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Spinoza, ein Dialektiker wider Hegel
La raison pour laquelle je crois
que l'âme pense toujours est la même qui me fait croire que la lumière
luit toujours, bien qu'il n'y ait pas d'yeux qui la regardent.
Descartes an Gibieuf, 19. Jan. 1642
1. Hegels Spinoza-Bild und das Bild Hegels
Den Vorwurf der Theologen, Spinozismus sei gleich Atheismus,
ließ Hegel nicht gelten: Nichts sei ungerechter, da Spinoza doch Gott über
alles setzt. Vielmehr sei er ein Akosmist, weil die Welt bei ihm ganz in der
göttlichen Substanz aufgeht. "Die, welche Spinoza so verschwärzen",
schreibt Hegel, "wollen also nicht Gott, sondern das Endliche, die Welt erhalten
haben; sie nehmen es übel, daß dieses nicht als Substantielles gelten
darf". 1 Doch besteht der Mangel Spinozas in der Abstraktion: seine
Philosophie "ist nur starre Substanz, noch nicht Geist". 2 Und Hegel
scheut auch nicht vor einem geschmacklosen Witz zurück. Spinoza, sagt er,
starb an der Schwindsucht, "übereinstimmend mit seinem Systeme, in dem auch
alle Besonderheit und Einzelnheit in der Einen Substanz verschwindet". 3
Die Spinoza-Würdigung des reifen Hegel ist somit ambivalent. Sie läuft
darauf hinaus, daß Spinoza zwar eine Reihe fürs neuzeitliche Denken
höchst bemerkenswerter Standpunkte herausgearbeitet hat, in seiner Substanzmetaphysik
aber wesentlich korrigiert werden muß. Diese Ansicht hielt sich noch bei
den frühesten Hegel-Schülern, wie z.B. bei Karl Rosenkranz oder Johann
Eduard Erdmann. 4
Die späteren Neubewertungen der Philosophie
Hegels mußten auch sein Spinoza-Bild in die eine oder andere Richtung hin
korrigieren. Schon in den 1830er Jahren begannen von Hegel und den konservativen
Hegel-Epigonen
1 Hegel 1984:III, S. 221.
2 Ebd. S. 224.
3 Ebd. S. 219.
4 Vgl. die kurze Darstellung von Düsing
1983, S. 162 ff. Zudem: Wennerberg 1848, S. 4 f.
Wennerberg scheint bei seiner Verteidigung Spinozas besonders von H.C.W. Sigwart
beeinflusst zu sein.
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abweichende Spinoza-Deutungen zu erscheinen, die wichtigste
darunter war H.C.W. Sigwarts Buch Der Spinozismus (1839). Und hatte
Ludwig Feuerbach noch 1833 in seiner Philosophiegeschichte den Substanzbegriff
Spinozas mit ähnlichen Argumenten wie Hegel kritisiert, so war der Ton 1843
ganz anders — Spinoza und Hegel stünden nun in einem engen Verhältnis
der — wiewohl reziproken — Kontinuität zueinander: "Die Hegelsche Philosophie
ist der umgekehrte - der theologische Idealismus, wie die Spinozische
Philosophie der theologische Materialismus ist". 5
Das Verhältnis Hegel-Spinoza neu zu bestimmen, war für die radikalen
Junghegelianer der Vormärz-Periode generell aktuell. So wollte Bruno Bauer
Hegels objektiven Idealismus mit einer neuen Synthese von Fichtes Ich und Spinozas
Substanz beseitigen. Moses Hess wiederum kritisierte an Bauers Versuch, daß
er eine regelrechte Rückkehr zum Subjektivismus Fichtes bedeute. 6
Die Interessen dieser Diskussion waren nicht die der philosophiegeschichtlichen
Forschung, vielmehr ging es darum, die Philosophie so zu reformieren, daß
sie als Grundlage des eigenen politischen Aktivismus dienen konnte.
Die junghegelianische Beschäftigung mit Spinoza
nahm zwei spätere Spinoza-Aneignungswellen vorweg, die auch teilweise von
den Bedürfnissen des politischen Aktivismus motiviert waren und grösstenteils
als "links" eingestuft werden können. Die erste fand in den 20er Jahren
in der jungen Sowjetunion statt. Die zweite wiederum spielte sich in der westeuropäischen
linken Szene im Zeichen der theoretischen Reflexion der 68er-Generation ab.
In der sowjetrussischen Spinoza-Aneignung wurden
ganz gegensätzliche Positionen zum Verhältnis Spinoza-Hegel vertreten.
Während Aleksandr Deborin in seinem 1928 erschienenen Buch über die
Weltanschauung Spinozas schrieb, daß hinsichtlich solcher Gegensätze
wie Endliches und Unendliches, Freiheit und Notwendigkeit usf. "die Dialektik
Hegels [...] nur eine Weiterentwicklung und Vertiefung der dialektischen Ideen
Spinozas"
5 Feuerbach 1982:IX, S. 299. Ähnlich
urteilt Feuerbach schon ein Jahr zuvor in den Vorläufigen Thesen zur Reformation
der Philosophie, a.a.O., S. 243: "Spinoza ist der Urheber der spekulativen
Philosophie, Schelling ihr Wiederhersteller, Hegel ihr Vollender".
6 Zur junghegelianischen Spinoza-Rezeption vgl.
Malinin & Šinkaruk 1983, S. 129 ff.; 147 ff.
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sei 7, meinten die "Mechanisten" (Ljubow Akselrod,
A. Warjasch u.a.) ihrerseits, daß Spinozas Verdienste vor allem in der Festlegung
eines mechanizistischen Determinismus zu suchen wären. Akselrod fand aber
die theologisch-religiösen Elemente bei Spinoza fragwürdig und stellte
fest, daß die französischen Aufklärungsmaterialisten — La Mettrie
und Holbach — immerhin konsequenter wären. 8
In der westeuropäischen (hauptsächlich französischen) "linken"
Spinoza-Aneignung seit den 60er Jahren ist die antidialektische Position vorherrschend.
Sowohl die Althusser-Schule (Pierre Macherey) als auch Antonio Negri und Gilles
Deleuze heben alle die Unversöhnlichkeit des Spinozismus mit einer hegelianisch
verstandenen Dialektik hervor. So verteidigt Pierre Macherey die These, daß
die Spinoza-Lektüre Hegels insgesamt "une formidable méprise" sei. 9
Dies zeige sich vor allem darin, daß Spinoza die dialektische Problematik
der Negation der Negation gänzlich fremd ist. 10 Laut Macherey
stecke nämlich in dieser Problematik bei Hegel nichts anderes als eine verkleidete
Subjektmetaphysik (zwecksetzendes Subjekt als "Garantie" der Prozessverläufe),
während der Spinozismus dem Subjekt keinen solchen Platz einräumt.
Macherey geht von den allgemeinen Positionen der Althusser-Schule betreffs Dialektik
aus, die ich in meinem Aufsatz über die Spinoza-Rezeption der Althusserianer
schon referiert habe.
Antonio Negri seinerseits meint, die dialektische
Methode sei nichts weiter als ein Versuch, die Wirklichkeit theoretisch zu manipulieren;
deshalb werden die Mängel des idealistischen Dialektikers Hegel keineswegs
7 Deborin 1971, S. 129. Später
hat u.a. Ewald Iljenkow sich der Deborinschen Ansicht angeschlossen, vgl. Il'enkov
1984. Der "zweite Essay" des Buches ist der Philosophie Spinozas gewidmet.
"Vor allem für die Geschichte der Dialektik ist die Gestalt Spinozas
von besonderem Interesse", fängt Iljenkow seine Darstellung an. "Er war
beinahe der einzige unter den großen Denkern vormarxistischer Epoche, der
glänzende Beispiele scharf dialektischen Denkens mit einem konsequent und
unnachgiebig durch das ganze System durchgeführten materialistischen Prinzip
vom Denken [...] zu vereinigen imstande war" (ebd. S. 26).
8 Akselrod 1971, S. 148 ff., 150,
160 f. — Diese Diskussion um Spinoza wird auf eine informative Weise referiert
in: Kline 1952 (die Arbeit enthält neben einem Exposé über
den Verlauf der Diskussion, auch Übersetzungen der Texte der Teilnehmer).
Zudem: Jachot 1991, S. 83 ff.
9 Macherey 1979, S. 11.
10 Ebd. S. 259: "L'absence de la négation
de la négation dans la pensée spinoziste [...] represente au contraire
l'indice positif d'une résistance anticipée [...] a un aspect de la
dialectique hégélienne que nous appellerons [...] son idealisme".
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durch die Spinoza-Interpretationen behoben, die vom Standpunkt
des dialektischen Materialismus versucht worden sind. 11 Schließlich
ist Gilles Deleuze zu nennen, der seinen eigenen Worten nach die Dialektik geradezu
hasse; mit seiner Spinoza-Würdigung und seinem Versuch, eine alternative
"Logik der Differenz" an Stelle der Dialektik zu entwickeln, setzen wir uns in
diesem Buch in einem besonderen Essay auseinander.
Diese Positionen ähneln in ihrem Anti-Hegelianismus denen der russischen
Mechanisten, doch verleiht ihnen der nietzscheanisierende Voluntarismus auch
ganz andere Facetten. Die Befürworter einer Hegel-Spinoza-Kontinuität
sind demgegenüber im Westen während der letzten Jahrzehnte weniger
en vogue gewesen. Eine vermittelnde Position scheint der belgische Philosoph
Jean-Pierre De Waele zu vertreten, der in seinem 1985 erschienenen kleinen Aufsatz
auf die bedeutende Rolle hinweist, die Spinoza bei der Herausbildung des Hegelschen
Begriffs der Negation der Negation gespielt hat. Doch kommt De Waele zu keinem
eindeutigen Resultat. 12
In diesem Aufsatz versuche ich einen neuen Beitrag zur Diskussion sowohl zum
Spinoza-Bild Hegels als auch zum Hegel-Bild zu liefern — die beiden lassen sich
nämlich nicht voneinander trennen. Ich will jedoch nicht wiederholen, was
schon in den Althusser- und Deleuze-Essays gesagt worden ist, sondern konzentriere
mich auf die Probleme der Dialektik — wobei ich, in Anlehnung an die Forschungsresultate
von Dieter Henrich und Klaus Düsing, 13 die Hegelsche Dialektik
wesentlich als eine "Logik der Subjektivität" verstehe.
Da Hegel in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung Spinoza etwas unterschiedlich
rezipiert hat — und zwar positiver in seinen Jugendarbeiten -, ist ein kurzes
geschichtliches Exposé Hegelscher Spinoza-Aneignung vorauszuschicken.
11 Negri 1982, z.B. S. 10,19,166,170
usf. Die Dialektik ist für Negri überhaupt "die Form, in der sich die
bürgerliche Ideologie und all ihre Varianten selbst präsentieren" (S. 35).
Dialektik und die dazugehörigen Vermittlungen zu preiszugeben (wie dies
Spinoza angeblich nach Negri tut) bedeute zugleich das Überschreiten des
bürgerlichen Horizonts (ebenda).
12 De Waele 1985, S. 36 ff.
13 Vgl. Henrich 1978; Düsing 1984.
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2. Etappen der Hegelischen Spinoza-Beschäftigung
Wie Klaus Düsing bemerkt, waren die ersten Einflüsse
des Spinozismus auf Hegel durch den deutschen Pantheismusstreit Ende des 18.
Jahrhunderts vermittelt worden: "Er best schon im Tübinger Stift mit Hölderlin
und anderen Jacobis Briefe Über die Lehre des Spinoza; Hölderlin
schreibt die dort erörterte Pantheismusformel Lessings Hen kai pan in
Hegels Stammbuch". 14 Dies alles überrascht nicht: hatte doch
die Spinoza-Rezeption in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts die damalige protestantische
Theologie so massgeblich beeinflusst, daß der junge Hegel in der intellektuellen
Atmosphäre, in der er lebte, schwerlich von ihr keine Notiz hätte nehmen
können. 15 Doch wirkten weder Spinoza noch der damalige Pantheismusstreit
besonders auf Hegels erste Entwürfe. 16
Erst "nach der Wiederbegegnung mit Hölderlin in Frankfurt (1797) nähert
sich Hegel der Metaphysik des Spinozismus an", und zwar in Gestalt des Hölderlinschen
Pantheismus. 17 Ein interessanter Text ist das von den Herausgebern
als Glauben und Sein betitelte Fragment aus der Jahreswende 1797/1798
(nicht vor Dezember 1797 geschrieben). Erstens sind hier, wie Manfred Baum schreibt,
Anfänge der Dialektik zu spüren, 18 und zweitens gebraucht
Hegel dabei einige Jacobis Spinoza-Briefen (1785) entlehnte Formulierungen.
Gegen Kants Religionsphilosophie polemisierend sucht Hegel nachzuweisen, daß
Sein und Geglaubtsein äquivalente Begriffe sind. Glauben wiederum ist eine
Vereinigung von Entgegengesetzten — nämlich die Vereinigung des Subjekts
und Prädikats zum Sein, und "Sein kann nur geglaubt werden". 19
Die verschiedenen Arten des Seins sind also die vollständigeren oder unvollständigeren
Vereinigungen. "In jeder Vereinigung ist ein Bestimmen und ein Bestimmtwerden,
die eins sind", 20 und daraus
14 Düsing 1983, S. 170.
15 Dies ist detailliert nachgewiesen durch die Untersuchung
von Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie
der Goethezeit, Bd. 1, Die Spinozarenaissance, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann
1974 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 22).
16 Düsing, 1983, S. 170.
17 Düsing, a.a.O., S. 171; vgl.,
was das Biographische betrifft, auch Althaus 1992, S. 132 ff.
18 Baum 1986 (Neuzeit und Gegenwart, Bd. 2), S. 48 ff.
19 Hegel 1969:I, S. 251.
20 Hegel, a.a.O., S. 253.
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sollten also die Seinsformen entspringen. Hier ist — nach
Baum — ein Bezug zu Spinozas bekanntem Dictum "omnis determinatio negatio" zu
spüren. 21
Auch wenn Hegel diese Skizze, nach der das Absolute oder das Sein nur im Glauben
gegenwärtig ist, später aufgibt, bleibt die Problematik der Entzweiung
und Vereinigung (die im Grunde dieselbe ist wie die Frage nach der Entgegensetzung
von Subjektivität und Objektivität und ihre Aufhebung) sein Leitstern
bei der Ausarbeitung anderer Varianten der dialektischen Systematik. 22
Im nächsten Lebensabschnitt, der in der Forschung als frühe Jenaer
Jahre bekannt ist, nimmt Hegel an der Editierung der Werke Spinozas teil, die
H.G.E. Paulus 1802-1803 herausgab, wenn sein Anteil daran auch bescheiden
war. In der Differenzschrift (1801), wo Hegel sich noch vor allem als
Sprachrohr Schellings gelten läßt, fordert er, gegen Fichtes Transzendentalphilosophie,
eine Wiederherstellung der Totalität, die nur dialektisch vor sich gehen
könne: "Das Absolute selbst aber ist [...] die Identität der Identität
und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm". 23
Im Vorbeigehen nennt Hegel hier Spinoza einen Vorläufer, der bereits versucht
hätte, Widersprüchliches in seine Definitionen hineinzulegen: "So hört
z.B. Spinozas Begriff der Substanz, die als Ursache und Bewirktes, als Begriff
und Sein zugleich, erklärt wird, auf, ein Begriff zu sein, weil die Entgegengesetzten
in einen Widerspruch vereinigt sind". Keine Philosophie kann nach Hegel auf den
ersten Blick schlechter beginnen als die von Spinoza, nämlich mit einer
Definition. "Wenn aber die Vernunft von der Subjektivität des Reflektierens
sich gereinigt hat, so kann auch jene Einfalt Spinozas, welche die Philosophie
mit der Philosophie selbst anfängt, und die Vernunft unmittelbar mit einer
Antinomie auftreten läßt, gehörig geschätzt werden". 24
Bei dieser kryptischen Bemerkung über die "gehörige
Schätzung" Spinozas 25 blieb es nicht lange, denn schon im nächsten
Jahr (1802) polemi-
21 Baum, a.a.O., S. 53.
22 Eine gute Darstellung, die die Ergebnisse
bisheriger (vor allem westdeutscher) Forschung zusammenfaßt, bietet Motrošilova
1984. Motroschilowa bemerkt, wie Hegel auf seinem Weg zur "Wissenschaft der
Logik" eine Reihe Systementwürfe verfaßt hat, die, auch wenn sie sich
als Fehlschläge erwiesen, doch wichtig sind für die Deutung der Logik
des reifen Hegel (ebd. S. 58).
23 Hegel 1972, S. 84.
24 Ebd. S. 28.
25 Manfred Baum deutet diese Anspielung Hegels so,
daß er in Spinoza den "Ahnherrn" der Schellingschen Identitätsphilosophie
sieht; somit sei Spinoza "auch
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siert Hegel in Glauben und Wissen gegen Friedrich
Jacobis Spinoza-Deutung auf eine Weise, die zeigt, daß er die im Fragment
Glauben und Sein vorgetragenen Gedanken aus der Frankfurter Zeit weitergeführt
hat und schon eine tiefere Kenntnis von Spinoza besass.
In Glauben und Wissen bemühte sich Hegel, den Begriff der Unendlichkeit
gründlicher zu fassen als Jacobi, der — so Hegel — Spinoza in dieser Hinsicht
gar nicht verstanden hätte. Jacobi widersetzte sich der spinozistischen
Idee einer Unendlichkeit actu. Hegel erwiderte mit einem Hinweis
auf Spinozas Brief an Lodewijk Meyer vom 20. April 1663, wo Spinoza bemerkte,
daß sich die Mathematiker ohne Bedenken der Idee des aktuell Unendlichen
bedienen. Als Beweis stellte Spinoza das bekannte Beispiel zweier exzentrischer
Kreise auf, deren Zwischenraum unendlich viele Ungleichheiten enthält.
In diesem spinozistischen Beispiel war, nach Hegel, "das Unendliche [...]
oder der absolute Begriff' zugleich "für die Anschauung, also im Besonderen
dargestellt". 26 Hegel lobt an Spinoza, daß er das Wesen der Unendlichkeit
viel tiefer faßte als Jacobi, und fährt fort "Diese Idee des Unendlichen
ist eine der allerwichtigsten im Spinozistischen System". Danach folgt Hegels
eigene Deutung: "Das wahrhafte Unendliche ist die absolute Idee [...] oder Identität
des Unendlichen und Endlichen selbst". 27 Der Satz ist ein Echo auf
die ein Jahr früher in der Differenzschrift geäußerte Formulierung:
das Absolute sei eine Identität von Identität und Nichtidentität.
Das Verhältnis von Identität und Nicht-Identität
hat schon hier eine Triplizität, die an die spätere triadische Formel
von Affirmation — Negation — Negation der Negation erinnert. Daher bemerkt Manfred
Baum mit Recht, daß in Glauben und Wissen die Negation der Negation
- zwar "nicht in ihrer logischen, sondern in ihrer metaphysischen Bedeutung"
- erstmals klar in den erhaltenen Schriften Hegels ausgesprochen wird. 28
Hegel sagt in der Idee "ist Endliches und Unendliches Eins, und deswegen die
Endlichkeit als solche verschwunden [...]; es ist aber nur das, was an ihr Negation
ist, negiert worden, und also die wahre Affirmation gesetzt". 29
der Philosoph der transzendentalen Anschauung"
- und dementsprechend wäre Spinozas Substanz, wie Hegel sie sieht, kein
Begriff, eher eine Anschauung (Baum, ebd. S. 110; vgl. S. 132).
26 Hegel 1972, S. 185.
27 Ebd. S. 186.
28 Baum, a.a.O., S. 196.
29 Hegel 1972, S. 140.
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Dabei ist erstens bemerkenswert, daß Hegel schon in diesem frühen
Stadium an die Problematik der Negation der Negation denkt, bevor er für
seine Philosophie die endgültige Systemform gefunden hat Zweitens entwickelt
er diese Denkfigur in Auseinandersetzung mit Jacobi, Kant und Fichte und in Anlehnung
an Spinoza. Insofern kann man wohl Deborin und Jean-Pierre de Waele zustimmen,
die beide auf die Bedeutung der Lehre Spinozas vom Unendlichen für die Entstehung
der Hegelschen Dialektik hingewiesen haben. 30 Doch muß ein wesentlicher
Vorbehalt gemacht werden. Hegels Wohlwollen für Spinoza beruht darauf, daß
er in ihm eine Art "Vor-Schelling" erblickt. Beispielsweise werde, so versichert
uns Hegel, Spinozas Substanz durch die "intellektuelle Anschauung" erkannt. Eine
solche Interpretation ist zwar verständlich, hatte Schelling sich doch massiv
an Spinoza angelehnt, aber sie bezieht sich weniger auf den authentischen Spinoza
denn auf die Vorstellungen, die man über ihn während des deutschen
Pantheismusstreites Ende des 18. Jahrhunderts machte.
Die Tendenz Hegels in Glauben und Wissen kommt deutlich in seiner Kritik
an Kant zum Vorschein, wo Spinoza erneut tangiert wird. Obgleich Kant die "wahrhafte
Form" des Denkens, nämlich die Triplizität, begriffen habe, ist das
Unzulängliche bei ihm doch, daß er die Subjektivität zu abstrakt
faßt "Der menschliche Verstand ist die Verknüpfung des Mannigfaltigen
durch die Einheit des Selbstbewußtseins. In der Analysis ergibt sich ein
Subjektives, als verknüpfende Tätigkeit", während die Vernunft
ihrerseits das Subjektive "in seinem von der Mannigfaltigkeit völlig gereinigten
Zustande als reine abstrakte Einheit" betrachtet. 31 Andererseits ist
"diese leere Einheit als praktische Vernunft doch wieder konstitutiv". 32
Der Widerspruch Kants liegt also darin, daß
die abstrakte, leere, unendliche Vernunft absolute Spontaneität zugleich
sein soll. Das "Ich denke" (letztlich Cartesischer Provenienz) wird bei Kant
"zu einem absoluten intellektuellen Punkte". 33 Hegels Kritik an Kant
läuft darauf hinaus, daß dieser das "Seelending" der früheren
rationalen Psychologie zu einem leeren regulativen Prinzip machte. So müsse
Kant zu dem Notbehelf Zuflucht nehmen, daß er zu der ganz leeren Einheit
des Selbstbewußtseins "ein Plus des Empirischen" hinzufügt, um zu einem
inhaltlichen Bewußtsein zu kommen. Ist Selbstbewußtsein A, so lautet
die Formel Kants A + B. Dieses
3╟ Vgl. de Waele 1985, S. 41.
31 Hegel 1972, S. 154.
32 Ebd. S. 155.
33 Ebd. S. 156.
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"Hinzutreten eines B zur reinen Egoität" findet Hegel
"unbegreiflich". 34 Spinoza sei hier Kant überlegen, denn die
spinozistische Einheit ist keine abstrakte; die Einheit der Substanz hätte
man als etwas deuten können, wo Begriff und Anschauung eins sind. 35
Dieses Beispiel zeigt handgreiflich, inwiefern sich der authentische Spinoza
von dem mit Hegels Augen gesehenen "Identitätsphilosophen Spinoza" unterscheidet.
Man kann nämlich sagen, daß der authentische Spinoza Kant ganz darin
zugestimmt hätte, daß ein "Plus des Empirischen" zum Selbstbewußtsein
hinzugefügt werden muß. Spinoza konstatierte ja in Prop. II.11 der
Ethik, daß "das Erste, was das aktuale Sein der menschlichen
Seele ausmacht, nichts anderes ist als die Idee eines aktual existierenden Einzeldinges".
Und II.23: "Die Seele erkennt sich selbst nur insofern sie die Ideen der Erregungen
des Körpers (Corporis affectionum ideas) erfaßt". Kurz: die Doktrin
Spinozas über die Seele besagt, daß das konkrete menschliche (Selbst-)Bewußtsein
erst durch Einwirkung äußerer Objekte zustande kommt. Natürlich
steckt darin auch Kritik am Cartesischen "Cogito", wo das Bewußtsein ganz
voraussetzungslos auf die Bühne tritt.
Kants These von der Irreduzibilität der Sinnlichkeit,
also des "empirischen Plus", hinter dem letztlich die "Dinge an sich" standen,
war ein materialistischer Zug seiner Philosophie, der ihn Spinoza annäherte,
obgleich diese zwei Denker sonst so grundverschieden waren. Verständlicherweise
war das "inkonsequente" Festhalten am Ding an sich ein Stein des Anstosses für
den Identitätsphilosophen Hegel, der in seinen Bemühungen, die irreduzible
Empirie zu eliminieren, sich auf einen nicht ganz sachgemäß gedeuteten
Spinoza stützte.
Schellings und Hegels Substanzmetaphysik der Jenenser
Periode resümierend, schreibt Klaus Düsing, daß dieser Entwurf
sich von Spinozas Ansatz "durch jenes idealistische Prinzipienproblem" unterschied,
"in dem die Fundierungsbedeutung des konstituierenden, spontanen Selbstbewußtseins
als Problem enthalten ist". 36
34 Ebd. S. 165.
35 Ebd. S. 164.
36 Düsing 1983, S. 175. — Vielleicht
nähert auch Düsing Spinozas Substanzmetaphysik zu sehr dem Geiste Schellings
und Hegels an. Er sagt, daß sich die absolute Substanz "schon für Spinoza"
selbst erkennt (ebenda). Somit sollte Düsing den Standpunkt des alten J.H. Loewe
teilen, der in der Beilage seiner umfangreichen Fichte-Monographie zu beweisen
suchte, daß der Gott Spinozas eine "sich selbst denkende Substanz" sei (vgl.
Loewe 1862, S. 271 ff.). Obgleich es nun nach Spinoza selbst
in Gott notwendig eine Idee gibt "sowohl von seiner Wesenheit als auch von
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Ein paar Jahre später, in seinen Jenenser Logikentwürfen von 1804-1805,
knüpft Hegel wieder an dieselbe Unendlichkeits-Problematik an. Wir zitieren
nur einen Satz: "Die Unendlichkeit ist in dieser Unmittelbarkeit, des Andersseins
und des Andersseins dieses Andersseins oder wieder des ersten Seins der duplicis
negationis, die wieder affirmatio ist, einfache Beziehung,
in ihrer absoluten Ungleichheit sich selbst gleich". 37
Wenn die Benennung "Negation der Negation" hier auch noch nicht vorkommt und
Hegel sich in Anlehnung an die alte Logik des Terminus duplex negatio bedient,
kündigt die Prozedur doch schon die Figuren der Dialektik des reifen Hegel
an. In den Logikentwürfen der Jenaer Zeit wird auch nicht mehr explizit
an Spinoza angeknüpft. Im Gleichschritt mit seiner zunehmenden Entfremdung
von Schelling beginnt Hegel, sich auch von Spinoza zu distanzieren: statt in
ihm einen genialen Anschauungsphilosophen zu erblicken, stellt der reife Hegel
fest, daß Spinoza beim Verstandesdenken haften bleibt.
3. Spinoza und die Hegelsche Negation der Negation
Doch hat auch der reife Hegel seine Schuld Spinoza gegenüber
niemals bestritten. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
schreibt er:
"Spinoza ist der Hauptpunkt der modernen Philosophie:
entweder Spinozismus oder keine Philosophie. Spinoza hat den großen Satz:
Alle Bestimmung ist Negation. Das Bestimmte ist das Endliche [...] Weil Gott
nur das Positive, Affirmative ist, so ist alles andere nur Modifikation, nicht
an und für sich Seiendes; so ist nur Gott die Substanz [...] Die einfache
Determination, Bestimmung (Negation gehört zur Form) ist ein anderes gegen
die absolute Bestimmtheit, Negativität, Form. Die wahrhafte Affirmation
ist die
allem, was aus seiner Wesenheit folgt"
(Eth. II.3), bleibt Düsings Interpretation fragwürdig.
Dagegen ist zu sagen: Es ist inadäquat, Gott als Ganzem ein Selbstbewußtsein
zuzuschreiben, denn auch der Intellectus infinitus ist zunächst nur ein
Modus der geschaffenen Natur (vgl. Eth. I.31); als ein Attribut
des Denkens aber, obgleich unendlich und zu Gott gehörig, impliziert er
darüberhinaus keinerlei Selbstbewußtsein. Nur endliche Subjekte können
Selbstbewußtsein haben (das dann eben eines "Plus des Empirischen" zur Ergänzung
bedarf). Spinoza sagt daher auch deutlich an einer Stelle (Eth. V.40
schol.), daß "Gottes ewiger und unendlicher Intellekt" ein Kollektiv von
unendlich vielen singularen Intellekten ist.
37 Zitat nach de Waele, a.a.O., S. 40.
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Negation der Form; das ist die absolute Form. Der Gang Spinozas
ist richtig; doch ist der einzelne Satz falsch, indem er nur eine Seite der Negation
ausdrückt Nach der anderen Seite ist die Negation Negation der Negation
und dadurch Affirmation". 38
In Hegels Spinoza-Würdigung vereinen sich also,
wie froher schon, Lob und Tadel. In der Wissenschaft der Logik ist es
ähnlich — erst rühmt er ihn: "Der Satz des Spinoza: Omnis determinatio
est negatio [...] ist von unendlicher Wichtigkeit", dann aber werden sofort
auch die Vorbehalte namhaft gemacht: "nur ist die Negation als solche die formlose
Abstraktion". 39
Hegel ist der Ansicht, daß Spinoza bei Verstandesbestimmungen stehenbleibt,
die zueinander nicht in Widerspruch stehen. Somit sei auch die Auffassung von
der Negation bei Spinoza eine Folge davon, daß er in den Fesseln des verstandesmäßigen
Denkens bleibt, ohne die dialektische Bewegung der Vernunft fassen zu können:
"Die Negation ist (bei Spinoza — V.O.) einfache Bestimmtheit Die Negation
der Negation ist Widerspruch, sie negiert die Negation; so ist sie Affirmation,
ebenso ist sie aber auch Negation überhaupt Diesen Widerspruch kann der
Verstand nicht aushalten; er ist das Vernünftige. Dieser Punkt fehlt bei
Spinoza; und das ist sein Mangel". 40
Hegels Kritik an Spinoza ließe sich demnach
folgendennassen zusammenfassen: Bei Spinoza ist Gott allein oder die Substanz
absolut affirmativ. Alle einzelnen, determinierten Modi entstehen dadurch, daß
sie, durch Negationen verschiedener Grade, von der Substanz gleichsam "abgeschnürt"
werden. Somit bestehe die Individualität der einzelnen Modi aus bloßer
Determination: diese besitzen nichts Positives, das ihr "eigen" wäre.
Dies vorausgesetzt kann Hegel nun sein entscheidendstes Argument gegen Spinoza
ins Treffen führen: die Modi, denen es an affirmativen Inhalten mangelt,
stellen lediglich eine "schlechte Einzelheit" dar, es kommt nicht zu einer "wahrhaften
Subjektivität". 41 Und gerade hier drückt nach Hegel der
Schuh: "Gegen die Spinozistische allgemeine Substanz empört sich die Vorstellung
der Freiheit des Subjekts; denn daß ich Subjekt, Geist bin usf. — das Bestimmte
ist nach Spinoza alles nur Modifikation". 42
38 Hegel 1984:III, S. 222.
39 Hegel 1969:5, S. 121.
40 Hegel 1984:III, S. 222 f.
41 Ebd. S. 227.
42 Ebd. S. 247.
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Mit anderen Worten, der Spinozismus scheint zum materialistischen Determinismus
zu führen, vor dem Hegel sich hütet. Zwar gibt er zu, daß wenn
"die Theologie und der gesunde Menschensinn" gegen Spinoza an der Wirklichkeit
der Freiheit festhalten, ist dies wohl "im formellen Gedanken richtig". 43
Doch bedeutet diese Konzession nicht, daß Hegel bereit wäre, Spinoza
deshalb weiter zu folgen. Er hat ein alternatives Programm: es muß gezeigt
werden, daß ein Prinzip des Geistes und der Freiheit in der Wirklichkeit
steckt, daß die Substanz letzten Endes sich als Subjekt erweist. Hegels
und Spinozas Wege scheiden sich hier, denn Hegel ist, alles in allem, doch nicht
gewillt, mit der "Theologie und dem gesunden Menschensinn" zu brechen.
Hegels Programm der Substanz-Subjekt-Vermittlung gibt eben die "Teleologie"
zur Hand, nach Pierre Macherey gerade als das Spezifikum seines Idealismus. Der
andere Name für die Hegelsche Teleologie ist Negation der Negation. 44
Doch muß ich hier auf eine erschöpfende Analyse der verschiedenen Formen
der Negation in den Schriften Hegels verzichten. 45 Ich will aber im
folgenden wenigstens das skizzieren, was mir als der Hauptinhalt von Hegels Negationslehre
erscheint.
Man stösst auf den Problemkreis der Negation der Negation schon ganz
am Anfang der Hegelschen Logik, im ersten Kapitel des ersten Abschnittes,
der die "Seinslogik" behandelt. Dort bemüht sich Hegel nachzuweisen, daß
Sein und Nichts ohne ein vermittelndes Glied, den Begriff des Werdens, leere
Abstraktionen sind:
"Wo und wie nun vom Sein oder Nichts die Rede sein
wird, muß dieser Dritte vorhanden sein; denn jene bestehen nicht für
sich, sondern sind nur im Werden, in diesem Dritten". 46 Dieses "Dritte"
zwischen Sein und Nichts hat "vielfache empirische Gestalten", die später
in den konkreteren Bestimmungen der Seinslogik deutlicher herausgearbeitet werden.
Wenn zum Beispiel gezeigt wird, fährt Hegel fort, daß das Nichts
bei der Konstitution des Daseins anwesend ist, so ist man gewöhnlich der
Ansicht,
43 Ebd. S. 247.
44 Macherey 1919, S. 252.
45 Zur Problematik vgl. Henrich 1978. Das
Resultat Henrichs — dem ich mich anschließe — ist, daß "der Gedanke
der Selbstbezüglichkeit [...] formal die Voraussetzung dafür" ist,
"Andersheit an sich, also selbstbezügliche doppelte Negation zu denken".
Henrich meint sogar, daß die "Selbstbeziehung der erste und ursprüngliche
Gedanke" der Hegelschen Logik zu sein scheint (S. 225 f.).
46 Hegel 1969:5, S. 97.
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172
daß "das Dasein des Nichts durchaus nichts ihm selbst
Zukommendes sei [...] Das Nichts sei nur Abwesenheit des Seins, die Finsternis
so nur Abwesenheit des Lichts, die Kälte nur Abwesenheit der Wärme
usf." 47
Wer konkret dieser Ansicht ist, sagt Hegel nicht. Er stimmt ihr jedoch nicht
zu, sondern bemerkt ironisch, dies sei eine "scharfsinnige Reflexion" und polemisiert
dagegen: "Die Finsternis" zeigt "sich im Lichte allerdings wirksam [...], indem
sie dasselbe zur Farbe bestimmt und ihm selbst dadurch erst Sichtbarkeit erteilt,
indem, wie früher gesagt, im reinen Licht ebensowenig gesehen wird als in
der reinen Finsternis". 48
Kälte, Finsternis und dergleichen sind, fährt Hegel fort, "bestimmte
Negationen", nicht "das Nichts überhaupt". Somit sind sie "bestimmte, inhaltliche
Nichts". Nach diesen Bemerkungen faßt Hegel zusammen: "Aber die Bestimmtheit
ist, wie noch weiterhin vorkommt, selbst eine Negation; so sind sie negative
Nichts; aber ein negatives Nichts ist etwas Affirmatives". 49
Es handelt sich somit um die Negation der Negation,
zu deren expliziter Entfaltung Hegel in den späteren Abschnitten der Logik
übergeht. Das Nichts wird dadurch, daß es Bestimmtheit erhält,
zu etwas Affirmativem. Hegel bemerkt, daß für die "Verstandesabstraktion"
dies entweder als das Paradoxeste oder dann als etwas so Triviales erscheint,
daß "der stolze Verstand" dies nicht zu beachten brauche. Negation der Negation
richtig zu fassen ist daher die Sache der Vernunft.
Ein bißchen später, zu Beginn des 2. Kapitels
des ersten Abschnittes der Seinslogik, präzisiert Hegel dann das von ihm
Gesagte. Es erweist sich nun, daß das "Etwas" die "erste Negation der
Negation" ist, "als einfache seiende Beziehung auf sich". 50
Die Selbstbeziehung gehört also zu den konstitutiven Zügen der Negation
der Negation, und eben aus dieser Relation zu sich selbst entsteht — so Hegel
- die Subjektivität Und zwar sei "das Negative des Negativen [...] als Etwas
nur der Anfang des Subjekts [...]. Es bestimmt
47 Ebd. S. 107.
48 Ebd. S. 107 f. Die Worte "wie früher
gesagt" weisen auf keine vorangegangene Textstelle in Hegels Logik,
sondern vermutlich auf Aristoteles, der in De Anima II.10 (422
a) schrieb, daß auch das zu Helle unsichtbar wird, "wenn auch in einer anderen
Weise als die Finsternis". (Tatsächlich drückt Aristoteles damit nur
die triviale psychologische Tatsache aus, daß eine Verschiedenheit der Empfindungen
notwendig ist, damit ein Empfinden überhaupt statthaben kann — oder "nihil
sentire, et semper idem sentire, ad idem recidunt", wie Hobbes es formulierte).
49 Ebd. S. 108.
50 Ebd. S. 123.
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173
sich fernerhin zunächst als Fürsichsein und so
fort, bis es erst im Begriff die konkrete Intensität des Subjekts erhält". 51
Hegels Logik ist im Grunde eine Entwicklung dieses Leitgedankens durch
die Stufen der Seins-, Wesens- und Begriffslogik, bis er zu guter Letzt ganz
am Ende der Arbeit sein Credo herauskristallisieren kann: "Das Negative des Negativen",
diese "Beziehung des Negativen auf sich selbst", ist "der innerste
Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische
Seele". Eben dadurch komme "ein Subjekt, Person, Freies" zustande. 52
Hier, am Ende, sind Substanz und Subjekt vermittelt. Doch ist Hegel, wie wir
sahen, genötigt, das Element der Subjektivität schon in den noch ganz
abstrakten Kategorien der Seinslogik aufzuzeigen, wie im "Dasein" und "Etwas".
Es ist dem finnischen Hegel-Forscher Kari Väyrynen wohl zuzustimmen, wenn
er bemerkt, daß die Ursache, warum Hegel schon am Anfang seiner Logik
auf die Negation der Negation hinweist, obwohl der Gang der Darstellung dies
noch nicht erfordert, darin liegt, daß "Hegel zu beweisen strebt, daß
doch nicht alle Bestimmungen der Seinslogik tatsächlich solche individualitätslose
Momente einer abstrakten Identität sind, wie die Momente der spinozistischen
Substanz". 53
Falls dies stimmt, enthält die Hegelsche Logik schon an ihrem
Beginn eine versteckte Polemik gegen Spinoza — wie er ihn versteht Hegel hätte
ja auch nicht anders verfahren können, weil seine Grundintention nun einmal
die Aufhebung des Dualismus von Substanz und Subjekt war, und dies wiederum setzt
voraus, daß man schon im substantiellen Grund des Seins Elemente findet,
die die Konstitution der Subjektivität möglich machen. Die Negation
der Negation ist, als Selbstbeziehung, eben ein solches Element.
Die Vorwegnahme des Resultats schon am Anfang trägt
natürlich zum idealistischen Wuchern der "Teleologie" bei, in dem die Althusser-Schule
immer die Todsünde Hegels sah. Es wäre aber voreilig, daraus den Schluß
zu ziehen, daß die Gegenstücke zu den Begriffen des Subjekts und der
Negation der Negation bei Spinoza fehlen würden. 54 Schon ein
flüchtiges Durchblättern der Ethik genügt, um auch den
Hartnäckigsten zu überzeugen, daß wenn Spinoza vom Menschen als
eine adäquate Ursache der Veränderungen in seiner Umwelt spricht (vgl.
Eth. III def. 2), dies einen Sub-
51 Ebd. S. 123.
52 Hegel 1969:6, S. 563.
53 Väyrynen 1984, S. 73.
54 So Macherey, a.a.O., S. 257 f.
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174
jektbegriff — wenn auch einen von dem des deutschen Idealismus
verschiedenen — impliziert. Es wäre doch kurios, den vir sapiens, den Spinoza
im vierten Buch der Ethik einführt (IV.45 schol., coroll. 2), und
der in allen seinen Aktionen viel fähiger ist als der Unwissende (V.42 schol.),
ohne Bezug auf Subjektivitätstheorien zu betrachten.
Ich werde zudem weiter unten zeigen, daß der Spinozismus eine Philosophie
des Selbstverhältnisses par excellence ist, der aus guten Gründen als
ein materialistisches "Gegenstück" zum Teleologismus Hegels interpretiert
werden kann.
4. Die Seinsweise der Modi und der Conatus
Hegel glaubt, mit seinem Begriff der Negation der Negation
Spinoza überwunden zu haben. Ein locus communis der an Spinoza gerichteten
Kritik überhaupt, der auch Hegel sich anschließt, ist, daß es
bei Spinoza keine Vermittlungen zwischen Modi (Einzeldinge) und Substanz gebe,
oder, um Hegels Terminologie aufzunehmen, daß die Modi nur Resultate einer
einfachen Negation seien. So entstehe eine Kluft zwischen unendlich affirmativer
Substanz einerseits und den determinierten endlichen Modi andererseits, zu deren
Überbrückung Spinozas eigene Philosophie keine begrifflichen Mittel
zu bieten imstande zu sein scheint Das "Dritte", das Hegel von einer dialektischen
Entwicklung fordert, fehlt.
Auf den ersten Blick scheint Spinoza eine solche
Bewertung zu bestätigen. Nimmt man die Ethik zur Hand und liest die
Definitionen des ersten Buchs, erhält man den Eindruck, Hegels Kritik sei
alles andere als grundlos. Die Def. I.5 lautet "Mit dem Modus verstehe ich
die Affektionen der Substanz, oder das, was in einem Anderen ist und durch welchen
Anderen es begriffen wird". Das Axiom I.1 seinerseits konstatiert: "Omnia, quae
sunt vel in se, vel in alio sunt". Es ist dies ein ganz traditionelles Axiom, 55
das also besagt daß in sich (in se) nur die Substanz ist, die dadurch reine
Affirmation ist Die Modi hingegen sind "im Anderen" (in alio), und dieses Andere
determiniert sie "auf eine gewisse und bestimmte Weise".
In der Sprache Hegels ausgedrückt gibt es bei
Spinoza nur ein einfaches Anderssein, das als Relation die modale Welt konstituiert.
Das Sein der Modi ist unfrei, weil es immer in universale Determinationszusammenhän-
55 Schon Aristoteles: "Weil die einen gesondert
(chôristà) sein können, die anderen nicht, so sind die erstgenannten
Substanzen" (ousíai; Met. XII.5,1071 a).
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175
ge einfacher Negationen eingebettet bleibt Freiheit und
Subjektivität in die Welt hineinzubringen, setzt voraus, daß man über
Spinoza einen Schritt hinausgeht und die Negation selbst negiert, d.h. nach dem
Anderssein des Andersseins fragt Eben dies sollte laut Hegel bei Spinoza fehlen.
Aber vielleicht hat Hegel Spinoza nicht genau genug gelesen. Wenn Spinoza
sagt, daß ein Modus in einem "Anderen" ist, meint er zweierlei. Einerseits,
daß jedes endliche Einzelding (Modus) nur insofern Dasein hat oder tätig
ist, wenn es dazu von einem anderen Einzelding determiniert ist, dieses wiederum
von einem Dritten usw. ins Endlose (Eth. I.28). So determinieren
die Modi einander in einer unendlichen Kette. Andererseits aber ist alles in
Gott und nichts kann ohne Gott begriffen werden (I.15). Daraus folgt, daß
"Sein im Anderen" dasselbe bedeutet wie das "Sein in Gott": "Modus enim in alio
est, per quod concipi debet, hoc est in solo Deo est, & per solum Deum concipi
potest" (I.23 dem.).
Ein Modus ist somit auf zwei Ebenen determiniert, 56 Zum einen ist
er durch einen anderen endlichen Modus bestimmt, wodurch er ein Teil der geschaffenen
Natur und Konstituent des facies totius universi wird. Zum anderen ist es durch
die unendliche Substanz oder schaffende Natur bestimmt, die die causa immanens
eines jeden Einzeldinges ist (vgl. I.18).
Bei Spinoza handelt es sich also nicht einfach darum,
daß die Individuation und das In-Existenz-Treten der Modi vermittels einfacher
Determinationen stattfände, auch nicht um eine unvermittelte Entgegensetzung
von unendlicher Substanz und endlichen Modi, wie Hegel in seinen späteren
Schriften ihn gedeutet hat. Zwar sagt das Axiom I.1 in gut aristotelischem Sinne
die kontradiktorische Opposition von Unendlichkeit und Endlichkeit aus. 57
Aber das Prinzip der Immanenz verändert die traditionelle Fragestellung
ganz. Weil die unendliche Substanz immanent in den Einzeldingen anwesend ist,
verlagert sich die Antinomie von Endlichem und Unendlichem schon in den Modi
selbst.
Das, worauf Spinoza zielt, drückt er in Wendungen
aus, deren Unbholfenheit darauf hinweist, daß es ihm an einem Begriff mangelt,
der die Sachlage adäquat wiedergeben könnte. In der Demonstration zu
Prop. I.28 konstatiert er, daß ein Einzelding "durch Gott oder durch eines
von seinen
56 Dementsprechend erfassen wir auch die (einzelnen)
Dinge "auf zweierlei Weisen als aktual": entweder mit Beziehung auf eine bestimmte
Zeit und einen bestimmten Ort, oder dann als in Gott inbegriffen und aus der
Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend (Eth. V.29 schol.).
57 Vgl. Met. X.8,1058 a.
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176
Attributen zum Dasein und zur Tätigkeit determiniert
werden muß, insofern das Attribut mit einer Modifikation modifiziert ist,
die endlich ist und ein determiniertes Dasein hat" (Debuit ergo sequi, vel ad
existendum, & operandum determinari a Deo, vel aliquo ejus attributo, quatenus
modificatum est modificatione, quae finita est, & determinatam habet existentiam).
Ferner, fährt Spinoza fort, muß dieser andere Modus wiederum durch
einen anderen, ebenfalls endlichen Modus bestimmt sein, und so "ohne Ende".
Das Einzelding ist also durch Gott oder die Substanz
selbst determiniert, insofern Gott von einem endlichen Modus modifiziert
ist Dieses kleine Wort "insofern" ist für den Stil Spinozas sehr charakteristisch.
Es kommt häufig im Text der Ethik vor und taucht bei Spinoza interessanterweise
oft gerade an Stellen auf, wo Hegel erheblich raffiniertere dialektische Prozeduren
anwenden würde.
"Gott, insofern er durch einen Modus modifiziert
ist" — hier soll das "Insofern" Endliches und Unendliches vermitteln. Was bedeutet
die Rede von Gott, "insofern" er Modus ist? Einfach, daß die unendliche
Substanz durch endliche Dinge expliziert wird. Die Substanz steht nicht nur in
Opposition zu den Modi, sondern ist auch in ihnen anwesend.
Es ist also nicht möglich, Spinozas Substanzbegriff als oberste Gattung
des Seins im Sinne der aristotelischen Logik 58 zu interpretieren,
wo Insichsein und Sein-im-Anderen konträre Opposita bilden würden,
weil (nach Eth. I.15) Insichsein eben als Seinsweise der Substanz
auch das Sein-im-Anderen in sich einschließt Die Entgegensetzung dieser
zwei Seinsweisen (in se — in alio) in Axiom 1 des ersten Teils der Ethik wiederum
ist kontradiktorisch, nicht konträr. Das bedeutet, daß die Affirmation
und Negation, durch die die Verhältnisse der Substanz und Modi charakterisiert
werden, nur Aussagen betreffen bzw. gedanklich sind — wie dies schon Lodewijk
Meyer in seiner Spinoza-Präsentation konstatierte. 59 Aufgrund
Axiom 1 läßt sich kein einziger konkreter Modus ableiten, und es ist
dies auch nicht Spinozas Meinung gewesen, denn im Gegensatz zu den Definitionen
sind die Axiome abstrakt und universal. 60
58 Vgl. Met. X.8, 1058 a.
59 Lodewijk Meyer, Vorrede zu Principia
philosophiae cartesianae von Spinoza, G I, S. 132: "Author noster [...]
statuat [...] imo ipsam affirmandi & negandi facultatem prorsus fictitiam;
τό autem affirmare & negare nihil praeter ideas esse". Spinoza
bestätigt das später in der Ethik, vgl. II.49.
60 Vgl. dazu Gueroult 1968:I, S. 86.
Gueroult sieht den Ursprung Spinozistischer Axiome in den Cartesischen "vérités
éternelles", die "ne sont rien hors de la pensée".
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177
Die realen, ontologischen Verhältnisse sind konkreter und komplizierter;
ihre Gegensätzlichkeit ist, um der aristotelischen Terminologie weiter zu
folgen, eher konträren Charakters. Aristoteles sagte: "Bei der Kontradiktion
gibt es kein Dazwischen, bei den Konträren aber geht es an". 61
In den konträren Gegensätzen ist also die "Mitte" möglich, das
das "Dritte" zwischen +A und ‑A ausmacht (z.B. das Graue zwischen Schwarz
und Weiss).
In Anbetracht dessen, daß man seit Trendelenburg Hegel immer wieder vorgeworfen
hat, er verwandle in seiner dialektischen Kunst die kontradiktorischen Begriffe
in konträre 62, ist es interessant, daß bei Spinoza Ähnliches
geschieht, wenn man von den abstrakten Axiomen zur Lehre von den Modi übergeht.
Aber wenn dem so ist, kann man nicht mehr behaupten, daß die Individualität
der Einzeldinge aus bloßen Negationen der absolut affirmativen Substanz
bestehen würden. Das immanente Dasein Gottes in den Dingen garantiert, daß
sie auch etwas Positives, etwas "Eigenes" besitzen. Dieses "eigene" Positive
in den Einzeldingen entspricht nun ganz genau jenem "Dritten", das Hegel zwischen
Affirmation und (einfacher) Negation suchte. Im ersten und zweiten Buch der Ethik
formuliert Spinoza seine Gedanken noch nicht mit aller Deutlichkeit. Erst
am Anfang des dritten Buches präzisiert er, daß es sich um das "Streben"
(Conatus) der Dinge handelt. Spinoza führt den Begriff in Proposition III.7 ein:
Daraus folgert er: "On voit par là
que, si les définitions concernent les choses, les axiomes concernent leurs
relations [...] Par [...] leur universalité vide, leur irréalité,
les axiomes, contrairement aux définitions, ne jouent qu'un
rôle second" (ebd. S. 87).
61 Met. X.4, 1055b: "[...] antifáseôs
dè mêdén esti metaxú, tôn dè enantíôn
endéchetai".
62 Trendelenburg 1840:I, S. 31 ff.
Sogar Klaus Düsing akzeptiert im Grunde diese Kritik (S. 223).
Leider hat man Trendelenburgs Bemerkungen zu Hegel zu wenig untersucht. Die Verteidiger
Hegels haben im kantianisch-aristotelischen Standpunkt Trendelenburgs schon im
voraus eine Dialektikfeindschaft erblickt. Doch betreffen manche seiner Kritikpunkte
mehr den Idealismus Hegels als seine Dialektik. Die Logik von Aristoteles,
an die sich Trendelenburg massiv anlehnt, ist keineswegs nur formal, und solche
kantianische Argumente, wie z.B. die, daß die Figuren Hegelscher Dialektik
tatsächlich "von den Anschauungen getragen" sind (Trendelenburg 1840:I,
S. 28, vgl. auch S. 25 ff., 37,44, 59), könnten ebensogut
für eine materialistisch-realistische Interpretation der Dialektik sprechen.
Daß Trendelenburgs Kritik teilweise berechtigt ist, gibt auch Wiktor Malinin,
ein Vertreter der sowjetischen Diamat-Tradition, zu (siehe Malinin 1983,
S. 212 ff.). Auf Trendelenburg komme ich im folgenden zurück.
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178
"Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter
ipsius rei actualem essentiam" (Das Streben, wodurch ein jedes Ding in seinem
Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als das aktuale Wesen des Dinges).
Es war dies schon in der vorangegangenen Proposition III.6 vorbereitet: "Jedes
Ding, soweit es in sich ist (quantum in se est), strebt in seinem Sein zu verharren".
Spinoza bedient sich des Ausdrucks "actualis essentia" nirgendwo sonst in
seinen Texten, was die Einzigartigkeit des Wendepunkts hervorhebt, wo der Conatusbegriff
ins System eingeführt wird. Weil die Aktualität sich auf die Existenz
bezieht (vgl. Tractatus: "actualitas sive existentia", G II S. 22),
andererseits aber Existenz und Wesenheit in der modalen Welt niemals zusammenfallen
(Eth. I.24), scheint Spinoza sich bei der Definition des Conatus
offensichtlich zu widersprechen. Im Conatus eines Einzeldings sollen ja definitionsgemäß
Wesenheit und Existenz zusammenfallen. Dies ist nur dadurch zu erklären,
daß es sich um die Immanenz Gottes im Einzelding handelt, insofern es strebt,
in seinem Sein zu beharren. Denn in Gott sind Wesenheit und Existenz dieselbe
Sache (Eth. I.20), das heißt, seine Wesenheit ist durchgängig
aktual.
Die in der früheren Darstellung Spinozas gegebene kontradiktorische Entgegensetzung
von Wesenheit und Existenz hebt sich also zu Beginn des dritten Buches im Conatusbegriff
auf; dieser bildet gleichsam das "Dritte" in bezug auf diese zwei. Hier kann
das "aktuale Wesen" durchaus in Analogie zum Infinitum actu begriffen werden,
dem wir schon oben beim Spinoza-Flirt des jungen Hegel begegneten. Ganz wie dort
vom Unendlichen im Besonderen, oder genauer von der "Identität des Unendlichen
und Endlichen selbst" 63 die Rede war, so stellt auch der Conatus eine
Identität von (unendlichem) Gott und (endlichem) Modus in einem "Dritten"
dar.
Die Wende am Anfang des dritten Buches der Ethik
ist folgenschwer. Die Modi waren ja bis dahin als determinierte Entitäten
"in alio" vorgestellt. Nun aber präzisiert Spinoza die Modi, indem er den
Conatusbegriff einführt, plötzlich als "in sich" (in se) — wenigstens
in gewissem Ausmasse (quantum). Sie besitzen ein "eigenes" Dasein (suum Esse),
das als Streben zur Selbsterhaltung erscheint.
Interessanterweise nimmt Hegel keine Notiz von Spinozas Conatusbegriff, obgleich
die Einzeldinge eben dadurch nicht nur die Bestimmung des Andersseins, sondern
auch die des Insichseins erhalten, womit eben die von Hegel getadelten früheren
Einseitigkeiten in der Lehre Spinozas beseitigt
63 Hegel 1972, S. 186.
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179
werden. Hätte Hegel das bemerkt, hätte er seine
Kritik, im Spinozismus sei alles übrige neben Gott "nur Modifikation, nicht
an und für sich Seiendes", 64 zurücknehmen müssen. Hegel
nennt zwar den spinozistischen Conatusbegriff in seinen philosophiegeschichtlichen
Vorlesungen beiläufig, aber das geschieht im Zusammenhang der Affektenlehre
Spinozas (die wir heute vor allem Psychologie nennen würden). Die ontologische
Bedeutung des Conatus scheint ihm zu entgehen.
5. Selbsterhaltung und Teleologie
Spinoza hat den Conatusbegriff keineswegs auf eigene Faust
umgemünzt. Er ist vielmehr ein für das Novum neuzeitlichen Denkens
so charakteristischer Begriff, daß er, um einen gelungenen Ausdruck von
Hans Blumenberg aufzugreifen, für die Moderne eine ähnliche Bedeutung
hat wie ein Leitfossil für eine geologische Formation. 65
Der unmittelbare Bezugspunkt für diesen Begriff ist für Spinoza
zweifellos die Cartesische Physik gewesen. Der Bezug ist aber zugleich versteckt
polemisch. Macht man nämlich ernst mit dem analytisch-reduktionistischen
Programm von Descartes, so sollte ein solcher Begriff eigentlich keine Daseinsberechtigung
im Theoriegebäude der Physik haben, denn dieses Programm schrieb ja vor,
alle physikalischen Phänomene ausschließlich dem Begriff der Ausdehnung
zu subsumieren. Solche innere dynamische Qualitäten wie "Kraft" usw. müßten
dann automatisch aus der Wissenschaft verbannt werden. Der Conatus ist ein irreduzibiler
Begriff, der nicht weiter analysiert wird; Spinoza leitet ihn von nichts anderem
als von Gottes immanentem Dasein in den Einzeldingen (essentia actualis) ab.
Die Funktion des Gedankens der Selbsterhaltung bestand
in der frühen Neuzeit darin, eine Alternative zur althergebrachten aristotelischen
Telos-metaphysik zu liefern. Dieter Henrich hat dies, um die "Grundstruktur der
modernen Philosophie" offenzulegen, exemplarisch am Beispiel Hobbes' herausgearbeitet.
Hobbes konzipierte eine Anthropologie, welche "die traditionelle Lehre vom Menschen
ebenso grundlegend veränderte wie seine
64 Hegel 1984:III, S. 222.
65 Blumenberg 1976, S. 144 ff.
Diese von Ebeling besorgte Sammlung von Beiträgen "zur Diagnose der Moderne"
gehört zu den informativsten auf diesem Gebiet. In meiner Darstellung stütze
ich mich besonders auf die Studien von Henrich und Spaemann.
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180
Staatslehre die antike politische Philosophie". 66
Nach ihm ist das Wesen des Menschen die Selbsterhaltung: "Bonorum primum est
sua cuique conservatio". Je mehr der Mensch sich im Dasein behauptet, "desto
mehr besitzt er, worauf einzig er aus ist". Das Eigentümliche an dieser
conservatio sui ist, daß es für sie keinen Ziel- und Ruhepunkt gibt,
anders als bei Aristoteles, der lehrte, daß jegliches Seiende danach strebt,
die ihm eigentümliche Wesensvollkommenheit zu erreichen. Henrich hebt die
polemische Note des Hobbesschen Begriffs der Selbsterhaltung hervor: "Er opponiert
gegen die teleologische Deutung der menschlichen Natur in einem Universum, das
als Zwecksystem aufgefaßt ist". 67 Im 18. Jahrhundert entfaltete
sich die Selbsterhaltungs-Problematik dann weiter im aufklärerischen Diskurs
um solche Stichwörter wie "interêt" und "amour-propre".
Spinozas Conatusbegriff liegt also im Mainstream frühmodernen Denkens.
Der Terminus selbst — hormê - kam zwar schon bei den antiken Stoikern
vor und wurde von Cicero latinisiert (De Nat. Deor. II:22, II:47), doch hatten
die Alten damit ein Charakteristikum beseelter Wesen im Sinne. Das neuzeitliche
Streben zur Selbsterhaltung ist anders. Wie Spinoza einschärfte, ist es
allen Dingen gemeinsam; in dieser Hinsicht ist es möglich, seinen Conatus
neben den Begriff der Kraft bei Galilei und Newton zu stellen. 68
Das Entscheidende jedoch, was die neuzeitliche Selbsterhaltung
von der antiken und mittelalterlichen unterscheidet, ist seine Selbstreferentialität,
Früher sah man den Telos der erhaltenden Tätigkeit außerhalb des
Agens. Thomas Aquinas formulierte prägnant und ganz aristotelisch: "Omne
agens agit propter finem" (Summa Theol. I, qu. 44, art. 4). In
der neuzeitlichen Ontologie aber steigert sich das Sein demgegenüber solcherart
nicht zum Tätigsein; vielmehr hat "die Tätigkeit ihrerseits [...] zum
alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist", wie Robert Spaemann
schreibt. Anders als Henrich, meint Spaemann, daß das teleologische Verhältnis
dabei nicht einfach verschwindet. Nach ihm ist es besser, von einer "Inversion
der Teleologie" zu sprechen. Das Telos ist nicht mehr außerhalb, sondern
innerhalb des Agens, und die teleologische Tätigkeit wird somit selbstbezüglich. 69
66 Henrich 1976, S. 97.
67 Henrich, a.a.O., S. 99.
68 Vgl. Cremaschi 1979, S. 107 ff., besonders S. 123 ff., 157 ff.
69 Spaemann 1976, S. 80 ff.
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181
Bei Spinoza ist die Selbstbezüglichkeit des Conatus schon dadurch bedingt,
daß es sich um die Immanenz Gottes in den Modi handelt. Fällt die Teleologie
also nicht weg, sondern wird sie vielmehr selbstbezüglich, so erweist sich
das von den Althusserianern gehegte Bild vom "Antiteleologen" Spinoza als zu
vereinfachend. Die aristotelisch-scholastische Auffassung, daß "alle Dinge
in der Natur handelten, wie sie (die Menschen — V.O.) selber, um eines Zweckes
willen" (Eth. I appendix), lehnt Spinoza als "Vorurteil" natürlich
ab. Doch beweist das eben zitierte Satzfragment zugleich, daß die Menschen
selbst für Spinoza teleologisch handeln, nämlich als Zwecke setzende
und realisierende Subjekte.
Pierre Macherey will dessenungeachtet den Conatusbegriff
Spinozas gerade in dem "entsubjektivierenden" Sinne interpretieren, der für
die "Procès-sans-sujet"-Theorie der strukturalistischen Althusser-Schule
paradigmatisch ist. Diese theoretischen Voraussetzungen der Althusserianer behandle
ich eingehender in einem speziell dafür gewidmeten Essay. Hier betrachte
ich nur die Argumente Machereys für einen "subjektlosen" Conatus. Laut Macherey
räume der Spinozismus dem intentionalen Subjekt überhaupt keinen Platz
ein; ebendeshalb bilde er einen Antipoden zum Hegelianismus, wo das zwecksetzende
Subjekt die "Garantie" für die Prozesse der Dialektik sei. Die spinozistische
Selbsterhaltungstendenz sei vielmehr "absolument causale, c'est-à-dire qu'elle
exclut toute fin et toute médiation". 70 Dies folge daraus, daß
die Dinge in ihrem Streben "n'excercent en effet aucune action les uns sur les
autres"; der Conatus muß somit als außerhalb aller zeitlichen Entwicklung
befindlich gedacht werden. 71 Macherey begründet seine Deutung
damit, daß der Conatus einer singulären Wesenheit (Essenz) diese ohne
Vermittlung ("sans intermédiaire") mit der unendlichen Substanz vereinige,
die sich dadurch "ausdrücke", mit einer Determination, die zugleich endlich
wie auch unendlich ist. 72 Daraus folge, daß die "Passage" von
der Substanz zu den Modi nicht eine solche sei, die man als Potenz-Akt-Verhältnis
darstellen könne. Die Substanz sei nicht früher als seine Modi ("n'est
pas avant ses modes") und bilde kein "fondement métaphysique" zu diesen;
"elle n'est rien que l'acte de s'exprimer à la fois dans tous ses modes
[...] Il n'y a donc rien de plus, rien de moins non plus, dans la substance que
dans ses affections". 73
70 Macherey 1979, S. 245.
71 Ebd. S. 245.
72 Ebd. S. 244.
73 Ebd. S. 244 f.
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182
Einer solchen Interpretation von Spinozas Conatusbegriffs kann man nicht unwidersprochen
zustimmen, zumal sie auch das Substanz-Modi-Verhältnis unrichtig faßt
Ich will hier meine Einwände ganz kurz und thesen-haft formulieren.
Unverständlich ist, erstens, die
Behauptung Machereys, daß die Selbsterhaltungsbestrebungen der Dinge nicht
aufeinander einwirken. Spinoza stellt keine solche Behauptung auf. Er konstatiert
lediglich, wie aus dem Conatus-Postulat folgen muß, daß "kein Ding
etwas in sich hat, was es zerstören oder seine Existenz aufheben könnte"
(Eth. III.6 dem.). Dies aber schließt keineswegs die
Einwirkung anderer Dinge auf das Selbsterhaltungsstreben des betreffenden Dinges
aus. Im Gegenteil! Spinoza sagt, daß die Dinge "entweder allein oder mit
anderen Dingen" in ihrem Sein zu beharren streben (III.7 dem.). Und das gesellschaftliche
Leben basiert nach Spinoza wesentlich darauf, daß die Einzelnen ihr Selbsterhaltungsstreben
in Einklang bringen können (IV.32 — IV.37).
Zweitens, der Conatus liegt bei Spinoza nicht außerhalb
aller zeitlichen Entwicklung ("en dehors de tout développement temporel"),
wie Macherey behauptet. Spinoza sagt nur, daß der Conatus "keine endliche,
sondern eine unbestimmte Zeit" enthält ("Conatus ... nullum tempus fïnitum,
sed inde-finitum involvit"; III.8).
Drittens, entgegen Machereys Insistieren, daß die Substanz
nicht früher sei als ihre Modi, sagt Spinoza schon in der ersten Proposition
des ersten Buches der Ethik: "Substantia prior est natura suis affectionibus".
Viertens, es gibt alle Gründe, im Conatus eben eine vermittelnde
Kategorie zu sehen. Er vermittelt Substanz und Modi, er ist "essentia actualis"
und steht somit zwischen Wesenheit und Existenz.
Machereys Interpretation wird gerade insofern fragwürdig,
als er an der These festhält, daß der Conatus "toute fin et toute médiation"
ausschließe. Damit entgeht ihm die Möglichkeit eines selbstbezüglichen,
immanenten Telos. Zudem folgt aus Machereys These weiter, daß sich die Substanz
durch das Wesen der Einzeldinge unmittelbar ausdrücken muß, als ob
der Spinozismus lediglich eine Lehre von der linearen Emanation wäre. Das
ist eine flache Interpretation des Spinozistischen Prinzips, wonach Gott die
"Causa immanens" aller Dinge ist (1-18). Ohne hier auf eine ausführliche
begriffsgeschichtliche Analyse einzugehen, 74 sei bemerkt, daß
Gott als im-
74 Eine gute Darstellung findet man in Wolfson
1962:I, S. 319 ff. Die Unterscheidung von "äußeren (ektos)
und "inneren" (enyparchonta) Ursachen geht bis auf Aristoteles zurück (Met.
XII:4, 1070 b). Spinoza sagt selbst an einer — zwar frühen -
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183
manente Ursache der Einzeldinge nicht bedeutet, Gott befinde
sich in allen Dingen wie z.B. die Seele im Körper, sondern vielmehr, daß
alle Dinge in Gott sind, so wie das weniger Universale im mehr Universalen ist,
oder wie die Teile im Ganzen. 75 Ebenso klar ist es aber, daß
Spinoza nicht den Begriff der Transzendenz überhaupt aufgeben kann — und
sei dieser nur ein auxilium rationis; denn man muß Gott doch als etwas von
den geschaffenen Dingen Unterschiedenes denken können. 76
Deutet man im Gefolge Machereys die Immanenz als einfaches Insichsein, so
erhält das Verhältnis zwischen Substanz und Modi einen undialektischen
Charakter. Es kann fortan nur in den Termini von Expression oder Emanation beschrieben
werden: die Immanenz der Substanz sei nichts als "l'acte de s'exprimer à
la fois dans tous ses modes". In dieser Interpretation "fliesst" die Substanz
in die Modi über — wie in einen linearen Strom ohne Rückkoppelung zur
Quelle.
Macherey rückt hier ganz in die Nähe der "expressiven" Spinoza-Interpretation
von Gilles Deleuze. 77 Bei Deleuze steht die Expression aber im Dienst
einer "Logik der Differenz", in der die Welt diversifiziert ist sie besteht aus
expressiven Entitäten, die unvermittelt nebeneinander stehen und ein Konglomerat
bilden.
Zwar scheint es, daß Deleuze den Standpunkt einer "expressiven" Substanzlehre
besser begründet als Macherey. Er sieht nämlich das Problematische
in einer "emanativen" Lesart des Substanz-Modi-Verhältnisses sehr gut ein
und sucht der Kritik damit vorzubeugen, daß er den Unterschied
Stelle, daß er mit "inneren" und
"immanenten" Ursache dasselbe meine: "...een inblyvende of iimerlyke oorzaak
('t welk by my een is)" (Korte Verhandeling, II cap. 26, ї7: G I, S. 110).
75 Siehe Wolfson, a.a.O., S. 323.
76 Vgl. Alquié 1981, S. 159: "On
ne saurait prétendre [...] que Spinoza ait éliminé toute idée
de transcendance. Au contraire, et bien que le terme ne soit pas prononcé,
cette idée est sans cesse appelée par son discours. Dieu [...] est
un. Pouvons-nous penser son unité sans recourir à quelque transcendance?".
Ähnlich sehen die Sache auch Gueroult 1968:I, S. 300, und Wolfson,
a.a.O., S. 325 (Gott ist "transzendent" in dem Sinne, daß er "logically
distinct and more general" ist).
77 Einen anderen Anknüpfungspunkt zwischen
althusserianischer und deleuzianischer Spinoza-Lektüre findet man auch darin,
daß Macherey an einer Stelle — a.a.O., S. 195 — Spinozas Natur-Begriff
mit denen der Stoiker identifiziert, wie Deleuze ihn in seinem Logique du
sens beschrieben hatte: "La Nature comme production du divers ne peut être
qu'une somme infinie, c'est-à-dire une somme qui ne totalise pas ses propres
éléments". Wie bei Deleuze, werden die Modi auch in dieser Interpretation
ganz autonom.
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184
zwischen Emanation und Immanenz stark hervorhebt. 78
In der Emanation bleibe die Ursache außerhalb und jenseits dessen, was sie
hervorbringt, während die Ursache dann immanent ist, wenn "die Wirkung selbst
in der Ursache 'immaniert', statt daraus zu emanieren". 79 Deleuze
weist in diesem Zusammenhang auf Plotin hin, dessen Emanationslehre er missbilligt,
da das Urprinzip, das "Eine", nichts gemein habe mit den von ihm erzeugten Dingen.
Hätte Deleuze diese von ihm vorgelegten Bestimmungen
der Immanenz weiter entwickelt, wäre er unausweichlich dazu gekommen, das
Insichsein mit dem Selbstbezug zu verbinden. Überraschenderweise aber wechselt
er schon auf der nächsten Seite die Perspektive. Die Immanenz erfordere,
meint er nun, "eine Theorie des Seins, worin das Eine nur die Eigenschaft der
Substanz ist". Mit anderen Worten, die Immanenz erfordere "ein univokes Sein". 80
Nicht um ein innerliches Verhältnis vom Einen und den Vielen soll es sich
handeln, sondern das Eine verflacht zu einem Prädikat, das der Vielheit
äußerlich beigelegt wird. (In der Tat wird es von der Vielheit nur
semantisch prädiziert, denn das univoke Sein ist, wie im Deleuze-Essay schon
gesagt wurde, nichts als der jedem Einzeldinge beigelegte Sinn des Seins).
Die eigentliche, vom Standpunkt der Dialektik interessante Problematik um
das Verhältnis zwischen Emanation/ Expression und Immanenz bleibt so bei
Deleuze außer acht. Die Crux der Sache liegt ja darin, daß bei der
Emanation die logische Bewegung linear, gleichsam in eine Einbahnstrasse mündet
vom Urprinzip zu den Einzelnen, die keine Rückkopplung mehr zu der Ursache
haben, die sie hervorgebracht hat. 81 In der causa immanens ist es
umgekehrt: die Einzeldinge tragen in sich immer den Bezug zu ihrem Schöpfer,
der göttlichen Ursache. So sind sie nicht bloße Einzelne. In diesem
entscheidenden Punkt aber kann Deleuze dem Gedankengang Spinozas nicht folgen,
weil er am Programm seiner eigenen "Differenzphilosophie" haften bleibt, die
das Einzelne als ein absoluter Prius setzt So bleibt ihm nichts übrig, als
seine eigene Kritik am Emanationsbegriff zu durchkreuzen
78 Siehe Deleuze 1968a, S. 155 ff. (dt. Ü. S. 153 ff.)
79 Ebd. S. 156 (dt. Ü. S. 154).
80 Ebd. S. 157 (dt. Ü. S. 155).
81 Hegel tadelt Plotinos dafür, daß er
den "Übergang zum Zweiten" (aus dem Ersten Prinzip) "nicht philosophisch
oder dialektisch gemacht" habe, sondern lediglich das Bild des Flusses sich bedient
(Hegel 1984:II, S. 369.) Wie gerecht Hegel Plotinos schätzt,
bleibe hier unerörtert.
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185
und das allgemeine Sein nur als univok, nicht als immanent
zu setzen. Das Verhältnis vom Einen und den Vielen ist nicht innerlich,
sondern dem von materialem Zeichen und Sinn ähnlich. Es ist demnach schwer
einzusehen, worin der Vorzug dieser Lehre von der "Expressivität" der Spinozistischen
Substanz über die Emanationslehren faktisch bestehen sollte.
Scharfsinniger als die Althusserianer fand schon Nietzsche, daß Spinoza
mit dem Conatus doch wieder zu einem teleologischen Prinzip greift. 82
Und tatsächlich kann der Conatus des Menschen nicht nur eine "zwecklose"
Erhaltung dessen sein, was er "ohnehin schon ist". Dies wäre eine schlechte
Definition, denn man könnte Mensch und Tier dadurch nicht unterscheiden.
Die oben zitierte These Spaemanns muß also erweitert werden — was auch Günther
Buck tut, indem er hervorhebt, daß Selbsterhaltung "sogleich synonym mit
'Selbststeigerung'" ist. 83 "Die alte Teleologie erfährt [...]
tatsächlich eine 'Inversion'", fährt Buck fort "Die Kategorie des menschlichen
Telos kommt nicht einfach abhanden. Sie ist nur nicht mehr in der alten Weise
denkbar". 84
Obgleich Buck sich in seiner Darstellung meist auf Texte von Hobbes stützt,
läßt sich die neuartige, selbstbezügliche Teleologie auf klassische
Weise anhand Spinozistischer Formulierungen demonstrieren. Ich komme am Ende
dieses Aufsatzes darauf zurück. Hier sei nur angedeutet, wie die Ethik
gegen Ende des Werks, besonders im fünften Buch, von "selbstbezüglichen"
Begriffen, die auf den im III. Buch eingeführten Conatus Bezug nehmen, geradezu
schwanger wird. Beispiel: Der Conatus bildet für Spinoza die Grundlage der
Tugend (Eth. IV.22), die Tugend wiederum hat ihr Telos nicht
außerhalb ihrer, sondern sie bezieht sich auf sich selbst, da sie ihr eigener
Lohn ist (V.42). Weiter: die höchste Form des Conatus ist die intellektuale
Liebe zu Gott; aber auch diese hat ein selbstbezügliches Telos, denn sie
ist ein Teil derselben Liebe, womit Gott sich selbst liebt (V.36). Sollte man
sich also nur damit begnügen, Liebe und Tugend, die den eigentlichen Nexus
zwischen Mensch und Gott herstellen, nur als "expressive Akte" zu deuten, so
würde man ihren wesentlichen Charakter vermissen.
Der Conatus ist für Spinoza die Grundlage des
Subjektseins. Der Mensch ist sich seines Strebens bewußt, und dies ist dann
Begierde, oder "ipsa ho-
82 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse,
Gesammelte Werke, Musarionsausgabe, Bd. XV, S. 20; hier zitiert nach Spaemann
1976, S. 81, 93.
83 Buck 1976, S. 216 f. Original-Kursiv weggelassen.
84 Buck, a.a.O., S. 217.
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186
minis essentia" (III. Aff. def. 1). Die Begierde, überhaupt
zu leben und zu handeln, ist die Voraussetzung des guten Lebens und guten Handelns
(IV.21), und keine Tugend ist denkbar ohne dieses vorausgeschickte Selbsterhaltungsstreben
(IV.22). Die evolutionsgeschichtlich "niederen" Conatus-formen bilden für
Spinoza die Voraussetzung des menschlichen Subjektseins, und dieser Gang verhält
sich gegenläufig zu dem Hegels, für den die Subjektivität ein
schon von Anfang an — wenn auch nur implicite — vorhandenes geistiges Prinzip
ist. Beiden Philosophen aber ist gemeinsam, daß sie die Subjektivität
als eine selbstbezügliche Relation denken.
6. Der Nexus von Negativität und Subjektivität bei
Hegel
Neben der Selbstbezüglichkeit als Prinzip der nicht-formalen
Logik kann man im Herzstück der dialektischen Methode Hegels, in der Negation
der Negation, noch einen zweiten Aspekt unterscheiden: die angebliche Substanüalität
(Suisuffizienz) des Negativen. In der Philosophie Spinozas ist der Selbstbezug,
wie wir sahen, deutlich vorhanden. Ihm fehlt eben nur der zweite Aspekt, die
Substantialität des Negativen. Sehen wir, wie es damit bei Hegel steht.
Hegel hatte Negation der Negation und Subjektivität so unzertrennbar
verbunden, daß die eine bei ihm immer die andere impliziert Es ist nicht
nötig, das von der Forschung gut Belegte 85 hier noch einmal zu
wiederholen. Nur soviel sei gesagt Das Subjekt ist etwas Anderes als alle seine
möglichen Objekte (wie auch schon Kants "Ich" als transzendentale Apperzeption).
Die Tätigkeit des Hegelschen Subjekts ist Sich-Unterscheiden, Trennen, Entgegensetzung.
Auf diese Weise schöpft es seine Energie aus der "ungeheuren Macht des Negativen". 86
Aus philosophiegeschichtlicher Perspektive gesehen
ist diese Tätigkeit eine raffinierte, auf die Begriffswelt der nachkantischen
Transzendentalphilosophie gepfropfte Weiterführung der Cartesischen Dubito-Operation.
Das Ich, das Subjekt ist rein für sich betrachtet eine leere Form. Es konstituiert
sich durch Verneinung der Außenwelt. Bei Descartes war der Zweifel nur provisorisch,
nur eine vorläufige Operation, ein augenblicklicher Seilgang über den
Abgrund des Nichts hinweg, bis man auf der anderen Seite
85 Vgl. zu diesem Themenkreis vor allem Henrich
1978; Düsing 1984; Kessel ring 1984, bes. S. 140 ff.; Kesselring 1992.
86 Hegel 1969:3, S. 36.
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187
der Kluft wieder festen Grund faßte. Zudem war der
Grund doppelt gesichert: erstens ist das "Ich denke" das Allerevidenteste, und
zweitens kann Gott nicht betrügen. Demgegenüber findet bei Hegel der
Geist nicht so leicht wieder festen Grund. Er muß eine lange Wallfahrt durch
die Landschaft des Nihilismus machen.
Descartes gab gegen Ende seiner Meditationen zu, daß der Inhalt der Ideen
doch irgendwo hergeholt werden müsse, und nahm damit unvermittelt wieder
das Dasein äußerer Dinge an (was im Denken "objective" ist, muß
laut ihm auch "formaliter" oder "eminenter" dasein). Hegel konnte nicht mehr
so naiv philosophieren. Kants Kritik hatte hier Bleibendes geleistet. Kant nahm
zwar mit der transzendentalen Apperzeption die Cartesische Fragestellung wieder
auf, vertiefte sie aber zugleich so, daß er die letzte Spur einer materiellen
Substanz hinwegfegte, die Descartes noch in der "esse objectiva" der Dinge in
der Seele (vornehmlich in der Idee Gottes) zu entdecken glaubte.
Die Kantsche Kritik an den Paralogismen der "rationalen Psychologie" (KdrV
B 399 ff.) hatte zum Resultat, daß das Ich aller Gegenständlichkeit
entkleidet wurde. Als Seelentätigkeit war das Ich völlig immateriell.
Aus der gegenständlichen Welt wurde etwas "ganz Anderes" im Verhältnis
zum Ich. So ist schon der Ausgangspunkt der Philosophie Hegels, die Kants "kopernikanische
Wende" keineswegs ablehnt, anders konzipiert als der Spinozismus, der nicht vom
Subjekt, sondern von der Substanz ausgeht
Nach dem philosophischen Programm Hegels sollte die Form, die zugleich Subjektivität
ist, ihren eigenen Inhalt, nämlich die Substanz setzen. Wie wäre das
möglich, wenn das Prinzip der reinen Subjektivität nur eine leere,
von allem Inhalt abstrahierte Form ist? Hegels Lösung lief darauf hinaus,
diese Form als eine selbstbezügliche zu denken — so wird aus ihr eine abstrakte
Leerheit, die von sich selbst abstrahiert und so die Abstraktion aufhebt. Dies
lieferte das Grundmuster für die Prozedur der Negation der Negation. Von
da her war es nicht mehr notwendig, die Subjektivität als eine von ihrer
unabhängigen Materie abstrahierte Form zu denken. Sie wird suisuffizient.
So ein glücklicher Volltreffer die Formulierung des Prinzips der doppelten
Negation anfänglich zu sein schien, so zeigte sich doch im weiteren Verlauf
ihrer systematischen Darstellung, daß der Hegelsche Begriff des Negativen
seine Tücken hat Wenn er nämlich als ein Vehikel der Selbstbewegung
des Geistes dienen soll, muß er irgendwie substantiell sein. Dies gibt Hegel
kaum nirgends explizit zu, ringt aber überall mit dem Problem.
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188
Schon die in der Kritik an Jacobi belegte frühe Spinoza-Rezeption war
zugleich eine Auseinandersetzung mit der Nihilismusproblematik, woraus Hegel
die Konsequenz zog, daß "eine jede künftige Philosophie in der Konfrontation
mit dem Nichts ihr Wesen neu bestimmen muss". 87 Für die Frühphase
Hegels ist kennzeichnend, daß er die "negative Seite des Geistes überhaupt"
hervorhebt. 88
In der Realphilosophie von 1805/1806 ist der Begriff der Negativität
schon unzertrennlich mit der Frage nach dem Wesen des Selbstbewußtseins
verbunden, und so bleibt es bis Hegels Lebensende. Die Realphilosophie ist,
wie Klaus Düsing bemerkt, der dritte und letzte Umbruch in Hegels Denken,
der nach den alternativen jugendlichen Entwürfen endlich in eine Subjektivitätsphilosophie
mündete. 89 Und wir fügen dem noch hinzu: Hegels Subjektbegriff
hat niemals den Boden Cartesischer Fragestellungen verlassen. Das wird nicht
nur daraus ersichtlich, daß an dem Prinzip der Willensfreiheit festgehalten
wird; noch entscheidender ist, daß die Hegelsche Substanz-Subjekt-Vermittlungsproblematik
überhaupt eine cartesianisch konzipierte autonome Egoität zur Voraussetzung
hat. Die Tätigkeit des Subjekts besteht bei Hegel aus Negativität,
eben weil es unermüdlich eine reale Distinktion zwischen sich und der Welt
schafft.
Als reines Ich mangelt der Subjektivität alle
Materie; also eilt die Dialektik zu Hilfe, um den nötigen Stoff herbeizuschaffen
und für Vermittlungen zu sorgen. In den programmatischen Intentionen von
Hegels Dialektik lassen sich also mindestens drei Schwerpunkte unterscheiden.
Erstens ist sie Logik der Selbstbeziehung. Aber zweitens thematisiert sie diese
Logik anhand eines besonderen Falles der Selbstbezüglichkeit, nämlich
der Subjektivität. Und drittens, wird diese Subjektivität idealistisch
gedeutet; sie ist im Grunde immateriell. Selbstverständlich muß eine
solche "cartesianisierende" Subjektivität, aus der zugleich das Prinzip
der Logik geworden ist, seine Negativität wieder rückgängig machen,
um die aus der Realdistinktion entspringenden Probleme beseitigen zu können.
Anders wäre eine Deduktion nicht möglich.
In der Realphilosophie Hegels zeigt sich diese Notwendigkeit,
die Entzweiungen aufzuheben, besonders deutlich in den vielen forcierten "Versöhnungen".
Aus den unzähligen Beispielen können wir zur Illustration den Zusatz
zu ї 7 der Rechtsphilosophie heranziehen. Hegel schreibt hier:
87 So Bonsiepen 1971, S. 45.
88 Bonsiepen, a.a.O., S. 109.
89 Düsing 1984, S. 186.
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189
"Ich ist zuvörderst als solches reine Tätigkeit, das Allgemeine,
das bei sich ist; aber dieses Allgemeine bestimmt sich, und insofern ist es nicht
mehr bei sich, sondern setzt sich als ein Anderes und hört auf, das Allgemeine
zu sein. Das Dritte ist nun, daß es in seiner Beschränkung, in diesem
Anderen bei sich selbst sei, daß, indem es sich bestimmt, es dennoch bei
sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten: dieses ist dann
der konkrete Begriff der Freiheit". 90
Schon aus diesem kurzen Zitat geht in beispielhafter Weise hervor, wie Hegel
seine Methode anwendet. Erst liegt eine Affirmation vor: Ich als reine Tätigkeit
(hier erkennt man wieder die transzendentale Apperzeption Kants). Dann die Negation:
das Ich setzt sich als ein Anderes und ist nicht mehr das Allgemeine. Drittens
die Negation der Negation: das Ich ist zugleich im Anderen und ist das Allgemeine.
Wesentlich diese Triplizität macht die Verfahrensweise aus, mit der Hegel
den realphilosophischen Stoff zu bewältigen sucht. Es ist ohne Zweifel Vittorio
Hösle darin zuzustimmen, daß zwischen Hegels Logik und Realphilosophie
kein durchgängiges Entsprechungsverhältnis besteht, 91 doch
bleibt die triplizite Grundstruktur in beiden ähnlich.
7. Exkurs: Dialektik der Lichtmetapher
Wie diese dialektischen Figuren funktionieren, sieht man
leichter ein, wenn ihre Bewegung anhand eines besonderen realphilosophischen
Stoffes betrachtet werden. Um ein verhältnismäßig wenig erforschtes
Gebiet zu wählen, nehme ich die Ästhetik, und darin insbesondere die
Lichtmetapher, denn hier lassen sich auch einige — obwohl ziemlich
oberflächliche — Anknüpfungspunkte an Spinoza aufzeigen.
Es handelt sich um eine Metapher, die die Erkenntnis oder den Geist mit dem
Licht vergleicht Hegel macht von ihr auch in anderen Teilen der Realphilosophie
Gebrauch, z.B. in der Philosophie der Religion (Parsismus als "Religion des Lichts").
Letzten Endes geht diese Metapher auf die antike, vor allem (neu)platonische
Tradition zurück. Bekanntlich betrachtete Plotinos die Erkenntnis als eine
Analogie zum Licht, wie die Griechen überhaupt Erkenntnistätigkeit
gern mit den Verben des Sehens beschrieben. Hier bin ich an dem Hegelschen Gebrauch
dieser Metapher aber nicht vordergründig
90 Hegel 1972b, S. 31.
91 Hösle 1988:I, S. XIII.
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190
aus philosophiegeschichtlichen Gründen interessiert,
sondern weil Hegel dabei die Grenzen zwischen der eigentlichen Logik und den
Regeln der Sinnlichkeit gleichsam verwischt. Es wird sich weiter unten zeigen,
wie eine derartige Symbiose von reiner Logik und Aisthesis (Anschauung) für
die Hegelsche Dialektik konstitutiv ist
In der Ästhetik Hegels treffen wir nun eine Stelle, die sich als
eine direkte Anwendung der Lichtmetapher auf den Gegenstandsbereich der Kunst
darbietet Anfangs verweist Hegel auf die Verbindung des Lichts mit der Subjektivität
Das Prinzip des Lichts sei — und hier scheint Hegel mit diesbezüglichen
Postulaten der Naturphilosophie Schellings übereinzustimmen — das Entgegengesetzte
der schweren Materie; so sei das Licht "die reine Identität mit sich und
damit die reine Beziehung auf sich". Weil nun die Selbstbeziehung ein Kennzeichen
des Subjektiven ist, meint Hegel in dem Licht eine Keimform der Subjektivität
in der Natur zu finden. Das Licht sei "die erste Idealität, das erste Selbst
der Natur" und somit "das allgemeine physikalische Ich". 92
In der Natur allerdings erscheint das Licht nur als das Manifeste, das Sichtbarmachende
überhaupt Der besondere Inhalt dessen, was das Licht offenbart, erfordert
ein ihm entgegengesetztes Prinzip, "das Andere desselben", und dies ist das Dunkle.
Das Licht gibt die Gegenstände in ihren Unterschieden dadurch zu erkennen,
daß es sie bescheint, also "ihre Dunkelheit und Unsichtbarkeit mehr oder
weniger aufhellt". In diesem Verhältnis zur Gegenständlichkeit, wo
das Helle und das Dunkle nicht mehr rein für sich auftreten, "bringt das
Licht nicht mehr das Licht als solches, sondern das in sich selbst schon partikularisierte
Helle und Dunkle, Licht und Schatten hervor, deren mannigfaltige Figurationen
die Gestalt und Entfernung der Objekte voneinander und vom Beschauer kenntlich
machen". Eben dies sei das allgemeine Prinzip der Malerei. 93
Man sieht leicht ein, daß hier ein konkreter Anwendungsfall eines allgemeinen
Grundsatzes der Hegelschen Logik vorliegt: die anfangs für sich genommenen
Entgegengesetzten — hier also das Helle und das Dunkle — müssen in einem
"Dritten" aufgehoben werden, und zwar nicht durch einfaches Subsumieren der Entgegengesetzen
unter einen gemeinsamen Nenner, sondern vermittelt durch das Andere in einer
Aufsichbezogenheit. Das Licht bezieht sich auf das ihm Andere, auf das Dunkle,
und somit bezieht es sich auf sich selbst; eben dieses Auf-sich-Beziehen der
Entgegengesetzten ergibt
92 Hegel 1976:II, S. 185.
93 Ebd. S. 185 f.
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191
als Resultat nicht die mechanische Summe oder das Assortiment
von Eigenschaften beider, sondern das Mannigfaltige wird, wie schon in der transzendentalen
Apperzeption Kants, synthetisch in eine neue Qualität verknüpft. Im
Falle von Licht und Dunkel bildet sich ein "Ineinander" von beiden, woraus (so
mindestens glaubt Hegel) die Farbe entsteht Das "Dritte" soll also darin bestehen,
daß A "in" B und B "in" A ist, in ihrem gegenseitigen "Ineinander". Und
wenn wir uns daran erinnern, daß B Nicht‑A und A wiederum Nicht‑B
darstellt, wird verständlich, warum das dialektische Dritte die Negation
in sich aufnehmen muß.
Hegel hat aber für die Lichtmetapher weitaus
vielseitigere Anwendungen. An einer anderen Stelle der Ästhetik,
wo Hegel die romantische Kunst behandelt, formuliert er seine Gedanken über
die Dialektik des Lichts bestimmter. Bei den Skulpturen der klassischen Kunst
fällt das Licht der Seele noch außerhalb ihrer selbst und gehört
dem Zuschauer an, "der den Gestalten nicht Seele in Seele, Auge in Auge zu blicken
vermag". Anders in der romantischen Kunst: hier ist die Subjektivität "das
geistige Licht, das in sich selbst, in seinen vorher dunkeln Ort scheint" und
sich damit vom natürlichen Licht unterscheidet, das nur "an einem Gegenstand
leuchten kann". 94
Der nach innen gewendete Blick der romantischen
Weltanschauung, der den Griechen noch fehlte, leistet nach Hegel den Übergang
zur Negation der Negation, indem er dem Negativen — z.B. dem Tode — wieder eine
affirmative Bedeutung zuteilen kann. Für die romantische Kunst sei der Tod
"nur ein Ersterben der natürlichen Seele und endlichen Subjektivität,
ein Ersterben, das sich nur gegen das in sich selbst Negative negativ verhält,
das Nichtige aufhebt und dadurch die Befreiung des Geistes von seiner Endlichkeit
und Entzweiung sowie die geistige Versöhnung des Subjekts mit dem Absoluten
vermittelt". Es ist die romantische Weltanschauung, die sich hiermit bis zum
Standpunkt der "Negation des Negativen" erhoben hat. 95
Die Lichtmetapher ist somit in der Hegelschen Philosophie
mit vielen Assoziationen geladen. Ich sprach schon früher davon, wie Hegel
in der Wissenschaft der Logik darauf insistierte, daß "im reinen
Licht ebensowenig gesehen wird als in der reinen Finsternis". Das Beispiel mag,
wie ich sagte,
94 Hegel 1976:I, S. 502.
95 Ebd. S. 503 f. In diesem Zusammenhang
kann man davon absehen, daß Hegel nicht scharf genug zwischen der mittelalterlichen
Kunst und der Romantik des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Zu bemerken ist jedoch,
daß nach Hegel der klassischen Antike das Prinzip der Negation der Negation
wesensfremd gewesen ist.
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192
in dieser Form auf Aristoteles zurückgehen (vgl. Fußnote
48), doch gehört das Gleichnis von Licht und Finsternis zum philosophischen
Allgemeingut. Schon Platon wandte dazugehörige Bilder an: die erkennende
Seele könne nicht unvorbereitet das reine, helle Licht des Wissens anschauen,
sondern werde verblendet, ganz wie die körperlichen Augen nicht imstande
sind, die Sonne direkt zu betrachten (vgl. Legg. X 897 d; Rep.
VII 518 a u.ff.). 96
Wenn Hegel nun die Möglichkeit des Sehens im
reinen Licht bestreitet, kommt man fast ungezwungen dazu, sich an den berühmten
Satz von Spinoza zu erinnern: "Sane sicut lux seipsam & tenebras manifestat,
sic et veritas norma sui et falsi est" (Wahrlich, wie das Licht sich selbst und
die Finsternis offenbart, so ist die Wahrheit das Richtmaß seiner selbst
und der Falschheit; Eth. II.43 schol.). Wie schon die antike
philosophische Tradition, stellt auch Spinoza hier das Licht mit der Wahrheit
gleich; das Falsche ist nichts Eigenständiges, sondern stellt lediglich
eine Negation (oder besser: Privation) der Wahrheit dar, ebenso wie die Finsternis
nur Privation des Lichts ist
In diesem Satz Spinozas ist das Credo des Rationalismus des 17. Jahrhunderts
ausgesprochen. Auch wenn Hegel dies nirgends expliziert formuliert, stehen seine
dialektischen Lichtmetaphern in stillschweigend polemischem Verhältnis zum
Erkenntnisanspruch des frühen neuzeitlichen Rationalismus (die Ratio als
"reines Licht"). Indem Hegel die Perspektiven einer reinen "rationis lux" in
Frage stellt, steht dies in Einklang mit seinem allgemeinen Programm, nämlich
mit der Überwindung bisheriger Rationalität und ihrer dialektischen
Umgestaltung.
Zum Programm gehörte auch eine Revision der bisherigen rationalistisch-aufklärerischen
Religionskritik. Hegel tadelt den "abstrakten Ver-
96 Der russische Philosoph Alexej Losew — ein
hervorragender Kenner der antiken Ästhetik — ist der Ansicht, Platon gelange
damit "in eine Dialektik des Lichts, nach der das unendlich starke Licht gleich
ist der unendlich starken Finsternis", da in einem unendlich starken
Licht ja alle Unterschiede verschwinden (vgl. Losev 1974, S. 242).
Diese Licht-Finsternis-Dialektik wird später zum integralen Bestandteil
des Neuplatonismus. So meint Plotin, daß in dem "wahren Licht" keine "Formen
der Figuren" zu unterscheiden sind, und falls man mit unvorbereiteten Augen den
"großen Glanz" anschaut, wird man überhaupt nichts sehen (Enn.
I:6). — Diese Plotinsche Metapher zeigt uns nun, warum die Anschauung für
uns Menschen, die wir ja endliche Wesen sind, immer konkret-sinnlich sein muß.
Die Forderung der nachkantischen Transzendentalphilosophie nach einer "intellektuellen
Anschauung" auch für den Menschen gleicht in ihrer Hybris tatsächlich
der Forderung, der Mensch könne und müsse "den großen Glanz" direkt
anschauen.
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193
stand", der gegen die Vorstellungen der Erbsünde, der
Dreieinigkeit usf. loszieht, ohne einzusehen, daß auch in den religiösen
Vorstellungen etwas Allgemeines anerkannt wird. In den religiösen Vorstellungen
schimmert die Idee Gottes gleichsam in der Nacht des Sinnlichen durch, und somit
ähneln sie der Einheit von Hellem und Dunklem in Goethes Farbenlehre. 97
Hegels Einstellung, die überall auf "Versöhnungen" zielt, steht
schon von ihrem Ansatz her gesehen im Widerspruch zu dem radikal "einseitigen"
Erkenntnisanspruch des klassischen Rationalismus. Die "Einseitigkeit" des Rationalismus
will Hegel, wie ich gleich unten ausführlicher zeigen werde, dadurch überwinden,
daß er seine dialektischen Figuren von der Anschauung tragen läßt.
Wesentlich ist, daß eine mit dem anschaulichen "Stoff vermengte Ratio nicht
mehr rein sein kann. Daher ist es wohl kein Zufall, daß Hegel in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie das berühmte
Dictum Spinozas in Eth. II.43 schol., negligiert, obgleich
Spinoza eben darin auf der Selbstbezüglichkeit der (wahren) Idee in einer
Weise insistierte, die dem dialektischen Standpunkt nicht fremd ist.
Natürlich wollte Hegel den Anspruch der Ratio nicht schlechthin abweisen,
sondern nur die Form, die dieser Anspruch im vorkantischen Rationalismus und
in der Aufklärungsphilosophie erhalten hatte, neu bestimmen. Und hier zeigt
es sich, daß in seiner Kritik am Spinozismus die Bemühungen, sowohl
den Begriff der Ratio als auch den der Negation nach dem Programm einer idealistischen
Dialektik neu zu formulieren, eng miteinander verflochten sind. Ich habe schon
oben die Ausführungen Hegels am Beginn der "Großen Logik" zitiert,
die besagen, daß die Finsternis, Kälte usf. als Abwesenheit des Lichts
oder der Wärme in der Tat "bestimmte Negationen" sind, nicht "das Nichts
überhaupt" sondern das Nichts vom Licht usf. Sie sind somit "bestimmte,
inhaltige Nichts" (vgl. Fußnote 48). Trotz seines Prinzips "Omnis determinatio
negatio", das laut Hegel von "unendlicher Wichtigkeit" ist, bleibe Spinoza in
den Bestimmungen des Verstandes, was ihm den Weg zur eigentlichen Dialektik versperrt.
Ist die Spinozistische Negation also abstrakt und
verstandesmäßig, unfähig, die Gegensätze zu vermitteln und
sie zum "Ineinander" zu bringen, so muß dieselbe Kritik auch die Spinozistische
Gleichsetzung der Wahrheit mit dem reinen Licht treffen, denn damit erscheinen
Unwahrheit bzw. Finsternis nur als ihre einfachen Negationen, krass gegenüberstehend
- also kontradiktorisch -, ohne Vermittlung, ohne "das Dritte". Und wenn die Ra-
97 Hegel 1969:16, S. 152-155 (Abschnitt
"Die Dialektik der Vorstellung").
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194
tio nach Spinoza "das Licht der Seele" ist, 98
kann sie sich das Dunkle nicht aneignen oder verarbeiten, sondern es nur als
sein Anderes beiseite schieben. Ungefähr so ließe sich Hegels Kritik
deuten. Spinozas rationalistische Erkenntnistheorie leide also an demselben Mangel
wie seine Ontologie — der unstatthaften Verabsolutierung der Positivität.
8. Denken als Stoffseiner selbst
Bei den konkreten realphilosophischen Illustrationen zur
Anwendung der dialektischen Methode Hegels fallt ins Auge, daß das, was
beim Setzen der ersten Negation zu verschwinden schien, in der Phase der Negation
der Negation wieder auftaucht. So wird z.B. das Licht negiert, es wird zur Finsternis,
aber dann kommt es, modifiziert in der Farbe, wieder zurück. Das kann schwerlich
anders gedeutet werden, als daß es auch in der Phase der ersten Negation
irgendwie anwesend ist Es ist dort nur provisorisch beiseite gesetzt und versteckt.
Wo?
Der alte Trendelenburg scheint das Richtige geahnt zu haben, als er an Hegel
kritisierte, daß die Figuren der Dialektik "von den Anschauungen getragen"
sind. Dies sahen wir schon am Beispiel der vielen Anwendungen der Lichtmetapher,
und es ist dies übrigens auch auf weite Strecken in Hegels Realphilosophie
ganz offensichtlich: Wenn z.B. im Abschnitt über die Mechanik die Begriffe
Druck und Stoss, Fall, Gravitation usf. "dialektisch" aus Denkbestimmungen abgeleitet
werden, so geschieht dies in der Tat stillschweigend mit Hilfe einer Vorstellung,
die die räumliche Bewegung unterschiebt." Oder wenn Hegel zu Beginn der
Logik das "Werden" aus dem Sein und Nichts ableitet, so ist das ganze Verfahren
nach Trendelenburg bloß scheinbar: Sein und Nichts drücken beide nur
Ruhe aus, und davon
98 "Quomodo autem praecise ratione veritatis intelligenda
sint, rationi determinandum relinquit, quae revera mentis lux est, sine qua nihil
videt praeter insomnia, & figmenta" usw.; Tract. Theol.-pol., cap. XV (G
III, S. 184). — Die Analogie zwischen dem Licht und der Ratio ist auch auf
den Spinozistischen Begriff des intellectus infinitus ausdehnbar. Schon Descartes
insistierte darauf, daß die Seele "immer denke", ganz wie Licht immer
scheine, auch wenn keine Augen gibt, die dies sehen würden (vgl. das Motto
zu diesem Essay). Es muß also einen Ort der Ratio außerhalb des endlichen
Subjekts geben — einen unendlichen Intellekt, der garantiert, daß das Denken
nicht unterbrochen wird, ganz wie wie die Sonne ununterbrochen leuchtet, obgleich
es auf der Erde immer wieder Nacht gibt.
99 Trendelenburg 1840:I. S. 29. Vgl. auch Fussnote 61.
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195
kann "nimmermehr die in sich bewegliche, immer lebendige
Anschauung des Werdens" entstehen — ginge nicht die Vorstellung des Werdens schon
voraus. 100 Man könnte also Trendelenburgs Kritik an Hegel in
nuce dahingehend zusammenfassen, daß er die Logik und die "Ästhetik"
(im Kantschen Sinne, also die Wissenschaft von der Sinnlichkeit) auf eine unstatthafte
Weise vermengt.
Auch andere Autoren haben neben Trendelenburg auf dieselbe Eigentümlichkeit
Hegelscher Dialektik ihr Augenmerk gelenkt. So stellte, was besonders die Negation
betrifft, Ludwig Feuerbach fast gleichzeitig (1839) mit Trendelenburg fest, daß
das Nichts bei Hegel praktisch zu einem "Quasi-Stoff" wird. 101 Nach
Feuerbach ist es unmöglich, das Nichts als Nichts zu denken, weil das Denken
selbst eine affirmative Tätigkeit ist. Sowie das Nichts Gegenstand des Denkens
wird, erhält es eine Gegenständlichkeit, wenn auch nur eine gedachte.
Ähnliches ist auch in der neueren Forschungsliteratur beobachtet worden.
So spricht z.B. Michael Wolff in seiner Hegel-Studie vom Vorhandensein eines
"reflexionslogischen Substrats" bei Hegel: wenn A affirmiert (+A) und dann negiert
wird (-A), setzt der Vorgang ein bleibendes Substrat /A/ voraus 102
- ein Substrat, das auch das Negative "trägt".
Es liegt hier in der Tat das Geheimnis der Hegelschen Negativität. Sie
ist ein Moment des Geistes. Als eine solche erhält sie somit Denkgegenständlichkeit
und ist nicht mehr reine Negativität, bloß Leeres. 1st der Geist substantiell,
wie Hegel meint, muß auch das gedachte Nichts Substantialität erhalten.
Von Trendelenburgs Kritik muß jedoch gesagt werden, daß sie, obgleich
sie vom realistischen oder materialistischen Standpunkt berechtigt ist, oberflächlich
bleibt. Hegel selbst ist sich natürlich der Rolle der Anschauung, die seine
dialektischen Logik-Figuren trägt, bewußt gewesen. Hegel bedient sich
dabei aber nicht, wie Trendelenburg vermutet, eines kantianischen Anschauungs-Begriffs.
Auch in seiner reifen Periode knüpft er an die transzendentalphilosophische
Überwindung Kants an. Hier ist Hegels Auf-
100 Ebd. S. 25.
101 Feuerbach 1981:IX, S. 55.
102 Wolff 1981, S. 113 ff. — Wolff
bemerkt, daß er mit seinem Begriff "reflexions-logisches Substrat" nicht
einen Gegenstand, sondern eine "Gegenstandsbestimmtheit" habe andeuten wollen
(a.a.O.). Eben in bezug auf Hegel ist aber dieser Unterschied nicht wesentlich,
weil Hegel ein objektiver Idealist war und die ideellen Bestimmungen bei ihm
den Status der Realität erhalten.
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196
fassung seit der Jenaer Periode nicht wesentlich verändert
worden. 103 Am Ende der Wissenschaft der Logik sagt er, daß
der Anfang der (dialektischen) Logik "nicht ein Unmittelbares der sinnlichen
Anschauung oder der Vorstellung (ist), sondern des Denkens,
das man wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches
Anschauen nennen kann". 104
Mit anderen Worten, die Anschauung, die das "Substrat" der Hegelschen Logik
bildet, ist eine intellektuelle Anschauung im Sinne Schellings, keine
sinnliche à la Kant. Hegel ist in dieser Frage dem Ansatz seiner Jugendschriften
treu geblieben. Die Standpunktveränderung betrifft eher die Rolle Spinozas.
Hatte Hegel damals gedacht, auch die Spinozistische Substanz sei Anschauung (vgl.
Fußnote 25), distanziert der reife Hegel sich vom einstigen Verbündeten,
dessen Lehre sich doch als zu bedenklich erwies.
Eben dank der intellektuellen Anschauung soll die Subjekt-Objekt-Spaltung
überwunden werden: es ist dies ein Wissen, das seine Gegenstände selbst
erzeugt, ein Produzieren seiner selbst — eine selbstbezügliche Tätigkeit
also. Noch Kant war der Meinung gewesen, eine derartige Intuition komme nur dem
Gott zu, weil nur er eine Anschauung des Ganzen als solches (des Synthetisch-Allgemeinen)
besitze; die menschliche sinnliche Anschauung betreffe demgegenüber immer
das Besondere.
Hegel ist in dieser Sache aber auf eine interessante
Weise inkonsequent Einerseits lobt er Schelling, daß dieser Kant überwunden
und mit seiner intellektuellen Anschauung ein "Drittes" gesetzt hat, worin die
Gegensätze im Ich aufgehoben sind. Dieses von Schelling gefundene Dritte
sei nach Hegel besonders hevorzuheben: es ist "die absolute Vereinigung der Widersprüche".
Hegel würdigt also in Schelling den Mann, der den Boden für die Grundideen
seiner eigenen Dialektik bereitet hat. 105 Aber den anerkennenden Worten
folgt flugs die scharfe Ablehnung: Schellings intellektuelle Anschauung weise
ihn lediglich als ein "Genie des Sonntagskindes" 106 aus; sie sei zum
Erkenntnisprinzip ungeeignet, da sie den Begriff -"das konkrete, in sich unendliche
Denken" — herabsetzt. 107 Das Mangelhafte an der Philosophie Schellings
ist, daß der "Punkt der Indifferenz des Sub-
103 Dies ist in der Forschung hinlänglich bekannt.
Vgl. z.B. Kesselring 1984, S. 44 ff.
104 Hegel 1969:6, S. 553.
105 Hegel 1984:III, a.a.O., S. 441.
106 Ebd. S. 438.
107 Ebd. S. 441.
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197
jektiven und Objektiven vom hingestellt" wird 108
(er ist also nicht das Resultat langandauernder "Anstrengungen des Begriffs",
wie bei Hegel). So bleibt das Appellieren an die intellektuelle Anschauung nur
eine "bequeme Manier" und ihre Domäne ist eigentlich die Kunst, nicht die
Wissenschaft. 109
Kurz, der intellektuellen Anschauung Schellings fehlt es an Logik. 110
Hegel tadelt Schelling dafür, daß dessen Indifferenz ("A = A")
"nicht die Dialektik [...] sondern die intellektuelle Anschauung zu ihrer Bewährung"
habe. 111
Mit dem letzten Satz aber kommt die Inkonsequenz im Räsonnement Hegels
endlich zum Vorschein. Falls die Anschauung — auch wenn sie intellektuell wäre
- nicht den dialektischen Figuren gerecht werden kann, folgt daraus natürlich,
daß die Strukturen der Dialektik trotz allem von denen der Anschauung zu
trennen sind, das heißt, die Wissenschaft vom Denken und die Wissenschaft
von der Sinnlichkeit erweisen sich als zwei verschiedene Sachen. Man kann sie
nicht auf einander reduzieren. Mit anderen Worten: der Anspruch einer "intellektuellen
Anschauung", den Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand aufzuheben, versagt,
und es wird mit einem Schlage die alte Unterscheidung Kants zwischen Denken und
Anschauung wieder eingeführt. Hatte Kant doch insistiert, daß diese
beiden Vermögen "zwei Grundquellen des Gemüths" bilden, die "ihre Functionen
nicht vertauschen" können (KdrV B 74, 75). Denken kann nicht anschauen,
Anschauung nicht denken. Eben deshalb machte Kant eine scharfe Unterscheidung
zwischen Ästhetik (d.h. zwischen der Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit)
und Logik (als der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt).
Die Hervorhebung der Rolle des Begriffs, die Hegel
aus polemischen Gründen gegen Schelling geltend macht, steht also in Widerspruch
zur Aufgabe, die Hegel andernorts der Anschauung erteilt, nämlich Ausgangspunkt
und "Substrat" der Logik zu sein. Soll der Begriff gelten, muß die intellektuelle
Anschauung weichen, und vice versa. Durch das Festhalten an
108 Ebd. S. 443.
109 Ebd. S. 438, 442.
110 Ebd. S. 444: "Die wahre Durchführung
[der Natur zum Subjekt und des Ichs zum Objekt — V.O.] aber könnte nur auf
logische Weise geschehen; denn diese enthält den reinen Gedanken. Aber die
logische Betrachtung ist das, wozu Schelling in seiner Darstellung, Entwickelung
nicht gekommen ist".
111 Ebd. S. 448.
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198
der Begrifflichkeit der Dialektik "sabotiert" Hegel also
seinen eigenen idealistischen Ansatz, Sein und Denken gegenseitig zu durchdringen.
Das ist auch zu erwarten — denn obwohl der Begriff nicht bloße Form des
Denkens ist, wie die "Verstandeslogik" behauptet 112 (hier hat Hegel
recht), kann der Inhalt doch nicht aus dem Begriff selbst abgeleitet werden.
Die unklare Rolle des "Substrats" bei Hegel — wie
oben dargelegt, bedient Hegel sich zuweilen auch des Lichts als einer Metapher,
um zu verdeutlichen, wie dialektische Prozesse im logischen Substrat sich vollziehen
- zeigt sich vor allem in der Art, wie er die Negativität behandelt Rein
logisch betrachtet wäre eine Negation schlechterdings eine Verneinung
dessen, was der erste Begriff bejaht, ohne etwas Neues an die Stelle zu setzen:
sie drückt also ein kontradiktorisches Gegenteil (A = B, A = non‑B)
aus. Oder dann kann man die Negation als reale Opposition betrachten,
so daß der bejahende Begriff durch einen neuen bejahenden Begriff verneint
wird: ein konträres Gegenteil ("weiss", "schwarz"). 113 Bei der
letztgenannten Negation geht es nicht mehr um eine rein logische Form, sondern
dafür sind auch andere Data bzw. "Materie" erforderlich (in unserem Beispiel
die Farben, wie wir sie empirisch vorfinden). Es muß also Erfahrung vorausgeschickt
werden, bevor man mit den realen Oppositionen anfangen kann. Eben das aber versucht
Hegel zu umgehen. Er insistiert darauf, daß die intellektuelle Anschauung
gleichsam a priori den nötigen Stoff (das "Substrat") für die Logik
besorgt Würde dieses Kunststück gelingen, so könnte Hegel tatsächlich
kontradiktorische (rein logische) Gegensätze in die Konträren (realen)
umwandeln.
Der entscheidende Punkt ist nun die alte Streitfrage
zwischen Empirismus und Rationalismus, ob ein solches Substrat (Stoff) ante experientiam
im Bewußtsein möglich ist In diesem Zwist schlägt Hegel sich ohne
Zögern auf die Seite von Leibniz, der in Nouveaux essais schon die
Voraussetzungen Hegelscher Dialektik aufbereitet hat. Durch den Mund von Theophilus,
sein Alter ego, verkündet Leibniz ein Prinzip, das auch Hegel zum Grundstein
seiner Großen Logik gemacht hat:
"Wenn die Idee die Form des Denkens wäre, so würde sie mit
den aktuellen Gedanken, die ihr entsprechen, entstehen und vergehen. Da sie aber
dessen Objekt ist, kann sie früher und später als die Gedanken
sein [...] Man könnte sagen, daß die Seele selbst ihr unmittelbares
inneres Objekt ist". Dann kommt nach ein paar Seiten die berühmte
Stelle: in der Seele (l'âme)
112 Hegel 1969:8, ї 160 Zusatz (S. 307).
113 Vgl. Trendelenburg 1840:I, S. 30 f.
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199
gibt es nichts, das nicht von den Sinnen stammt — ausgenommen
die Seele selbst und ihre Affektionen (Nouveaux Essais, II:1, її 1, 2).
Zwar macht Leibniz den Vorbehalt, daß die Seele ihr eigenes inneres Objekt
nur dadurch werden kann, wenn sie "die Ideen oder das, was den Dingen entspricht,
enthält" (ї 1). Diese Reminiszenz an die Korrespondenztheorie stört
Hegel jedoch nicht; das Leitmotiv, das er hier findet, lautet: wenn sich die
Seele selbstbezüglich selbst zu ihrem Gegenstande macht, kann sie dem Denken
ein "Substrat" liefern, das die Empirie überflüssig macht. Man ist
nicht mehr, wie noch im Kantianismus, auf die sinnliche Anschauung angewiesen,
die den nötigen "Stoff (d.h. den Inhalt) fürs Denken gibt und die erst
aus dem reinen, an sich leeren Denken (die eine bloße Form ist) Erkenntnis
macht. Bei Hegel ist das Denken selbst an die Stelle der sinnlichen Anschauung
getreten: Denken ist nicht nur Form, sondern zugleich — als Anschauungs-Ersatz
- auch Inhalt.
9. Dialektik als Logik der Selbstbezüglichkeit
Von diesem Standpunkt aus bestimmt Hegel auch den Ort der
Dialektik. In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik polemisiert er
gegen die in der Philosophie gängige Weise, die Denkbestimmungen als Formen,
die von dem Stoffe verschieden sind, zu behandeln. Die Akzente der Kritik sind
so gesetzt, daß man leicht Kant als den Adressaten errät:
"Der bisherige Begriff der Logik beruht auf der im gewöhnlichen Bewußtsein
ein für allemal vorausgesetzten Trennung des Inhalts der Erkenntnis
und der Form derselben, oder der Wahrheit und der Gewissheit.
Es wird [...] vorausgesetzt, daß der Stoff des Erkennens als eine fertige
Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden, daß das
Denken für sich leer sei, als eine Form äußerlich zu jener Materie
hinzutrete [...], erst daran einen Inhalt gewinne und dadurch ein reales Erkennen
werde". 114
Ebenso einseitig sei auch die Wahrheit in der bisherigen Logik bestimmt: "Wahrheit
ist die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstande, und es soll [...]
das Denken nach dem Gegenstande sich fügen und bestimmen". Und zu guter
Letzt kommt das Denken daher nach dieser Auffassung "in seinem Empfangen und
Formieren des Stoffs nicht über sich hinaus"; das Denken "wird dadurch nicht
zu seinem Anderen [...]; es kommt also auch in seiner Beziehung auf den Gegenstand
nicht aus sich heraus zu dem
114 Hegel 1969:6, S. 36 f.
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200
Gegenstande: dieser bleibt als ein Ding an sich schlechthin
ein Jenseits des Denkens". 115
Um zu einer wahrhaft wissenschaftlichen, d.h. dialektischen Logik zu gelangen,
wird "die Befreiung von dem Gegensatze des Bewußtseins" vorausgesetzt. Eine
solche reine Wissenschaft "enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr
die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern
sie ebensosehr der reine Gedanke ist. Als Wissenschaft ist die
Wahrheit das reine sich selbst entwickelnde Selbstbewußtsein und hat die
Gestalt des Selbsts, daß das an und für sich Seiende gewußter
Begriff, der Begriff als solcher aber das an und für sich Seiende ist". 116
Das Resultat der Hegelschen Philosophie soll also die Gleichsetzung von Gedanke
und Sache, von Begriff und Seiendem, Inhalt und Materie sein. Dies geschieht
jedoch in solcher Weise, daß von einer tatsächlichen Substanz-Subjekt-Vermittlung
nicht gesprochen werden kann. Die Vermittlungen finden nur im Bewußtsein
statt Insofern läßt sich sagen, daß Hegels objektiver Idealismus
eine Erweiterung des Modells des Selbstbewußtseins ins Objektive bedeutet.
Die dialektischen Strukturen der Wirklichkeit werden aus dem Selbstbewußtsein
deduziert, oder anders ausgedrückt: die selbstbezügliche Subjektivität
stellt das Muster dar, nach dem die Welt konstruiert ist
Hier steht Spinoza im Gegensatz zu Hegel. Wohl ist auch der Spinozismus eine
Philosophie der Selbstbezüglichkeit, aber bei ihm ist es die Welt (die Substanz),
die das Muster dafür stellt Nur Gott, als die einzige Substanz, ist vollständig
selbstbezüglich. Das Einzelding kann, auch wenn es einen Conatus besitzt
nur in beschränktem Masse ("quantum in se est") selbstbezüglich sein,
denn es ist notwendigerweise von den äußeren Umständen abhängig.
Dies wird in dem einzigen Axiom des IV. Buches der Ethik festgelegt "Es
gibt in der Natur kein Einzelding, das nicht von einem anderen mächtigeren
und stärkeren übertroffen würde. Es gibt vielmehr immer noch ein
anderes mächtigeres als das jeweils gegebene, von dem dieses vernichtet
werden kann". So ist das Subjekt für Spinoza, anders als für Hegel,
nicht primär, sondern nur Substanz; aber in ihrer logischen Struktur sind
sie gleich.
Wegen des Selbstverhältnisses kann die "substantiale"
Logik nicht erschöpfend mit den formalen Mitteln beschrieben werden wie
die in der modalen Welt herrschende Logik des "communis naturae ordo". Die Substanz
115 Ebd. S. 37.
116 Ebd. S. 43.
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201
ist ja "in se". Außerdem, weil sie auch "per se concipitur",
werden die substantiellen Verhältnisse mit selbstreferentiellen Sätzen
beschrieben. Conatus, Tugend, Amor Dei sind für Spinoza Punkte, wo die "substantielle"
(selbstbezügliche) Logik gleichsam in die Welt der Modi einbricht. Nicht
nur ist die Wahrheit nach Spinoza ein inneres Verhältnis der wahren Idee
zu sich selbst (veritas = norma sui); die Tugend ist in ähnlicher
Weise selbstreferenziell, indem sie die Belohnung ihrer selbst ist (V.42). Und
in dem höchsten Begriff Spinozistischer Ethik endlich, im Amor Dei intellectualis,
handelt es sich um die Fröhlichkeit, begleitet von der "Idee seiner selbst"
(Laetitia... concomitante idea sui; V.36 schol.), d.h. die Fröhlichkeit
ist ein aktiver Affekt, wo Gott sich selbst denkt, "insofern er durch die menschliche
Seele expliziert werden kann", begleitet von einer Idee seiner selbst.
Man hat leider bis heute die Problematik des Selbstverhältnisses
in der Philosophie Spinozas wenig untersucht. Gewöhnlich hat man sich damit
begnügt, zu konstatieren, daß die causa sui eine "dialektische Idee"
sei usf., ohne zu beachten, daß der Begriff schon in der Scholastik gang
und gäbe war. Das eigentlich Innovatorische bei Spinoza steckt anderswo:
in seiner Conatus-Lehre, mit der er die Sphären der Substanz und der Modi
miteinander vereinigt. Dies geschieht dadurch, daß Spinoza die Substanz
nicht nur als eine für sich bestehende causa sui, sondern auch als die causa
immanens der Einzeldinge setzte. Somit wurde das causa sui-Prinzip auch zu einem
Faktor der "geschaffenen Natur".
Ist die Selbstverhältnis-Problematik bei Spinoza
gewöhnlich übersehen worden, so sind einige Bemerkungen Ludwig Feuerbachs,
die er in seiner 1837 erschienenen Leibniz-Monographie zum Thema machte, umso
interessanter. Die eingehende Darstellung Leibnizscher Philosophie schlägt
bei Feuerbach plötzlich in das Lob seines Antipoden, Spinozas, um: "Er brachte
eine in der christlichen Zeit vergessne Kategorie: die Beziehung des Gegenstandes
auf sich selbst, das Prinzip aller wahren Kunst und Philosophie, wieder
zur Anschauung, obwohl in einer harten und abschreckenden Form". 117
In der Fußnote setzt Feuerbach den Gedanken fort und meint, man habe Spinoza
"den Erlöser der Vernunft" genannt, weil er "die Kategorie, welche das Prinzip
der Philosophie, der Erkenntnis überhaupt ist", zuerst in neuerer Zeit aufs
bestimmteste in der Philosophie ausgesprochen habe. Diese Kategorie, die der
Beziehung zu sich, mache sogar "das Wesen" Spinozas aus. 118
117 Feuerbach 1981:III, S. 179.
118 Ebd. S. 307.
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202
Es befremdet einen, feststellen zu müssen, daß diese Bemerkung Feuerbachs,
die die Entdeckung des Wesentlichsten im Spinozismus bedeutet und Spinoza zum
Vorläufer der neuzeitlichen Dialektik erhebt, ganz isoliert in der philosophiegeschichtlichen
Arbeit Feuerbachs dasteht. Der Leibniz-Monographie folgte noch ein Werk über
Pierre Bayle, aber danach lenkt Feuerbach seine Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände.
Er kommt auf die Thematik der Selbstbeziehung nicht mehr zurück, auch dort
nicht, wo sich ihm dazu eine gute Gelegenheit geboten hätte, nämlich
in seinem 1847 verfaßten Nachtrag zur Darstellung Spinozas. Vielleicht hängt
diese Vernachlässigung damit zusammen, daß Feuerbach nach seiner Wende
zum Materialismus weitgehend sein Interesse für die Fragen der Dialektik
verlor.
Wie dem auch sei: Die Idee der Selbstbezüglichkeit ist es, die die Dialektik
konstituiert. Hegels Dialektik als Logik der Subjektivität ist nur ein Sonderfall
der allgemeineren Logik der Selbstverhältnisse. Erst von diesem konstituierenden
Prinzip her werden die übrigen Bestandteile der Dialektik verständlich.
Die marxistische Tradition z.B. hat sich damit begnügt, von den "drei Grundgesetzen"
der Dialektik 119 zu sprechen, ohne ihren inneren Zusammenhang aufzeigen
zu können.
Die Idee der Selbstbezüghchkeit hat in den letzten Jahren eine Renaissance
erlebt. Thomas Kesselring weist auf einige Ergebnisse neuerer Forschung hin,
die unabhängig von der dialektischen Tradition die Logik der Selbstbezüghchkeit
(wieder)entdeckt haben. So hat der amerikanische Phi-
119 In unzähligen Lehrbuch-Darstellungen seit
der Stalin-Zeit immer wiederholt, heissen sie bekanntlich: Einheit und Kampf
der Gegensätze; Obergang von den quantitativen Veränderungen in qualitative;
Gesetz der Negation der Negation (dieses letzte Gesetz war zwar nicht völlig
hoffähig unter den Sowjetphilosophen, so lange Stalin lebte). Als grundlegend
und Kern der Dialektik wurde gewöhnlich, in Anlehnung an Lenin, das Gesetz
von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze erklärt (vgl. z.B. Kopnin
I960, s.v.). Die Maoïsten reduzierten dann ihre ganze "Dialektik" auf
diesen Kampf. Zur Frage, woher die Gesetze der Dialektik kommen, wurde in der
marxistischen Literatur gewöhnlich keine andere Antwort gegeben, als daß
sie von Hegel übernommen seien, aber von der "Ideenmystik" gereinigt, oder
dann, daß sie die dialektischen Prozesse der Natur und Gesellschaft verallgemeinernd
zusammenfassen. Seit den 70er Jahren schien das Interesse an dem unfruchtbaren
"Gesetze der Dialektik" auch in den sozialistischen Ländern allmählich
nachzulassen, aber obgleich besonders in der Sowjetunion eine große Anzahl
verschiedenartiger, oft auch origineller Darstellungen der dialektischen Logik
herausgegeben wurden, führte die Diskussion zu keinen eindeutigen Resultaten.
Die Versuche westlicher Marxisten, aus dem Marxschen Kapital eine materialistisch-dialektische
Logik herauszudestillieren, haben ähnlich magere Befunde vorzuweisen.
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203
losoph D.R. Hofstädter in seinem Werk Gödel,
Escher, Bach "die weite Verbreitung des Phänomens rückbezüglicher
Strukturen bis hin zum graphischen Werk M.C. Eschers aufgedeckt", um nicht
von der "Selbststeuerung und Selbstreproduktion in mikrogenetischen Systemen"
zu reden. 120 Ebensogut könnte die neuere Theorie autopoietischer
Systeme der chilenischen Biologen H. Maturana und F.Varela in diesem Zusammenhang
genannt werden, wo der einzige "Sollwert" der Lebewesen darin besteht, die eigene
Existenz aufrechtzuerhalten — das heißt, sie haben einen "Conatus sese perseverandi". 121
Reinhard Mocek meint sogar, daß die neuen naturwissenschaftlichen Beiträge
zur Entwicklungstheorie — eben in der Gestalt selbstreferentieller Systeme -
"derart massiv" sind, daß eine neuartige "Dialektik der Natur" in Aussicht
ist. 122
Ob mit diesen Tendenzen eine Aktualisierung Spinozas verknüpft werden
kann, wird sich künftig zeigen. Fest steht jedoch, daß die "göttliche
Logik" Spinozas dieselben "selbstreferentiellen" oder "‑bezüglichen"
Themen aufwirft, wie man ihnen in der neuesten Diskussion begegnet Ich möchte
hier zum Abschluß lediglich noch eine ganz spezifische dazugehörige
Problematik betrachten, nämlich die Möglichkeiten einer Strategie zur
Erringung der Freiheit. In der Welt der endlichen Dinge herrscht, nach Spinoza,
nur ein "communis naturae ordo". Daraus scheint kein Weg herauszuführen
- wenn Gott nicht immanent in den Dingen da wäre und so die sich als "Logik
des Selbstverhältnisses" manifestierende substantielle Kraft in die modale
Welt einbräche. Wäre dem nicht so, könnte Spinoza unmöglich
sein Projekt für die menschliche Emanzipation durchführen.
Herrschten in der Welt der Modi, d.h. in der geschaffenen Natur nur solche
Gesetzmäßigkeiten, die sich mit dem Begriffsapparat der mechanistischen
Physik erschöpfend beschreiben lassen, könnte der Mensch sich niemals
von der "gemeinen Ordnung der Natur" befreien und an der substantiellen (schaffenden)
Natur partizipieren. Alles Tun und Treiben des Menschen wäre dann nur "Leiden",
das heißt Passionen in ihren unzählig vielen Formen. Die Frage nach
der Möglichkeit einer anderen als formalen Logik des mechanistischen Universums
ist also nicht nur eine theoretische, sondern eine eminent praktische. Denn die
Tugend kann man nicht formal-utilitaristisch mit Hinweis auf außermoralische
Vorteile begründen; sie muß sich selbst begründen, also selbstreferentiell sein.
120 Kesselring 1992, S. 300.
121 Vgl. die Darstellung in Roth 1986.
122 Mocek 1986, S. 214 ff.
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204
10. Die logischen Voraussetzungen der menschlichen Freiheit
Die Nahtstellen und Übergänge von der formalen
zur "substantiellen" Logik finden sich in der Regel an den Stellen, wo Spinoza
bestrebt ist, die Auswege zur menschlichen Emanzipation aufzuzeigen. Ihre Lokalisierung
bietet also einen Umriß der logischen Voraussetzungen menschlicher Freiheit
Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren, dessen sich schon Alexandre
Matheron in seinem originellen und interessanten Spinoza-Buch bedient hat Matheron
hat die Struktur der Ethik detailliert untersucht und die verschiedenen
sukzessiven Stufen von Spinozas Darstellung mit großer Sorgfalt herausgearbeitet.
Nehmen wir das vierte Buch der Ethik, das Spinoza "De Servitute
humana" betitelt hat. Er will darin, wie er in der Vorrede schreibt, die Ohnmacht
des Menschen darlegen und die Ursachen aufzeigen, warum die Menschen nicht fähig
sind, ihre Affekte zu meistern. Spinoza fängt damit an, daß der Mensch
ohnmächtig ist, weil er als endlicher Modus ein Teil der geschaffenen Natur
ist: "Die Kraft, mit der ein Mensch auf seiner Existenz beharrt, ist beschränkt
und wird von der Macht fremder Ursachen unendlich übertroffen" (IV.3). Das
heißt, der Mensch ist nur sehr wenig "in se" — sein Dasein ist meistens
von dem "esse in alio" abhängig.
Dies ist ein ganz naturalistischer Anfang und scheint nur wenig Trost zu versprechen.
In Proposition IV.20 schreibt er: "Je mehr jemand seinen Nutzen zu suchen, das
heißt, sein Sein zu erhalten strebt und vermag, mit desto größerer
Tugend ist er begabt". Es gebe keine Tugend, die grundlegender wäre als
die individuelle Selbsterhaltung (IV.22). Auf den ersten Blick scheinen diese
Sätze den brutalsten "biologischen Egoismus" zu rechtfertigen und könnten
der Feder eines Hobbes entflossen sein. 123 Dieser krasse Naturalismus
widerspiegelt die unbarmherzige Logik der geschaffenen Natur, die nicht anders
sein kann.
Aber dann fängt Spinoza an, eine Wende vorzubereiten. Die Möglichkeit
einer solchen Wende liegt schon im Selbsterhaltungs-Begriff, dessen Vertiefung
die Möglichkeit gibt, den reinen biologischen Egoismus zu überwinden. 124
Die Proposition IV.23 konstatiert, daß von einem solchen Menschen, der aufgrund
inadäquater Ideen handelt, nicht gesagt werden kann,
123 Matheron 1988, S. 86 ff.
124 Ebd. S. 89.
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205
"daß er aus Tugend handle". Prop. IV.24 fährt
fort, daß "ex virtute absolute agere" nichts anderes bedeutet als "unter
der Leitung der Vernunft" tätig zu sein. Die Vernunft erweist sich also
als Grundlage der Tugend und der "richtig verstandenen" Selbsterhaltung.
Weiter besagt IV.26, daß nützlich alles ist, was man aus Vernunft
erstrebt, und dann kommt in Prop. IV.28 die endgültige Umkehrung des Ausgangspunktes:
"Das höchste Gut der Seele ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste
Tugend der Seele, Gott zu erkennen". Hätte man Hegel diese Textstelle gezeigt,
so müßte der Meister der Dialektik ohne Zweifel zugeben, daß dort
die anfängliche krass-naturalistische Position negiert worden ist.
Spinoza bleibt aber nicht bei der einfachen Negation, vom egoistischen Individuum
zur Erkenntnis Gottes. Von Gott steigt er wieder zu den Menschen hinab. In Prop.
IV.36 beweist er, daß die Tugend allen Individuen gemeinsam ist, weil alle
an der göttlichen Natur teilnehmen. Daher der Schluß in IV.37: "Das
Gute, was jeder der Tugend Folgende für sich begehrt, wünscht er auch
den übrigen Menschen, und zwar um so mehr, je größer seine Erkenntnis
Gottes ist".
Der Egoismus wurde in der individuellen Gotteserkenntnis aufgehoben, diese
wiederum führt zur Aufhebung des individualistisch-isolierten Standpunktes.
Die von Spinoza befolgte Prozedur ist dem von Hegel angewandten dialektischen
Schema: Affirmation — Negation — Negation der Negation sehr ähnlich. Der
Unterschied ist nur, daß das zweite Glied, die Negation, nicht als substantielle
Negativität interpretiert wird. Die Vernunft und Erkenntnis Gottes sind
in den Propositionen IV.23 — IV.28 ein affirmatives "Mehr" zum naturalistischen
Ausgangspunkt, die diesen zwar wesentlich modifizieren, nicht aber das "ganz
Andere" als Negation des Vorhergehenden setzen.
Daß Spinoza sich der oben dargelegten sukzessiven
Darstellungsweise bedienen kann, wird durch das Aufzeigen der Präsenz Gottes
in den endlichen Dingen ermöglicht Nur weil der Conatus die göttliche
Immanenz von vornherein impliziert, kann der endliche Mensch an Gott teilnehmen,
ihn erkennen und lieben.
Der Amor Dei ist denn auch der höchste Begriff
Spinozistischer Ethik, die Weise, wie Substanz und Subjekt vermittelt und "versöhnt"
werden. Zu einer Identität im absoluten Geiste, wie im System Hegels, kommt
es nicht Die endliche Subjektivität kann niemals das substantielle Selbstverhältnis
restlos reproduzieren. "Es ist unmöglich", sagt Spinoza, "daß der Mensch
keine anderen Veränderungen erleiden könne, als solche, die aus seiner
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206
Natur allein verstanden werden könnten" (IV.4). Seine
Eigengesetzlichkeit, d.h. autonomes Beharren im eigenen Sein bleibt immer nur
ein Teilerfolg, und ein Rest des Leidens bleibt: "Hominem necessario passionibus
esse semper obnoxium" (IV.4 coroll.). So ist Spinozas "Projekt der Emanzipation"
sehr nüchtern. Eine absolute Befreiung ist nicht möglich, doch führt
die Erkenntnis der göttlichen Logik den Weisen dazu, daß er einen Geist
hat, dessen grösster oder hauptsächlichster Teil ewig ist, so daß
er den Tod kaum zu fürchten hat.
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