizubehalten".
Daß Spinoza die Bildung eines "Musterexemplars"
(naturae humanae exemplar) der erstrebenswerten menschlichen Vervollkommnung
für nötig
strebt danach, den erlittenen Haß
immer durch Liebe zu vergelten. Und dann kommentiert er: dies geschehe "allein
aber (uniquement), weil der Haß nicht von der Traurigkeit getrennt
werden kann, die er einschließt" (ebd. Fussn.). Die naturalistische Ethik
appelliere also an keine moralischen Vorschriften, sondern werde lediglich (uniquement!)
vom utilitaristischen Vermeiden der Traurigkeit motiviert. Das Raisonnement Deleuzes
scheint hier nicht das Richtige zu treffen. Denn erstens ist die Erkenntnis des
Bösen nach Spinoza immer eine inadäquate Erkenntnis, d.h. eine Traurigkeit,
die "nicht durch das Wesen des Menschen erkannt werden kann" (IV.64 dem.). Wir
können also, folgen wir der Vernunft, nicht nur von der Idee der
Traurigkeit motiviert sein, denn sie ist inadäquat, ganz wie auch "wer sich
durch die Furcht bestimmen läßt, und Gutes tut, nur um das Schlechte
zu vermeiden, nicht unter der Leitung der Vernunft handelt" (IV.63). Zweitens,
da die Tugend seine eigene Belohnung ist, ist man einfach tugendlich, weil man
sich ihrer erfreut (V.42), nicht aus utilitaristischen Gründen. Drittens
aber — und dies ist der wichtigste Einwand — kann es im System Spinozas keine
unüberbrückbare Kluft zwischen einer Vorschriften-Moral und einer vernunftmäßigen
Ethik geben, weil seine ganze Philosophie dem Grundgedanken folgt, daß es
unmöglich ist, total falsche und inadäquate Ideen zu bilden. Eben deshalb
sieht Spinoza auch in der religiösen Moral ein Körnchen Wahrheit.
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150
hielt, 178 spricht dafür, daß seine
Ethik nicht so naturalistisch war wie viele annehmen. Hatte Deleuze behauptet,
Spinozas Vernunft-Ethik sei keineswegs transzendent, so kommentiert ein anderer
französischer Spinoza-Forscher die eben zitierte Stelle folgendermassen:
"Wie uns scheint, schreibt uns die Vernunft eine
transzendente Norm vor, ein Sein-Sollen, das sich dem Sein entgegensetzt, ein
Ideal, das weit außerhalb unserer empirischen Natur liegt und nach dem wir
wie nach einem Ziel streben sollen [...] Wenn wir auch bestenfalls sehr gut verstehen,
daß es sich dabei nur um eine Verhaltensmassregel ohne ontologischen Belang
handelt, sind wir doch gezwungen, dies in Anspruch zu nehmen so lange wir unsere
individuelle Wesenheit nicht erkennen und nicht völlig verwirklichen: die
Vernunft ist in ihrem praktischen Gebrauch normativ, weil sie in ihrem theoretischen
Gebrauch abstrakt ist". 179
Ich glaube, daß Alexandre Matheron hier insofern das richtige getroffen
hat, daß Spinoza tatsächlich eine nicht empirisch zu begründende
Norm aufstellt. Matherons Ansicht unterscheidet sich vorteilhaft von der Deutung
Deleuzes darin, daß er die nicht-naturalistische Tendenz Spinozas begriffen
hat. Doch macht Matheron sich seinerseits der Fehldeutung schuldig, daß
er das Sein-Sollen voreilig mit Transzendenz identifiziert.
Die Idee eines menschlichen Musterexemplars ist, wie alles andere, in Gott,
aber Gott seinerseits transzendiert uns nicht, sondern ist in uns immanent. Zu
sagen, das "naturae humanae exemplar" sei eine transzendente Norm, ist eine unnötige
Annäherung Spinozas an Kant Wollte man kantianisch sprechen, wäre das
im Muster der menschlichen Natur gegebene regulative Prinzip als ein homo noumenon
zu betrachten, und diesen dürfte man wiederum für ein "transzendentales
Objekt" 180 halten. Der große Unterschied Spinozas zu Kant aber
liegt darin, daß sein noch unfreier, nach der "gewöhnlichen Ordnung
der Natur" lebender Mensch, der — nach der Konsequenz dieser Interpretation -
Kants homo phaenomenon entsprechen würde, keineswegs unüberbrückbar
vom "exemplar" (dem adäquate Ideen
178 Spinoza schließt sich hier einer langen
Tradition an. Die antike Rhetorik bediente sich häufig der Beispielfiguren
(z.B.: "Cato ille virtutum viva imago" — Cicero, De or. I, ї 18),
und im Mittelalter wucherten diese geradezu. Die Divina commedia Dantes systematisiert
solche Beispiele in langen Reihen; die positiven heben mit der Darstellung Trajans
als gerechtem Herrscher (Purg. 10: 73 ff.) an. Für Dante sind die moralischen
Exempla ein "visibile parlare" (Purg. 10:95).
179 Matheron 1988, S. 225.
180 Kant, KdrV B 344.
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151
besitzenden Weisen) getrennt ist. Es gibt zwar nach Spinoza
zwei Ordnungen der Natur — die "gewöhnliche" der modalen Welt, und die göttliche;
doch bilden Conatus (als essentia actualis) und Vernunft (als adäquate Gotteserkenntnis)
Bindeglieder zwischen beiden, so daß sie nicht getrennt sind.
Tatsächlich reproduzierte Kant die alte Cartesische Antinomie von Natur
und Freiheit, wenn er seinen homo noumenon in die Transzendenz verlegte. Bei
Spinoza kommt diese Antinomie nicht vor. Darum ist es auch nicht notwendig, das
Musterbeispiel des Menschen im Sinne von etwas Transzendentem aufzufassen: es
kann auch unter die "auxilia rationis" eingereiht werden. Darauf weist übrigens
auch Matheron selbst hin, wenn er sagt, daß die beste Weise, das Muster
des Menschen aufzufassen, die ist, ihn nur als Verhaltensmassregel ohne ontologischen
Belang zu betrachten.
Gegen Deleuzes Interpretation ist grundsätzlich
einzuwenden, daß das Fehlen einer transzendenten Moral nicht zur Schlußfolgerung
berechtigt, daß Spinoza ein jenseits des Guten und Bösen bückender
Nietzsche-Vorläufer gewesen wäre. Obwohl Gutes und Böses nur bezüglich
der Bewertung menschlicher Praxis Gültigkeit haben, ist Spinoza sich darüber
im klaren, daß die Prämissen der Ethik auf Vorhandenes zurückgreifen
müssen, um den Menschen aus dem Zustand der Passionen heraus zur Freiheit
zu führen, und eben darin bewährt sich die Nicht-Transzendenz der Lehre
Spinozas: "Unter gut werde ich im Folgenden das verstehen, wovon wir gewiß
wissen, daß es ein Mittel ist, uns dem Muster der menschlichen Natur, das
wir uns aufstellen, mehr und mehr zu nähern" (Eth. IV.
Praef.).
Zweitens ist zu bemerken, daß einmal ganz davon
abgesehen, ob dieses Muster "transzendent" ist oder nicht, dennoch feststeht,
daß Spinoza es nicht verwirft — entgegen der Deutung Deleuzes, die ja davon
ausging, daß der Spinozismus die gesellschaftlich bedingte Moral zugunsten
naturalistischer "vérités éternelles" ablehnt Wenn Spinoza vom
Annähern des Musters der menschlichen Natur spricht, handelt es sich ganz
deutlich um eine gesellschaftliche, in einer menschlichen Gemeinschaft
zu realisierende Strategie der Vervollkommnung des Subjekts, für deren Problematik
Spinoza keineswegs blind gewesen ist.
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152
17. Vom Muttermord Neros
Einer deleuzianischen Differenzphilosophie aber muß
die Rede von der "Vervollkommnung des Subjekts" zutiefst verdächtig erscheinen,
teilt sie doch mit dem französischen "Strukturalismus" 181 und
Poststrukturalismus die Ansicht vom Tod bzw. von der Dekonstruktion des Subjekts
überhaupt. Von seinen eigenen Intentionen her verfährt Deleuze nur
folgerichtig, wenn er die spinozistische Ethik naturalistisch umzuinterpretieren
versucht, sie also als eine Lehre hinstellt, in der sich das moralische Subjekt
als unnötig erweisen würde.
Um das zu bewerkstelligen, geht er von dem kurzen "Grundriß der Physik"
aus, der sich im II. Buch der Ethik in Anschluß an Proposition 13
befindet. In diesem einige Seiten langen Exkurs bietet Spinoza einen Umriß
der physikalischen Eigenschaften der Körper und zählt ihre allgemeinsten
mechanischen Bewegungsgesetze auf. Diese gelten ausnahmslos für alle Körper,
die menschlichen Körper mit einbegriffen: als Teil dieser mechanischen Welt
der Modi ist auch der Mensch ganz naturalistisch der "naturae communis ordo"
unterworfen.
Und das sollte er laut Deleuze auch bleiben. Denn alles in der Natur, schreibt
er, ist nur eine mechanische Zusammensetzung von kleineren Teilen. Auch der menschliche
Körper ist aus solchen Teilen zusammengesetzt und der Körper wird seine
Natur nicht verändern, auch wenn an die Stelle seiner Bestandteile andere
kommen würden, denn was zählt, ist lediglich die Relation der Teile
zueinander (vgl. Lemmata 4,5,6,7 nach Prop. II.13). M.a.W: "tout est composition
dans la Nature", wie Deleuze es ausdrückt. 182 Daraus folgt nach
Deleuze weiter, daß die nicht-transzendente Ethik Spinozas auf dem Begriffspaar
"composition — décomposition" aufbaut Dies ergibt dann die folgende Definition
des Bösen (bzw. des Schlechten): Es ist immer das, was den Zusammenhang
zersetzt, was die Relation der Teile auflöst. 183 So stirbt nach
Spinoza der lebendige Körper, "wenn seine Teile
181 Die Anführungszeichen sollen hier sagen,
daß ich auf "den ideologischen und modischen Strukturalismus" hinweise,
wie z.B. Jörg Albrecht diese "Pariser Erscheinung" versteht, nicht auf die
strukturalistische Sprachwissenschaft, die ernst zu nehmen ist und deren Vertreter
folglich "den 'ideologischen' Strukturalismus mit kühler Reserve aufgenommen
haben" (vgl. Albrecht 1988, S. 176 ff.).
182 Deleuze 1968a, S. 216; dt. Ü. S. 209.
183 Ebd. S. 226: "le mal est toujours une décomposition
de rapport"; dt. Ü. S. 218.
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153
so determiniert werden, daß sie ein anderes Verhältnis
von gegenseitiger Bewegung und Ruhe bekommen" (IV.39 schol.)
Eigentlich gibt es nicht Gutes und Böses im allgemeinen, sondern nur
etwas, das gut oder schlecht vom Standpunkt eines existierenden Modus ist. 184
Genauer gesprochen, das Schlechte ist immer "ein schlechtes Airfeinander treffen"
(mauvaise recontre) 185 — ich stosse auf einen Modus, der mächtiger
ist als ich selbst, und diese Begegnung zerstört mich (vermindert mein Vermögen).
"Diese Auflösungen sind vom Typ der Einwirkung von Gift auf unseren Körper.
Für Spinoza ist das vom Menschen erlittene Böse immer vom Typ der
Unverdaulichkeit oder Vergiftung". 186
Die Analogie der Vergiftung entnimmt Deleuze Spinozas
Brief an Blyenbergh vom 5. Januar 1665 wie dessen Antwort. Spinoza hatte geschrieben,
daß das an Adam ergangene Verbot Gottes, vom Baume zu essen, nur in der
Offenbarung bestand, das Essen von diesem Baume werde den Tod herbeiführen
- "gerade wie Gott uns durch den natürlichen Verstand offenbart, daß
das Gift tödlich ist" (G IV, 93‑94).
Seine Schlußfolgerung, daß das Böse für Spinoza immer
vom Typ der Giftwirkung ist, sucht Deleuze mit einem Hinweis auf Blyenbergh zu
belegen, der Spinoza am 19. Februar 1665 geantwortet hatte: "Sie unterlassen
das, was ich Laster nenne, weil es Ihrer besonderen Natur widerspricht, nicht
weil es Laster enthält; sie unterlassen es, wie man von einer Speise sich
wegwendet, vor der unsere Natur sich scheut". Hier bricht Deleuze das Zitat ab
und läßt den folgenden Satz Blyenberghs weg: "Wer aber das Böse
nur unterläßt, weil seine Natur sich davor scheut, darf sich der Tugend
wahrhaftig nicht rühmen" (G IV, 141). 187 Der Zitatabbruch läßt
den Eindruck entstehen, als ob Blyenbergh Spinoza nur zustimmend resümieren
und die Grundidee einer naturalistischen Ethik formulieren würde. Liest
man aber den weggelassenen Satz mit, so bleibt klar, daß Blyenbergh eher
eine antinaturalistische Position vertritt: natürliche Neigungen an sich
machen noch keine Tugend aus.
Wäre Spinoza nun ein waschechter Naturalist
in der Ethik, wie es ihm Deleuze unterstellt, müßte er wohl genau diesen
Punkt im Briefe Blyenberghs angreifen. Aber in seinem Antwortbrief vom 13. März
begründet
184 Ebd. S. 215 f.: "il n'y a pas de
Bien ni de Mal dans la Nature en général, mais il y a du bon et
du mauvais [...] pour chaque mode existant"; dt. Ü. S. 217.
185 Ebd. S. 226; dt. Ü. S. 218.
186 Ebd. S. 226; dt. Ü. S. 218.
187 Vgl. ebd. S. 226 f.; dt. Ü. S. 218 ff.
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154
Spinoza statt dessen den Unterschied zwischen Tugend und
Laster mit einem Argument, das die Speise- oder Gift-Analogien ganz außer
acht läßt. Er vergleicht einen Dieb und einen Gerechten:
"Fragen Sie aber, ob der Dieb und der Gerechte gleich vollkommen (Hervorhebung
von mir — V.O.) und glücklich sind, so antworte ich: nein. Denn unter einem
Gerechten verstehe ich den, welcher beständig wünscht, daß jeder
das Seinige behalte. In meiner Ethik (die noch nicht herausgegeben ist)
zeige ich, daß dieses Begehren beim Frommen aus der klaren Erkenntnis, die
er von sich und von Gott hat, notwendig hervorgeht. Da nun der Dieb ein solches
Begehren nicht hat, so fehlt ihm die Erkenntnis seiner und Gottes, das heißt,
er entbehrt das, was uns vor allem glücklich macht." (G IV 150-151).
Hier ist also die Vollkommenheit (perfectio) der eigentliche Maßstab
der Tugend und dessen, was gut ist. Wohl bedeutet Zersetzung (décomposition)
einen Übergang zu weniger Vollkommenheit und ist insofern schlecht. Soweit
hat Deleuze natürlich recht. Aber da Spinoza zugleich die Vollkommenheit
mit der "Erkenntnis seiner und Gottes" in Zusammenhang gebracht hat, ist es offensichtlich,
daß die Deutung spinozistischer Ethik ausschließlich im Lichte der
Zersetzungs- und Vergiftungs-Analogien zu ihrer naturalistischen Verflachung
führt. Der Unterschied von Spinoza und Blyenbergh liegt vor allem darin,
daß der ethische Naturalismus schon an sich — verglichen mit der traditionellen
transzendenten Bewährung der Tugend, dem christlichen Gott — Blyenbergh
verdächtig erscheint, während Spinozas Projekt eher auf eine immanente
Aufhebung des Naturalismus zielt.
Aber nehmen wir mit Deleuze an, daß die spinozistische Ethik nicht nur
in ihrem Ausgangspunkt, sondern auch in ihren letzten Resultaten wirklich rein
naturalistisch ist: Worin bestünde dann die böse Absicht?
Die böse Tat drückt an sich keine Wesenheit
aus. Nichts, was an einer solchen Tat Positives ist, enthält etwas, von
dem man sagen kann, daß es böse ist Wenn ich meinen Nächsten prügle,
so besteht die Handlung rein physisch darin, "daß der Mensch seinen Arm
hebt, die Hand schließt und den ganzen Arm mit Kraft rückwärts
bewegt"; dies ist, sagt Spinoza, eine Tugend (virtus), die "sich aus dem Bau
des menschlichen Körpers erklärt" (Eth. IV.59 schol.).
Hätte man z.B. die Absicht, Eisen zu schmieden, so fiele keinem ein, diese
körperlichen Bewegungen zu tadeln, im Gegenteil. Dieselbe Handlung kann
also ebensogut mit adäquaten wie auch mit inadäquaten Vorstellungen
vereinigt werden (vgl. II.22 sqq.), d.h. man kann sowohl durch verworrene bildliche
Vorstellungen (ex ... imaginibus) der |
155
Dinge, wie durch klare und bestimmte zu einer und derselben
Handlung determiniert sein.
Die böse Absicht einer Handlung, schlußfolgert Deleuze, besteht
also allein darin, daß ich "das Bild dieser Handlung mit dem Bild eines
Körpers verbunden habe, dessen Zusammenhang durch diese Handlung zerstört
wird". 188
Dies kann mit dem berühmten Beispiel zweier Muttermorde, dem des Orest
wie dem Neros, illustriert werden. Orest ist nicht schuldig, obgleich er seine
Mutter Klytaimnestra tötete, denn Klytaimnestra hatte zuvor Agamemnon ermordet
und dadurch brachte sie "sich in eine Situation [...], die mit derjenigen Orests
nicht mehr verträglich sein konnte". Orests Tat war eine gerechte Rache
für seinen Vater und kein Verbrechen, weil sie an das Imago Agamemnons "als
ewige Wahrheit, mit der sie sich verband", geknüpft war. 189
Nero dagegen macht sich schuldig durch den Mord an seiner Mutter Agrippina,
"weil er Agrippina nur aus Bösartigkeit (lui fallut de la méchanceté)
festgenommen hat, in einem mit dem seinen absolut unverträglichen Zusammenhang,
und um das Bild Agrippinas mit dem Bild einer Handlung zu verbinden, die sie
zerstören würde". 190 Mit Recht bemerkt Deleuze, daß
Blyenbergh Spinoza missverstanden hat, wenn er geglaubt hatte, daß nach
Spinoza, in dem Masse, als dieses eine Wesenheit ausdrückt, aus dem Bösen
Gutes werde, aus dem Verbrechen eine Tugend; denn in Wirklichkeit drückt
das Verbrechen keinerlei Wesenheit aus. 191
So schön diese Interpretation auf den ersten Blick scheinen mag, ihr
ist schwerlich zuzustimmen. Mindestens zwei Einwände drängen sich auf.
Der erste: Deleuze, der stark auf Spinozas Naturalismus setzt, misst merkwürdigerweise
dem freien Willen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der bösen
Absicht bei. Sagte er doch in der soeben zitierten Stelle: Nero nahm nur aus
Bösartigkeit Agrippina fest usf. Dieses "nur" (lui fallut) besagt nicht,
daß Nero von irgendwelchen äußeren Ursachen determiniert war,
188 Ebd. S. 228; dt. Ü. S. 220, Hervorhebung
im Original. Ähnlich, wenn auch deutlicher, formuliert Deleuze in Spinoza
- Philosophie pratique (ebd. S. 75, dt. Ü. S. 103): "Sogar das
Böse, das ich tue [...] besteht nur darin, daß ich das Vorstellungsbild
(imago) eines Gegenstandes, das dieser Haltung nicht standhalten kann, ohne sein
konstitutives Verhältnis zu verlieren, assoziiere".
189 Deleuze 1981, S. 52 (dt. Ü. S. 49).
190 Deleuze 1968a, S. 229; dt. Ü. S. 220.
191 Ebd. S. 229; dt. Ü. S. 221.
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156
seine Mutter scheel anzusehen; der Sinn der Formulierung
ist vielmehr, daß Nero seine Mutter in ein Verhältnis setzte, das absolut
unvereinbar war mit dem seinigen, und darum mußte Nero böse
sein. Mit anderen Worten: Nero hat, allem Anschein nach, aus freiem Willen beschlossen,
seine Mutter in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen.
Doch nehmen wir an, daß dies nur eine ungeschickte Formulierung seitens
Deleuze ist. Der zweite Einwand ist gewichtiger. Nach Spinoza kann das Bild (imago),
das es im Bewußtsein des Täters gibt, nicht den ethischen Charakter
einer Handlung allein bestimmen. Denn an und für sich betrachtet, enthalten
die Bilder der Imagination keinen Irrtum, mithin nichts Negatives (vgl. II.17).
Um bestimmen zu können, ob eine Imago der Einbildungskraft wahr ist oder
nicht, d.h. um zu wissen, ob das Verhältnis des anderen Modus, dem ich begegne,
mit dem meinigen wirklich vereinbar ist, bedarf es der Vernunft, die allein die
Richtschnur für die Bewertung liefern kann: "Es ist aber zu bemerken, daß
wir beim Ordnen unserer Gedanken und Vorstellungen immer darauf achten müssen,
was in jedem Ding gut ist, damit wir so stets durch den Affekt der Lust zum Handeln
bestimmt werden" (V.10). Hier sagt Spinoza also, daß man schon von vornherein
irgendeine Auffassung vom Guten haben muß, unabhängig von den jeweiligen Imagos.
So kann Orest auch nicht einfach ein Imago von Agamemnon "als ewige Wahrheit"
besessen haben, wie Deleuze meint; denn ewige Wahrheiten werden überhaupt
nicht aus der Imagination geschöpft, sondern aus der Vernunft. Was Gutes
ist, bestimmen wir durch Vernunft. Wie Spinoza sagt, ist das Gute das, von dem
wir "gewiß wissen (certe scimus), daß es uns nützlich ist" (Eth. IV.
def. 1). Man kann aber dessen nicht auf der Ebene der bloßen Imagination
gewiß sein. Fehlt die urteilende Vernunft, wird man nicht bestimmen können,
welche Begegnung zweier aufeinandertreffender Körper "schlecht" ist und
welche nicht
So sind auch die Worte Spinozas zu interpretieren,
als er — des Drängens von Blyenbergh überdrüssig geworden — im
Brief vom 13. März 1665 schreibt: "Worin also bestand das Verbrechen Neros?
Lediglich darin, daß er durch diese Tat seine Undankbarkeit, seine Grausamkeit
und seinen Ungehorsam darlegte" (G IV, 147). "Undankbarkeit" (ingratitudo), "Grausamkeit"
(immisericordia) und "Ungehorsam" (inobedientia) sind, wie man aus den lateinischen
Benennungen leicht sieht, Negationen der entsprechenden Tugenden. An sich enthalten
sie nichts Positives, und man kann auf sie erst |
157
verweisen, wenn die vernunftgemässen positiven Tugendbegriffe
formuliert sind.
Neros Verbrechen bestand also nicht darin, daß er vom Zusammenhang seiner
Mutter eine Imago hatte, die mit dem seinigen unvereinbar war, so daß er
entsprechend danach handelte, sondern darin, daß er seine Undankbarkeit,
Grausamkeit usf. bloßlegte. Von diesen schwebten ihm natürlich keine
Imagines vor, als er seine Tat vollzog — wie der Verbrecher übrigens im
Moment der Ausführung kaum eine klare Vorstellung vom Charakter seiner Tat
hat.
18. Das "Quelque chose", oder das "Positive" im Bösen
Doch ist Deleuze ein scharfer Denker, und das Mangelhafte
in einer naturalistisch stilisierten Ethik entgeht ihm keineswegs. Interessanterweise
beginnt er eben an dieser Stelle zu schwanken. Von seiner eigenen naturalistischen
Interpretation Spinozas in die Enge getrieben, fangen die Argumente Blyenberghs
an, ihm überzeugend zu erscheinen. Den Sinneswandel sieht man deutlich in
Deleuzes späterem Buch Spinoza — Philosophie pratique (1970, erweiterte
Neuauflage 1981), das im wesentlichen aus der Überarbeitung einiger Kapitel
des Spinoza-Buches vom Jahre 1968 besteht Hatte Deleuze 1968 nur vorübergehend
darüber nachgedacht, das Böse könne — wie Blyenbergh meinte -
im Affekt der Unlust residieren, der ja im Übergang des Menschen von einer
größeren zu einer geringeren Vollkommenheit besteht (vgl. Eth. III
Aff. def. 3) 192, so behandelt er im neuen Buch die Problematik
eingehender.
Nach Spinoza existiert das Böse überhaupt nicht, und Blyenbergh
protestiert dagegen. Deleuze schließt sich diesmal Blyenbergh an und wittert
Inkonsequenz bei Spinoza: "Insistiert er doch selbst in der Ethik auf
der Realität des Übergangs zu einer geringeren Vollkommenheit: Unlust'.
Hier liegt etwas vor (il y a là quelque chose), das sich weder auf den Mangel
einer größeren Vollkommenheit, noch auf den Vergleich von
zwei Vollkommenheitszuständen zurückführen läßt. In
der Unlust gibt es etwas, das nicht reduzierbar und weder negativ noch äußerlich
bedingt ist: ein Übergang, der gelebt und real ist Eine Dauer".
Diese Dauer existiert und bildet "das letzte Refugium des Schlechten". 193
192 Deleuze 1968a, S. 230; dt. Ü. S. 221.
193 Deleuze 1981, S. 56 f. (dt. Ü. S. 53).
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158
Mit anderen Worten, das Böse (bzw. das Schlechte) ist nicht bloß
Negation, meint Deleuze: es erhält Dasein und Dauer im Affekt der Unlust,
die definitionsgemäß Übergang zu einer geringeren Vollkommenheit
ist. Deleuzes Argument ist hier ganz ähnlich wie das von Pierre Macherey,
von dem wir im vorigen Essay gesprochen haben. Sogar die Wortwahl beider ist
ähnlich: beide finden, daß es im Negativen dennoch "etwas" (quelque
chose) gebe, das Positivität zu besitzen scheint. 194 Symptomatisch
ist auch, daß Deleuze ebensowenig wie Macherey näher definieren kann,
worin eigentlich dieses "quelque chose" besteht.
Es ist dies ein Gedankengang, der eine weitere Annäherung von Spinoza
und Nietzsche ermöglicht, meinte Nietzsche ja, daß das Böse Positivität
besitzt. Nur ist er mit dem authentischen Spinoza unvereinbar. Wenn Spinoza den
Übergang zur geringeren Vollkommenheit, d.h. den Affekt der Unlust, als
einen "Akt", mithin als ein Wirkliches definiert, dann meint er nicht, daß
dieses Wirkliche aus dem Geringer-Werden der Vollkommenheit als Negation bestünde.
Im Gegenteil, wir können Unlust nur empfinden, weil uns trotz Kraftminderung
noch positives Vermögen übriggeblieben ist. 195 Anders ausgedrückt,
man kann das Vorhandensein des Übergangs (transitio) nicht aus der Privation
ableiten, sondern aus dem Positiven. Deleuze begeht hier einen Fehler, der dazu
führt, daß sich das Böse zu etwas Irreduziblem verwandelt.
Die "gleitende" Spinoza-Hermeneutik Deleuzes scheint somit in einen Widerspruch
zu münden. Lobte Deleuze anfänglich Spinoza dafür, daß dieser
alles Negative als Folge eines Ressentiment-Denkens abweise, so findet er am
Ende etwas "unreduzierbar" Negatives bei Spinoza selbst. Vielleicht
194 Siehe dazu meinen Althusser-Essay in diesem
Band. Macherey war der Ansicht, daß es in der inadäquaten Erkenntnis,
obgleich sie nach Spinoza aus der subjektiven "cognitionis privatio" besteht
(H.35, vgl. n.33), dennoch "etwas" (quelque chose) gebe, das nicht rein subjektiv
ist und somit "vrai a sa manière" sei.
195 Deleuze zitiert selbst (Deleuze 1981,
S. 56, dt. Ü. S. 53, 172) die allgemeine Definition der Affekte,
die in der Tat gegen seine Interpretation spricht. Dort sagt Spinoza zur Kraftminderung
im Unlustaffekt: "Mit den Worten: 'eine größere oder geringere Kraft
zu existieren, als vorher' meine ich nicht, daß die Seele die gegen wärtige
Verfassung des Körpers mit einer früheren vergleicht, sondern daß
die Idee, die die Form des Affekts ausmacht, vom Körper etwas bejaht, was
tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher"
(Eth. III. Aff. gen. def., explic.). Nach dieser Definition
gibt es in der Unlust nichts Irreduzibles im Sinne Deleuzes. Die Unlust (Tristitiae
affectus) ist nichts als der Realitätsverlust, den die Seele registriert.
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159
ist dies eben das "monströse Kind",
dessen Zeugung Deleuze zu seinem Ziel erklärt hatte. Allerdings beweist
die Geburt des deleuzianischen Homunkulus, daß es Deleuzes "expressivem"
Deutungsversuch nicht anders ergeht als dem Projekt Nietzsches: Der Nihilismus
wird nicht überwunden.
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